... DOCH WIE KOMMT ER RUNTER?

Home | Startseite | Impressum | Drucken | Kontakt | Gästebuch

MAROKKOREISE OKTOBER 1980

Counter

Vorbemerkung

Ein richtiges Buch hat ein Vorwort. Weil das, was ich niedergelegt habe, aber kein richtiges Buch ist, schreibe ich nur eine Vorbemerkung. Die Vorbemerkung muß sein, damit ich jeden Leser meiner Reisenotizen davon unterrichten kann, daß es sich hierbei tatsächlich um das handelt, was ich während der Reise niedergeschrieben habe, also nicht um einen Erinnerungsaufsatz nach Abschluß der Reise. Ich habe daher mein Geschreibsel, das ich in Marokko produziert habe, mit Ausnahme einiger Wiederholungen wörtlich so abgetippt, wie ich es auf meiner Loseblättersammlung entziffern konnte; ich habe lediglich einige Tippfehler hinzugefügt.

Für die Leser, die in der marokkanischen Geschichte nicht so hervorragend Bescheid wissen sollten wie ich, schreibe ich noch, nach intensivem Studium meiner wissenschaftlichen Unterlagen, die Regierungszeiten der wichtigsten Dynastien nieder, weil ich deren Namen im Rahmen des wissenschaftlichen Teils meiner Ausführungen des öfteren nenne. Nach Polyglott-Reiseführer Marokko (63 Seiten), hier Seite 7 - 9, herrschten die Herrschergeschlechter zu folgenden Herrschaftszeiten:

 

Idrissiden

788 - 828

 

Almoraviden

1061 - 1145

 

Almohaden

1130 - 1213

 

Meriniden

1259 - 1358

 

Saadier

1520 - rund 1650

 

Alaouiten

1664 bis heute.

1672-1727 herrschte der mehrfach erwähnte Moulay Ismail.

Noch einige marokkanische Superlative:

  Größte Stadt:  Casablanca mit rund 2.000.000 Einwohnern
  Höchster Berg: Tubkal 4165 m
  Verbreitetstes Getränk: Pfefferminztee mit noch mehr Zucker
  Unbekanntestes Getränk: Richtiger Bohnenkaffee
  Umrechnungskurs:   1 Dirham = 0,46 DM

                


Arabische Impressionen

Nach ruhigen Flügen sind wir pünktlich auf dem neuen Flughafen von Casablanca gelandet. Der Service an Bord der Lufthansa war mäßig - keine Servietten zum Mittagessen, keine Einreisekarten, Abräumen dauerte eine Ewigkeit -, ebenso der bisherige Service von Studiosus. So viele Kofferschlepperei hatte ich bei meiner ganzen Thailandreise nicht, die ich letztes Frühjahr zusammen mit Karla machte, wie heute in Casablanca bei 32° C.

Wenn es nach unseren ursprünglichen Plänen gegangen wäre, säßen Karla und ich jetzt irgendwo in Malaysia. Aber wir hatten, als ich sie im Sommer wegen der Planung der Malaysiareise in Hamburg besuchte, uns entschlossen, erst zu Beginn 1981 zu starten. Bei Gelegenheit meines Besuches zeigte mir Karla ihre Marokkobilder und erzählte so begeistert von diesem Land, womit sie verschuldete, daß ich jetzt hier im Hotel Transaltantique in Casablanca sitze und versuche, ein Reisetagebuch zu beginnen. (Das hat auch Karla zu verantworten, weil sie mit nicht zu erreichendem Beispiel vorangegangen ist.)

Jedenfalls, einen Gewinn hat mir diese Reise schon gebracht, nämlich die intensivere Beschäftigung mit der islamischen Kultur. Zwar knipste ich schon in anderen Ländern islamische Bauten, aber in diesen Gebieten gingen bei meiner Reisevorbereitung andere Dinge vor, etwa für Indien Buddhismus und Hinduismus, für Ägypten die Zeit der Pharaonen. Erst bei meinem Studium für diese Reise wurde mir klar, welch wichtige Vermittlungsrolle die islamische Kultur für die Entwicklung des Abendlandes hatte. Nicht nur, daß wichtige Elemente der gotischen Baukunst (Kreuzrippen, Spitzbögen) vom Nahen Osten nach Europa gebracht wurden, sondern insbesondere, daß die Philosophie der griechischen Antike, insbesondere von Aristoteles, oft nur durch arabische Übersetzungen und Kommentare (Averroes) für uns erhalten blieb. Während nämlich die Christen dieses heidnische Gedankengut wenn nicht bekämpften so doch zumindest nicht beachteten, hatte Mohammed seinen Anhängern geboten, von allen, auch den Ungläubigen, zu lernen. Aber nicht nur mit dem griechischen Gedankengut beschäftigte man sich in Damaskus, Bagdad und später auch Fes, sondern auch die Werke des indischen Kulturkreises fanden ihre Bearbeiter. Die für die Folgezeit wichtigste Erkenntnis aus den indischen Schriften gewann Al Charizmi, als er die praktische Bedeutung der Null, die für die Inder mehr meditativ-theoretischen Wert hatte, für die Mathematik erkannte; es dauerte immerhin ein halbes Jahrtausend, bis sich diese Erkenntnis gegen den hartnäckigen Widerstand der Verfechter der römischen Zahlen auch in Europa durchsetzten konnte. Und wenn sich das arabische Wort für "die Sache", nämlich das Ergebnis der Rechnung, nicht so ähnlich wie das spanische x, sondern etwa wie das spanisch ausgesprochene q angehört hätte, so gäbe es heute keine x-Rechnungen, sondern q-Rechnungen.

Auf der Fahrt vom Flughafen ins Hotel wurde uns gesagt, daß Casablanca als die wichtigste Industriestadt und mit 2 000 000 Einwohnern auch größte Stadt Marokkos, in besonderem Maße die sozialen Probleme dieses Landes, in dem 60 % der Einwohner jünger als 25 Jahre sind, zeige. Neben reichen Industriellen leben hier die vielen Tausenden, die von den ländlichen Gebieten in die Stadt zogen, hier unter menschenunwürdigen Bedingungen hausen und in der Hoffnung leben, irgendwann eine feste Arbeit zu finden.

Die Stadtrundfahrt beweist, daß Casablanca eine Stadt ohne irgendwelche bedeutende Sehenswürdigkeiten ist, was aber nicht heißen soll, daß es völlig unattraktiv wäre! Irgendwie erinnerte mich Casablanca an Paris, wenn auch die in Chellaba gekleideten Männer und die Kaftan, teils mit Schleier, tragenden Frauen nicht vergessen ließen, daß ich mich in Marokko befinde, obwohl natürlich auch genügend Einheimische europäische Kleidung trugen.

Meine Hoffnung, in Marokko preiswerte Schuhe einkaufen zu können, wurde gleich am ersten Tag auf ein absolutes Mindestmaß reduziert. Die Preise, die in den teilweise sehr eleganten Auslagen für Schuhe, aber auch für alle anderen Kleidungsstücke, ausgezeichnet waren, waren mindestens genauso hoch wie in München.

Bei der Stadtrundfahrt lerne ich aus dem Mund unserer Reiseleiterin: Häuser mit grünen Dächern sind staatliche Bauten (Paläste, Verwaltungsgebäude, Moscheen etc.); der König hat an 56 verschiedenen Orten Paläste; das in Marokko für Nichtmuslims bestehende Verbot, Moscheen zu betreten, ist ein Relikt aus der Protektoratszeit (es war so ziemlich das einzige, was die Marokkaner den Franzosen abhandeln konnten); der Stern in der marokkanischen Flagge ist der Stern Salomons (von ihm und von Ali, dem Schwiegersohn Mohammeds, leitet sich das Königshaus ab); für eine Sozialwohnung muß man 60 Dirham Miete bezahlen, für eine normale 600 Dirham; unser Busfahrer verdient 800 Dirham im Monat; Sozial- und Krankenversicherung sind unbekannt.

Längs des Seeweges der Portugiesen

Die erste Etappe unserer Reise brachte uns nach Essaouira. Die 371 km von Casablanca nach hierher legten wir bei bedecktem Himmel und knapp 30° C zurück.

Bei unserer Ankunft konnten wir infolge des starken Dunstes gerade noch soeben die der Stadt vorgelagerten Inseln sehen, die schon den Phöniziern als Fundort der Purpurschnecke bekannt waren. Die Phönizier scheinen die Gegend hier überhaupt ganz schön unsicher gemacht zu haben, hauptsächlich über ihre Kolonie Karthago.

Azemnour, das wir leider nur bei einem Fotostop von außen sahen - weshalb ich nicht beurteilen kann, ob die Angaben der Reiseführer, es sei ein typisch maghrebinisches Städtchen, zutreffen -, und Safi, wo wir ziemlich lange die dortigen Tonbrennereien besichtigten, deren Produkte mich nicht begeisterten, sollen beide den Phöniziern bekannt oder von ihnen gegründet worden sein. Weil ich mich rechtzeitig von Töpfern und Gruppe trennte, konnte ich noch in der sehr lebendigen Altstadt spazierengehen und einige Fotos von Land und Leuten schießen.

Ehe wir nach Safi kamen, hatten wir noch El Jadida besichtigt, das von 1502 - 1769 in portugiesischer Hand war, wovon die portugiesische Zisterne, die wegen ihrer eigenartigen Beleuchtung sehenswert ist, und die Befestigungsanlagen zeugen.

Die Straße von Safi nach Essaouira führt zunächst durch für Gemüseanbau (Tomaten, Erdbeeren, Hülsenfrüchte) genutztes Land. Mir fiel auf , daß viele neue Gewächshäuser aus Metallbogen und Plastikplanen errichtet werden. Offensichtlich soll hierdurch eine Wertsteigerung der Produkte erreicht werden, um den schwierigen Export in die EG ausweiten zu können. Der Boden in dieser Gegend ist so fruchtbar, daß er drei Ernten im Jahr bringen kann, wenn nur die Beschaffung des erforderlichen Wassers möglich ist.

Allmählich wechseln die Gemüsefelder in hügeliges Gebiet, das weitgehend, insbesondere auch durch Überweidung, verkarstet ist. Erst kurz vor Essaouira wird das hügelige Braun und Grau wieder von einigem Grün unterbrochen.

Auf der Fahrt sahen wir auch unseren ersten Marabout und unsere erste Schule. Ein Marabout ist kein marokkanischer Singvogel, sondern ein heiliger Mann und auch der Name für den kleinen weißen Kuppelbau, in dem er begraben ist und der das Ziel von Wallfahrten ist. Dieser Heiligenkult ist zwar im Koran verboten, aber als die Araber im 8. Jahrhundert in das heutige Marokko kamen und die dortigen Ureinwohner, die Berber - dieser Name leitet sich übrigens von dem römisch-griechischen Barbar ab -, zu islamisieren, spielte dieser Heiligenkult eine große Rolle im religiösen Leben der zu Bekehrenden. Verschiedene puristische Strömungen versuchten zwar, diesen Kult auszurotten, bisher aber ohne Erfolg. Aus dem berberischen Ursprung dieser Wallfahrten erklärt sich auch, daß deren Zeiten nicht nach dem islamischen Kalender, sondern nach den Jahreszeiten berechnet werden.

Die erste Schule war ein bescheidener Fertigbau von geringen Ausmaßen. Diese Fertigbauschulen sollen im ganzen Land verbreitet sein. Da diese Schulen immer noch zu weit voneinander entfernt sind und auch ihr Raum nicht allen Kindern Platz zu bieten vermag, gehen insbesondere in ländlichen Gegenden auch heute noch fast nur Buben - und auch von diesen nicht alle - in die Schule. Das Analphabetentum wird Marokko noch lange beschäftigen, sind doch von den über 30jährigen Frauen 99 % nicht in der Lage, zu lesen und zu schreiben.

Ein weiterer Kaufversuch ist heute abend fehlgeschlagen. Nirgends konnten wir ein Obstwässerli oder auch nur eine Flasche Wein bei unserem Bummel durch die nächtliche Stadt auftreiben. Offensichtlich ist der Absatz dieser Getränke auf die Touristenhotels beschränkt.

Ich sitze in einem Café in Agadir, das nach dem Erdbeben von 1960, bei dem 30 000 Menschen getötet wurden, wieder an etwas anderer Stelle aufgebaut wurde. Nichts in dieser Stadt erinnert mehr an das Erdbeben, kaum etwas an Marokko; alles ist neu, das einzig Alte ist der Kuchen auf meinem Teller.

Ehe wir die 170 km von Essaouira nach hierher antraten, besichtigten wir noch diese hauptsächlich von Moulay Ismail mit Hilfe eines französischen Architekten planmäßig als Gegenpol zu Agadir gebaute Stadt, die neben dem Tourismus hauptsächlich vom Sardinenfang lebt (die Verarbeitung der Fische geschieht aber in Safi). Wir fotografierten das Entladen eines Sardinenschiffs, besichtigten die Festung und sahen bei unserem Gang durch die Gassen der Stadt in Geschäfte, in denen Schachbretter und Kästchen sowie alle möglichen anderen Gegenstände mit Holzintarsien angeboten wurden.

Die Straße von Essaouira nach Agadir durchquert zunächst eine Hügellandschaft mit bis zu 400 m hohen "Pässen". Links und rechts dieser Straße wachsen Arganienwälder. Die Arganie ist ein olivenähnlicher Baum, dessen Früchte von Ziegen gefressen werden, die hierzu auf die Bäume klettern. Die von den Ziegen unverdaut ausgeschiedenen Fruchtkerne werden eingesammelt und zu einem dem olivenähnlichen Öl verarbeitet. Die Arganien werden mit Hilfe der Ziegen regelrecht abgeweidet, wobei jeder Familie ein bestimmtes Gebiet zusteht. Da die Abweidung durch immer mehr Ziegen in immer kürzerer Zeit erfolgt, können sich nur noch wenige Pflanzen zu wirklichen Bäumen entwickeln; die übrigen kommen über ein buschartiges Stadium kaum hinaus, so daß die Wälder einen macchiaähnlichen Charakter annehmen.

Im Laufe der wenig abwechslungsreichen Fahrt wichen auch diese Büsche einer noch ärmlicheren Flora, die nur bei km 20 und 50 vor Agadir durch Bananenpflanzungen kleine grüne Inseln im sonstiger Braun und Grau bildete.

Ausflug in den Antiatlas

Gegen 19 Uhr sitze ich im Hotel in Tafraout. So selbstverständlich wie ich das schreibe, ist es aber nicht. Zunächst verlief zwar noch alles normal. Wir verließen Agadir auf der Straße nach Tiznit. Die ersten Kilometer hat man noch Ausblick auf Gemüsefelder, dann jedoch ist alles braun, nur noch Steine und Sand. Wir hatten die sogenannte Vorwüste erreicht, die uns bis in den Antiatlas begleiten sollte. Feine Furchen zeugten davon, daß selbst auf diesem fast jeglicher Vegetation entbehrenden Boden Ackerbau versucht wird: Die Bauern säen im Frühjahr, falls Regen fällt, eine bescheidene Gerstenart, die ihnen, wenn nichts dazwischen kommt, einen noch bescheideneren Ertrag bringt.

Tiznit ist heute Garnisonsstadt, von hier läuft der Nachschub für den Krieg mit der Polisario. Dieser Krieg dauert nun schon 5 Jahre und kostet Marokko eine Unmenge Geld. Allein die Gemüsepreise stiegen in den letzten beiden Jahren um 50 %; die Kosten für Erdölimporte übersteigen mittlerweile die Phosphateinnahmen um 20 %, und die Einnahmen aus dem Export von Obst und Gemüse liegen um 15 % unter den Ausgaben für Weizenimporte. Auch der Straßenbau muß vernachlässigt werden.

Wie zur Illustration des soeben Erfahrenen wird unser Bus in einem Dorf aufgehalten und unserem Fahrer mitgeteilt, daß die Straße 10 km vor Tafraout gesperrt sei. Unsere Reiseleiterin beschließt, dennoch weiterzufahren. Wir kommen schließlich, nachdem wir den Kerduspaß (1250 m) überwunden haben und durch Hänge mit Mandelbäumen, die die Gegend allerdings kaum weniger unbewohnbar erscheinen lassen, gefahren sind, zu der angekündigten Stelle. Die Straße hat auf 200 - 300 m ihre Asphaltdecke, die auf den letzten Kilometern schon zahlreiche Schlaglöcher aufgewiesen hatte, völlig verloren; dafür türmte sich auf ihr eine etwa 12 m hohe Lehmmasse, die mit Steinen vermischt war. Da glücklicherweise neben der Straße kein Abhang ist, riskiert unser Fahrer, nachdem wir alle ausgestiegen sind, die Weiterfahrt. Langsam, manchmal nur cm um cm, wühlt sich der Bus, gelegentlich heftig schaukelnd, durch den Dreck und kommt schließlich auf der anderen Seite an.

Zwar ist unser Hotel nur mäßig, aber dafür breitet sich über ihm ein unglaublich klarer und funkelnder Sternenhimmel aus.

"Rauf ja da kunnt er, doch wie kommt er runter?" Diese, dem blöden Lied über den Meier am Himalaja entnommene Frage stellte sich uns heute, nachdem uns Ismail, unser Berberführer, durch das Dorf Oumesnut im Tal des Berberstammes der Ammeln geführt hatte, als wir die Talfahrt antreten wollten.

Aber zuerst zu Ismail, nach eigenen Angaben 76 Jahre alt. Er hatte sich mit 70 Jahren entschlossen, mit Hilfe eines Lautschriftbuchs deutsch zu lernen. Was er zustande brachte, ist zwar kein fehlerfreies Deutsch, aber ich wäre froh, wenn mein Französisch nicht schlechter wäre. Über Oumesnut berichtete er uns, daß schon die Almoraviden hier gelebt hätten, ehe sie Könige wurden, und daß das Dorf, so wie wir es sehen, 700 Jahre alt sei. Wir stiegen auf felsigen Pfaden durch das aus mehrstöckigen Stampflehmbauten bestehende, am Berghang liegende Dorf. Manche Bauten verfallen, weil ihre Bewohner in Marokko oder in Europa in den Städten ihr Geld verdienen; andere aber werden neu errichtet, weil die Ammeln, wenn sie genügend Geld verdient haben, gern in ihre Heimat zurückkehren. Ich wundere mich darüber und bewundere es gleichzeitig, wie Menschen in dieser kargen, mir menschenfeindlich erscheinenden Umgebung mit dem wenigen vorhandenen Wasser - es regnet nur 2- bis 3mal im Jahr - es verstehen, eine Grundlage zum Überleben zu schaffen, in einer Gegend, in der Fels und Trockenheit herrschen, in der die Malaria noch nicht besiegt ist und Krankheiten wie Typhus, Hepatitis und Kinderlähmung wohlbekannt sind.

Um unsere Talfahrt antreten zu können, mußten wir wieder durch die gesperrte Straße fahren, da der direkte Weg nach Taroudant - wo ich jetzt schreibe - so schlecht ist, daß er nicht mal mehr von den einheimischen Linienbussen befahren wird. Ein Polizeibeamter verweigerte uns jedoch die Durchfahrt. Reiseleiterin und Fahrer begaben sich daraufhin zum Ortsgouverneur, und ich richtete mich auf eine mehrstündige Wartezeit ein.

Aber ein dickes Lob dem Ortsgouverneur: Er entfachte keinen Papierkrieg und keine langen Diskussionen, sondern setzte sich einfach in unseren Bus, fuhr mit zur Absperrung und gab dort Anweisung, uns durchzulassen - Zeitverlust keine fünf Minuten.

Bei der schadhaften Straßenstelle mußten wir diesmal nicht aussteigen, sondern unser Fahrer nahm den Kampf mit voller Besatzung auf. Zwei-, dreimal wäre ich lieber Fußgänger gewesen; der Bus schwankte so stark zur Seite, daß ich schon ein Umkippen befürchtete.

Erst nachdem wir bei Ait Melloul von der Straße nach Agadir abgebogen waren, um nach Taroudant zu fahren, bewegten wir uns wieder in Neuland. Wir fuhren das fruchtbare Tal des Souss flußaufwärts, und ich hatte dabei die Gelegenheit festzustellen, daß schon drei Tage in Sand und Stein mich hatten vergessen lassen, wie richtiges Grün aussieht; ich hatte schon das Grün der Oliven dafür gehalten.

Am Swimmingpool unseres sehr netten Hotels an der Stadtmauer von Taroudant lernte ich nicht nur das "Blöde Spiel", sondern erfuhr auch noch, daß selbst ein Naßrasierer nicht immer sicher sein kann, seinen Bart loszukriegen. Am Morgen in Tafraout ging im Hotel das Wasser aus; für mich als Frühaufsteher reichte es gerade noch, für unseren Naßrasierer blieb aber kein Tropfen mehr übrig; die Elektrorasur war übrigens problemlos.

Die Besichtigung von Taroudant - das hauptsächlich durch seine Stadtmauer bekannt ist, die Moulay Ismail errichten ließ, nachdem er die Stadt erobert und die Bevölkerung massakriert hatte - erschöpfte sich in einem Gang durch die Souks. Wir wurden mit verschiedenen Gewürzen und deren Preisen (z.B. echter Saffran 1 g = 4 Dirham) bekannt gemacht und kamen zum ersten Mal in Berührung mit der Tüchtigkeit der hiesigen Händler. Als ich eine Reisetasche, die mir für 250 Dirham angeboten worden war, auch für 100 Dirham nicht nehmen wollte, versuchten zwei Verkäufer, mich an den Oberarmen packend wieder ins Geschäft zurückzuschleppen.

Über den Hohen Atlas bis Marrakesch

Von Taroudant nach Marrakesch passierten wir leider nicht wie im Prospekt angekündigt, der Tizi-n‘Test-Paß, sondern fuhren auf einer neuen, in keiner Straßenkarte eingezeichneten Straße zunächst nördlich des Souss, um etwas südlich von Ameskroud auf die Straße nach Chichaoua einzubiegen. Dadurch verlängerte sich unser Weg auf 250 km, etwa die gleiche Strecke wie am Vortag, aber wenig im Verhältnis zu den je 370 km der beiden ersten Reisetage.

Die Straßen waren durchwegs gut und verkehrsarm. Im Soussgebiet blickten wir auf Orangen-, Oliven- und Gemüsepflanzungen. Dann steigt die Straße auf etwa 1050 m, und die Vegetation wird ärmlicher, fällt nochmals auf etwa 500 m, um schließlich in ein 1250 m hohes Tal zu münden, das zwar nur ein paar 100 m breit, aber etwa 30 km lang ist. Von hier sahen wir zum ersten Mal auf etwa 3000 m hohe Berge des Hohen Atlas. Etwa 90 km vor Marrakesch lassen wir auch die letzten ärmlichen Arganien hinter uns zurück und fahren etwa 50 km weit in 500 m Höhe durch vorwüstenartige Gebiete, in denen nur wenige Orte stehen, die nicht mehr in der imposanten Berberarchitektur, sondern aus Hohlblocksteinen und Beton errichtet sind, wobei ein Teil der Häuser zumindest unfertig aussieht.

Nach einer kurzen Mittagspause im Hotel Le Marrakesh, das fast internationalen Zuschnitt hat, die ich zu Großwäsche und Kartenschreiben nützte, wurden wir zur Jemna el Fnaa, um den ersten Teil der Stadtbesichtigung in Angriff zu nehmen, gebracht. Der Angriff kam aber nicht von uns, sondern wurde gegen uns vorgetragen. Kaum hatten wir den Bus verlassen, als sich eine nicht zu übersehende Zahl von selbsternannten Führern und eine ebenso große Zahl von Händlern auf uns stürzte. Auch nachdem unsere Reiseleiterin einen von ihnen für unsere Gruppe ausgewählt hatte, gab sich ein großer Teil der übrigen noch nicht geschlagen; jeder von ihnen erklärte jedem der Gruppe, dessen er habhaft werden konnte, in deutscher Sprache, was dieser ohnehin schon mitbekommen hatte, nämlich daß wir im Souk der Färber oder im Souk der Schuhmacher seien. Nachdem uns unsere Reiseleiterin erklärt hatte, wir ständen in der Medersa (= höhere Koranschule) Ben Youssef, der ältesten Medersa Marrakeschs aus den 12. Jahrhundert, die um 1550 ihre heutige Form erhalten habe, flüsterte mir ein kleiner Junge diese Information in etwas schlechterem Deutsch erneut zu und bettelte mich um einen Dirham an. Je länger sich unsere Gruppe durch die Souks bewegte, um so geringer wurde aber die Belästigung durch diese Führer und durch die fliegenden Händler, die ,,billig Preis" für ,,serr gut Qualität" forderten. Aus dem Geschriebenen ergibt sich schon, daß Souks Ladenstraßen sind, die im allgemeinen sehr eng und auch recht dunkel sind. Den Reiz der Souks von Marrakesch machten für mich - andere Reiseteilnehmer wurden davon aber eher erschöpft und abgeschreckt - deren buntes Treiben aus. Mopeds und Esel tragen Lasten durch die Gassen, in denen die Bewegungsfreiheit des einzelnen auf das gleiche Maß reduziert ist wie die eines Besuchers der Bierbudenstraße am Eröffnungssamstag des Oktoberfests. Der Boden ist allerdings etwas schmutziger. Angst, irgendwelche kleinen Tiere mit ins Hotel zu bringen, braucht man dennoch nicht zu haben. - Zum Abendessen gab es heute Schweinefleisch!

"Marrakesch hat 600 000 Einwohner, 75 % davon leben vom Tourismus," begann unser heutiger örtlicher Führer in einem Deutsch, das er selbst als Kartoffelsalat bezeichnete, "es wurde 1070 gegründet." Marrakesch heißt nach ihm ,,Nimm Wasser und mache Platz für einen anderen"; wie auch immer: aus einer Verballhornung dieses Wortes entstand unser "Marokko". Seine Erklärung für die drei verschieden großen Kugeln auf der Spitze des Minaretts erscheint mir dagegen einleuchtender als manches, was ich hierzu in Reiseführern gelesen habe: sie sind das marokkanische Symbol für Moschee.

Unsere Besichtigung begann in den 9 km2 großen Menaragärten mit 8000 Olivenbäumen, die 150 Jahre alt sind. Ein Baum bringt pro Jahr 18-25 kg Früchte. Nach einem kurzen Stop, der gerade reichte, um zwei Aufnahmen von dem Turm der Kutubia-Moschee zu machen, eilten wir durch das Bab Agnau, dem berühmtesten Tor (Almohadenzeit) in der 900 Jahre alten Stadtmauer Marrakeschs, zu den Saadiergräbern. Die feine Architektur dieser Gräber verfehlt selbst dann nicht ihren Eindruck, wenn sich beinahe jeder qmm des Areals unter den Füßen irgendeines Touristen - unsere Gruppe war nur eine von mehreren - befindet. Die dort begrabenen Herrscher werden sich wohl mit Wehmut an die Zeit vor 1917 erinnern, als ihre Ruhestätten noch nicht von französischen Archäologen für die Öffentlichkeit wiederentdeckt worden, sondern hinter der von Moulay Ismail gezogenen Mauer verborgen waren, die dieser hatte errichten lassen, um seine dort beerdigten Vorgänger dem Andenken der Nachwelt zu entziehen.

Ebenfalls Moulay Ismail ließ den in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts errichteten Badi-Palast zehn Jahre lang zerstören. Die verbliebenen Ruinen sind zwar noch eindrucksvoll, aber unvergleichlich, wie sein Name sagt, ist der Palast nicht mehr.

Wesentlich mehr Eindruck auf mich machte der erst 100 Jahre alte Bahia-Palast mit seinen vielen reich ornamentierten Türen, Fenstern und Holzdecken.

Nach einem diesmal guten Mittagessen nutzte ich den freien Nachmittag, um alleine zu bummeln. Es sollte wirklich sehr schön werden.

Da ich kein Taxi fand, ging ich zunächst bei 30° C zur Kutubia-Moschee, um deren Turm aus der Almohadenzeit, der in fast jedem zweiten Ort in Marokko eine mehr oder weniger flache Imitation besitzt, in Ruhe auf mich wirken zu lassen; dazu mußte ich allerdings erst wieder eine Unzahl von ,,Führern" abwimmeln. Je länger ich das Bauwerk betrachtete, um so mehr beeindruckte mich seine einfache Schönheit.

Durch das Bab Agnau, das jetzt im Sonnenlicht viel eindrucksvoller war, und nach einer kurzen Besichtigung des Bab el Robb, das mich enttäuschte, besuchte ich nochmals die Saadiergräber. Welch ein Gegensatz zum Vormittag: 3 - 4 Fremde, ein Dutzend Einheimische, sonst Ruhe. Da auch die Sonne viel günstiger stand als am Vormittag, konnte ich die mit prachtvollen Stuckornamenten verzierten Fassaden und Räume erst jetzt richtig genießen.

Dann stürzte ich mich am Jemaa el Fnaa in das dortige unbeschreibliche Gewühl, das ich gestern nur von der Terrasse eines der am Rand dieses Platzes stehenden Cafés aus beobachtet hatte. Da sich die meisten Touristen mit diesem Blick von oben begnügen, sind unten die Einheimischen fast unter sich, und das ist das Schöne. Sie kommen in Scharen, um die dortigen Attraktionen zu bewundern: Akrobaten, Kunstradfahrer, Schlangenbeschwörer und Boxer. Um alle hat sich eine dichte Reihe von Menschen gebildet, die das Gebotene gebührend bewundert. Man kann auch alles fotografieren, aber ein Dirham wird hierfür kategorisch als Entgelt gefordert. Aber ich habe vorgesorgt und mich entsprechend mit Münzen versehen. Ununterbrochen dröhnen Trommeln über den Platz, und als ich die Kondition eines kleinen Buben, der zu einer dieser Trommeln gymnastische Übungen macht, im Gehen bewundere, falle ich fast über einen der vielen, schon im Halbdunkel sitzenden Eierhändler. "Haben Sie schon die Märchenerzähler gefunden?" frägt mich ein plötzlich aufgetauchter Mitreisender. Kaum hatte ich mich in den dichten Kreis der Einheimischen gedrängt, die der Geschichte, die ganz offensichtlich die Bestrafung eines Bösewichts zum Gegenstand hatte und mit großem Pathos erzählt wurde, lauschte, als mich auch schon der Erzähler entdeckte, seine Geschichte unterbrach und mich in das Innere des Kreises der Zuhörer zog. Zu meiner großen Verblüffung gab er mir einen Kuß auf die Wange und verlangte dafür einen Dirham. Ich hätte ihm auch mehr gegeben, nur um wieder loszukommen. Aber so etwas gehört wohl dazu, wenn man sich in dieses Oktoberfest ohne Technik begibt.

Das viele Schauen, Stoßen und Gestoßenwerden machen mich durstig, und so begebe ich mich auf die Terrasse eines Cafés, um dort das marokkanische Nationalgetränk Pfefferminztee zu trinken und den Sonnenuntergang über Marrakesch zu bewundern. Vom Minarett der benachbarten Moschee ruft der Muezzin die Gläubigen zum Gebet nach Sonnenuntergang. Für diejenigen, die taub sind oder ihn nur wegen des herrschenden Lärms nicht hören können, leuchtet eine Glühlampe auf einem Galgen in der Spitze des Minaretts auf. Viele solcher Birnen zeigen mir an, wo in der Stadt überall Moscheen sind. (Am Tag erfüllt eine weiße Fahne die Funktion der Glühbirne.)

Am Abend besuchten wir dann noch das Kasino, wo uns einheimische Originaltänze (auch Bauchtanz) geboten wurden. Das Niveau eines Heimatabends in Ruhpolding kann nur besser sein.

Die Straße der Kasbahs

Von Marrakesch nach Ouarzazate sind es rund 260 km. Nach Marrakesch nimmt uns ein fruchtbares Tal auf, und 50 km von Marrakesch sehen wir nach langer Zeit wieder einen Fluß, in dem tatsächlich Wasser fließt. Entlang diesem Fluß werden Obst und Gemüse angebaut. Auch die Berghänge zeigen im Gegensatz zu denen des Antiatlas einiges Grün. Für ein paar Kilometer begleitet uns sogar Nadelwald. Erst nachdem wir den 2260 m hohen Tizi-n‘Tichka-Paß hinter uns gelassen haben und wieder auf etwa 1500 m herabgestiegen sind, zeigen auch die Berge des Hohen Atlas außerhalb der Flußebene keinerlei Vegetation mehr.

Die Dörfer, die in regelmäßigen Abständen auftauchen, sind von Berbern bewohnt. Ob die von den Berbern gesprochenen Idiome als eine Sprache bezeichnet werden können, ist ebenso ungeklärt wie die Frage, ob sie eine einheitliche Rasse sind; zu früh begann die Vermischung mit anderen Völkern. Ihre kriegerischen Qualitäten mußten nicht erst die Franzosen erfahren, als es ihnen erst mit Hilfe von Bomben gelang, die Berbergebiete zu befrieden, sondern waren auch schon im Altertum bekannt. Der bekannteste Berberkrieger ist sicherlich der in karthagischen Diensten berühmt gewordene Hannibal.

Als erstes dieser Dörfer, die auch heute noch eine wirtschaftliche Einheit bilden, in der der Tauschverkehr eine entscheidende Rolle spielt, besuchten wir Ait Ben Haddou. Dieses Dorf wurde einst von Orson Welles verschönt, als er es zur Verfilmung von "Sodom und Gomorra" rot anmalen ließ. Sonne, Wind und Regen haben diese Verschönerung gnädig wieder entfernt.

Um zum alten Ortsteil zu gelangen, müssen wir etwas tun, womit ich hier am allerwenigsten gerechnet hätte: wir ziehen die Schuhe aus und waten durch einen Fluß. Zwischen Stampflehmmauern steigen und stolpern wir durch enge Gassen, vorbei an dem durch seine mächtigen vier Türme erkennbaren Getreidespeicher, zu dem Haus, das wir besichtigen dürfen. Es besitzt drei Stockwerke; im Parterre sind Küche und Lagerräume, im oberen Stockwerk der Wohnraum. Sein Eigentümer ist an den Händen verkrüppelt, somit für Feldarbeiten untauglich. Durch seine Idee, sein Haus Touristen zugänglich zu machen, ist er sicherlich zu einem der reichsten Leute hier geworden.

Von Ait Ben Haddou nach Ouarzazate ist nur noch etwa eine Stunde Fahrt, zunächst durch eine mondähnliche Landschaft, bis sich in etwa 1200 m Höhe die Flußoase auftut, in der Ouazazate liegt. Ihre Größe konnte durch einen mit jugoslawischer Hilfe errichteten Stausee um etwa 50 % ausgedehnt werden. (Insgesamt soll es in Marokko 42 Stauseen geben).

Am Ortsrand von Ouarzazate liegt Taourirt, eine Kasbah, die eine der Residenzen der Glaoui, der mächtigen Paschas von Marrakesch, war, die immer wieder im Laufe der Geschichte den Königen die Macht streitig machten. Zuletzt versuchten die Franzosen mit ihrer Hilfe die Macht des Königshauses zu neutralisieren - ohne Erfolg. Dennoch ist Taourirt in die Liste der nationalen Denkmäler aufgenommen und wird zur Zeit kräftig restauriert.

In Zagora messe ich jetzt um 11.30 Uhr bei 31° C mit 24 % Luftfeuchtigkeit den niedrigsten Wert, den ich je gemessen habe. Die 160 km von Ouarzazate hierher beginnen mit einer Fahrt durch menschenfeindliches Gebiet, mit Hängen ohne oder äußerst kärglicher Vegetation, überwinden einen Ausläufer des Antiatlas auf einem 1700 m hohen Paß und streifen bis Akzd nur sehr selten eine kleine Flußoase.

Bei Akzd erreichen wir die Flußoase des Drâa, die uns die 94 km bis hierher begleitet hat. Wenn ich mich gestern noch gefragt habe, ob die von uns besuchten Kasbahs nur Schaustücke eines Freilichtmuseums sind, so wurde diese Frage heute klar verneint. Alle Ansiedlungen, die hier so dicht stehen, daß drei oder vier gleichzeitig im Blickfeld liegen können, sind und werden im traditionellen Berberstil errichtet, selbst da, wo offensichtlich mehr Neger- als Berberblut in den Adern der Einwohner fließt. Die Effizienz eines Bewässerungskanals, der von Akzd bis hierher neu gebaut wurde, vermag ich nicht zu beurteilen. Wenn man davon ausgeht, daß das traditionelle Schema einer Oase so aussieht, daß außen als Windschutz Palmen oder andere Bäume, innen Obstbäume und unter diesen Getreide- und Gemüsefelder sind, und daß eine Ausweitung der Oase an kleineren Palmen und neuen Feldern außerhalb dieser alten Bebauung zu erkennen sein müßte, dann bringt der neue Kanal allenfalls einen Bodenzuwachs von 5 %. Aber vielleicht ist die Erschließung neuen Ackerbaulandes noch nicht abgeschlossen? Möglicherweise ermöglicht der Kanal auch eine intensivere Nutzung des Bodens. Letzteres wäre dringend erforderlich, da die Erträge der Flußoasen in den letzten Jahren ständig gesunken sind, weil keine ordnungsmäßige Fruchtfolge in der Bebauung mehr stattfindet. Den größten Teil des bepflanzbaren Landes besitzen nämlich die Bauern nicht selbst, sondern sie müssen ihn pachten, z.B. von Nomaden, die hier offensichtlich viel Grundbesitz haben. Während früher lange Pachtzeiten eine geregelte Bebauung ermöglichten, führen heute Pachtzeiten, die oft die Dauer einer einzigen Ernte nicht überschreiten, dazu, daß jeder Pächter ohne Rücksicht auf die Zukunft nur noch das anbaut, von dem er sich für die nächste Ernte den größten Gewinn erhoffen kann, zumal auch die Pachtgebühr von früher 5 % auf heute bis zu 40 % der Erträge gestiegen ist.

Nach unserer Rast in Zagora mußte ich lebhaft an das Indiosprichwort "Nur Esel und Weiße gehen in die Sonne" denken; denn Touristen sind besondere Esel. So stapften wir denn bei glühender Mittagshitze über eine Düne, die das Dorf Ansrou am Rande der Sahara gefährdet. Als wir anschließend vom Chaid (Bürgermeister) des Ortes in dessen Oasengarten zum Tee eingeladen wurden, fanden wir es dort im Schatten von Dattelpalmen angenehm kühl - mein Thermometer zeigte 35° C. Der Chaid zeigte uns mit Würde, wie Pfefferminztee richtig zubereitet wird. Früher waren die wenigen Fremden wirklich seine Gäste, heute muß jeder 5 Dirham zahlen, und Diener sowie Angehörige des Chaids halten zusätzlich die Hand auf.

Aber das Handaufhalten ist speziell hier im Süden ohnehin Nationalsport. Wo immer unser Bus auch hält: sofort ist eine Unzahl kleiner Kinder um uns versammelt, die nicht nur augenfällig beweisen, daß Marokko eines der Länder mit der größten Bevölkerungszuwachsrate ist, sondern fortwährend "un bonbon, merci" oder "un dirham, merci" murmeln. Das zeigt zwar auch, daß im arabischen "Bitte" und "Danke" nicht unterschieden werden, beweist aber mehr noch den negativen Einfluß des Tourismus. Es ist noch keine zehn Jahre her, da waren die Kinder hier noch so schüchtern, daß sie angebotene Bonbons nicht zu nehmen wagten.

Boumalne liegt mit 1400 m noch etwa 200 m höher als das 113 km entfernte Ouarzazate. Die Straße folgt zwar dem Dadèstal, aber die Oase dieses Flusses, die infolge der Höhe kaum noch Palmen aufweist, ist erst die letzten 20 km zu sehen. Vorher blicken wir auf das für diese Reise bisher typische Bild von Braun und Stein und überqueren gelegentlich Flußbette, in denen kein Tropfen Wasser fließt: zum Glück für uns. Andere Reisegruppen waren hier nach einem Regenfall schon zum Umkehren gezwungen.

In einem der Orte, die hier nicht so dicht stehen wie im Drâatal, besuchen wir einen Markt, dessen Aussehen und Angebot allerdings ärmlich sind; an Indien oder Südostasien darf ich nicht denken. Einzig attraktiv sind frisch geerntete Datteln für 4 Dirham je Kilo - in der Stadt zahlt man günstigstenfalls das Dreifache.

Den Nachmittag nützten wir zu einer Fahrt durch die nahegelegene Dadèsschlucht. Schlucht ist eigentlich eine falsche Bezeichnung; in Wirklichkeit handelt es sich um ein zwar relativ enges, aber sehr fruchtbares Tal mit eigenartigen Felsformationen hinter Berberdörfern mit prächtigen Getreidespeichern. In diesem Tal sah ich keine einzige verschleierte Frau. Aber wie überall sonst wollten auch sie nicht fotografiert werden.

Auf den rund 40 Kilometern von Boumalne nach Tinerhir trifft man, an den Flußoasen gelegen, einige Kasbahs an, sonst blickt man nur auf kahle Berghänge, die lediglich in ihrem untersten Teil von einzelnen Steppengrasbüscheln bedeckt sind, die hier und da Schaf- oder Ziegenherden als Nahrung dienen.

Tinerhir war der östlichste Ort des Glaoui, wovon heute noch eine mächtige Kasbah zeugt. Die Todhraschlucht wird von Tinerhir aus durch eine 14 km lange Flußoase, in der es neben Datteln und Gemüsebeeten auch einen kleinen Teich mit heiligen Fischen gibt, erreicht. Letzterer wie die unverschleierten Frauen ein Zeichen dafür, daß wir immer noch durch Berbergebiet reisen.

Um die Todhraschlucht betreten zu können, mußten wir wieder die Schuhe ausziehen, da der Todhrabach über die Straße floß, die in eine Schlucht führt. Diese Straße kann in der Schlucht nicht mehr befahren werden, da sie fast völlig weggeschwemmt ist. Die Todhraschlucht bietet ein fast alpines Erlebnis in marokkanischer Wüsten- und Steppenlandschaft. Wir stapfen am Bach entlang im Schatten der Felsen, in die er sich etwa 200 in tief eingeschnitten hat und die sich manchmal auf weniger als 20 m nähern. Danach bringt uns der Bus die 120 km zur Oase von Erfoud. Langsam werden zur Linken die Berge des Hohen Atlas und zur Rechten die Ausläufer des Antiatlas kleiner, nur wenige Dörfer in Oasen - offensichtlich echte Oasen, ich kann jedenfalls nirgends einen Fluß entdecken - unterbrechen das einförmige Band der Landschaft. Die Businsassen dösen alsbald vor sich hin und werden aus ihren Träumen nur dann geweckt, wenn der Bus durch ein Oued (wir kennen von Karl May den hocharabischen Ausdruck Wadi) schaukelt, das jetzt zwar ohne Wasser ist, dessen Brücke aber beim letzten Regenfall weggerissen wurde, oder wenn der Bus plötzlich abgebremst werden muß, weil ein weidendes Kamel sich entschlossen hat, kurz vor ihm die Asphaltbahn zu queren.

Hier in Erfoud sind die Essenspreise genauso teuer wie überall bisher, unter 40 Dirham ist kein Menu erhältlich; ein Käsesandwich kostet noch 12 Dirham. Trockenheit und Sand setzen mir allmählich zu. Wegen der gereizten Nasenschleimhäute habe ich das Gefühl, Schnupfen zu bekommen, und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Zahnfleischbluten. Ich sehne mich etwas nach den Reisfeldern und Kokospalmen Indiens oder den Urwäldern Indonesiens, um wieder richtiges Grün zu sehen.

Von Erfoud sind es nur 20 km nach Rissani, dem Ausgangsort der Alaouiten. Dort ist auch noch das Grabmal des Moulay Ali zu sehen und die Kasbahs, in denen der Reichsschatz und mißliebige Verwandte untergebracht waren. Zwischen beiden Orten liegt eine Oase, in der gerade Datteln geerntet werden. Allerdings ist sie nicht mehr so groß wie im l7./l8. Jahrhundert. Erst nachdem 1962 ein Hochwasser einen Großteil der Häuser zerstört und die Palmen entwurzelt hatte, wurde ein Staudamm gebaut, der mit Hilfe einer speziellen Zuckersteuer finanziert wurde. Die Steuer wurde wegen des Phosphatkrieges abzuschaffen vergessen, nachdem der Damm fertig war.

In der Nähe von Rissani, wo ich mit 14 % Luftfeuchtigkeit einen neuen Trockenheitsrekord ablese, lag Sijilmassa, im 9.-14. Jahrhundert die größte Stadt Marokkos, von der heute nichts mehr zu sehen ist.

Nach einem - 460 km - langen Tag sind wir glücklich in Fes angekommen. Die Oase von Erfoud war schon nach wenigen Kilometern einer Grasbüschellandschaft, die für südliche Verhältnisse schon fast als üppig bezeichnet werden kann, gewichen. Einige bis über die Straße vorgedrungene Sanddünen boten noch ein schönes Fotomotiv, ehe wir nach Errachidia, dem früheren Ksar es-Souk, kamen. Das von dort 138 km entfernte Midelt erreichen wir nach Überqueren eines knapp 1900 m hohen Passes über die Ausläufer des Hohen Atlas, an dessen Hängen Steineichen wachsen. Von dem in 1500 m Höhe gelegenen Midelt zieht sich die Straße durch steppenähnliches Land, das an einigen Stellen bescheidene Versuche einer Wiederaufforstung zeigt, vorbei an einer Manganmine, um den Anstieg zum 2187 m hohen Col du Zad, auf dem sie den Mittleren Atlas überwindet, in Angriff zu nehmen. Schon kurz nach Beginn der eigentlichen Steigung bewegt sich auch mein Gefühlsleben nach oben: ein Wald aus Zedern und Steineichen läßt mich wieder auf richtiges Grün blicken. Kurz hinter der Paßhöhe liegt ein Agelman, ein natürlicher See, der das ganze Jahr über nicht austrocknet, zur Zeit der Schneeschmelze aber wesentlich größer ist als jetzt. Die Zedern und Steineichen haben sich auf rückwärtige Hügel zurückgezogen und geben den Blick auf eine fast hochalpine Weidelandschaft frei, in der einige Dörfer mit Häusern aus Stein und Wellblech stehen. Etwa 80 km von Midelt nimmt uns ein Zedernwald auf, der langsam in einen richtig mitteleuropäischen Wald, sogar mit Unterholz, übergeht und auch die 30 km von der Abzweigung kurz vor Azrou bis Ifrane meine Augen erfreut.

Das in 1650 m Höhe gelegene Ifrane sieht genauso wenig marokkanisch aus wie Agadir, nur daß ich hier frischen Kuchen bekomme. Wer ein Foto des Ortes vorgehalten bekommt, wird ihn eher in die italienischen oder französischen Alpen verlegen.

Nach Ifrane mündet die Straße in das fruchtbare Sebou-Becken, wo in knapp 500 m Höhe Fes liegt.

In den Maghreb

Die Erläuterung unserer Reiseleiterin bei der Annäherung an diese Stadt war kurz: "Fes wurde um 800 n. Chr. von den Idrissiden, der ersten arabischen Dynastie des Maghreb, gegründet. Es wuchs schnell, vor allem durch Zustrom von Flüchtlingen aus Andalusien und Algerien, die sich in zwei verschiedenen Stadtteilen, nämlich Fes Andalus und Fes Chairouine, niederließen, die bald zur Altstadt Fes el-Bali zusammenwuchsen. Im 13. Jahrhundert erweiterten die Meriniden Fes um den Stadtteil Fes Djedid. Seit 1916 kam dazu die Neustadt, um die seit der Unabhängigkeit die neueste Stadt errichtet wurde. Fes wurde zum kulturellen Zentrum Marokkos und hat diese Stellung bis heute nicht verloren. Wenn wir morgen in die Souks gehen, ziehen Sie sich Schuhe an, mit denen Sie auch in Eselmist treten können, denn Mopeds sind dort verboten; alle Transporte werden mit Eseln durchgeführt."

Die paar Wolken am Himmel, denen ich gestern keine Bedeutung beimaß, haben sich über Nacht zu einer dunkelgrauen Wolkendecke ausgebreitet. Als ich morgens auf dem Balkon meines Zimmers 16 °C und 95 % Luftfeuchtigkeit messe, spüre ich den ersten Tropfen. "Fällt Fes ins Wasser?" dachte ich mir. Fes ist zwar nicht ins Wasser gefallen, unsere Gruppe sah aber nach der vormittäglichen Besichtigungstour so aus, als hätte sie selbiges getan. Bei strömendem Regen nutzten wir zunächst den Umstand, daß die Tore des Königspalastes ausnahmsweise geöffnet waren, zu einem Schnappschuß in einen seiner Gärten.

Die kurze Fahrt zum Bab Bujelud nützt unser einheimischer Führer, um unsere schon wesentlich feuchter gewordene Reisegruppe davon zu unterrichten, daß Fes bei der 1971 stattgefundenen Volkszählung 450 000 Einwohner, von denen zwei Drittel in der Medina (Altstadt) wohnen, hatte. Es hat als einzige marrokanische Stadt auch eine eigene Judenstadt, nicht nur ein Judenviertel, in der allerdings nur noch etwa 1200 Juden leben. In jedem der 244 Stadtteile gibt es eine Moschee, eine Koranschule, eine Sauna und eine Bäckerei. Unseren Gang durch die glitschigen Souks begannen mit einem Besuch der Bu Inania, einer Medersa aus dem 14. Jahrhundert. Beim Fotografieren dieses Meisterwerks der maghrebinischen Architektur stellte ich zum ersten Mal fest, daß die Sonnenblende meines Fotoapparats auch sehr gute Dienste als Regenschutz zu leisten vermag.

Nach kurzem Verweilen lotste uns unser einheimischer Guide in einen Laden für Blech und Messing, den ich sofort wieder verließ, um das Treiben im Freien zu beobachten, da es gerade zu regnen aufgehört hatte. Beim folgenden Besuch der Gerber spürten oder besser rochen wir die angenehme Seite des schlechten Wetters: der dort sonst übliche Gestank war auf ein erträgliches Maß reduziert.

Beim Besuch einer Karawanserei, von denen noch 60 in Fes stehen, erfuhren wir, daß die Übernachtung dort 1,80 Dirham und die Unterbringung des Esels 0,20 Dirham kosten. Wer's aushält!?

Jeden von uns begeisterte der Besuch einer Koranschule (einer einfachen, nicht einer Medersa) für 170 Kinder von 3 - 7 Jahren. Buben und Mädchen saßen gemischt in einem Raum und sangen unter der Anleitung von zweier Lehrerinnen mit ebenso großem Eifer wie Lautstärke offensichtlich eine Sure.

Der kulturelle Teil des Besichtigungsprogramms wurde dann in aller Eile erledigt: beim Grabmahl des Moulay Idris (Mitte 15. Jahrhundert, Restaurierung 18. Jahrhundert) verweilten wir so kurz, daß mich die Zeit für das Aufsetzen meines Blitzgerätes auf den Fotoapparat fast den Anschluß an die Gruppe gekostet hätte. Ob wir bei unserem Sprint durch die kulturellen Sehenswürdigkeiten auch an der Chairouine-Moschee vorbeieilten, kann ich erst nach Besichtigung meiner Fotos beantworten.

Die Attarine-Medersa aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts bezeichnete unser einheimischer Volkslaufanführer als die schönste von Marokko und meinte nach einem Blick auf die Uhr, daß jetzt gerade noch genügend Zeit zum Besuch eines Teppichladens sei. Da zu meiner Überraschung plötzlich, wenn auch nur für 2-3 Minuten, die Sonne dieses schöne Bauwerk beleuchtete, nutzte ich dies, um ein paar der herrlichen Stuckornamente zu fotografieren. Dabei vergewisserte ich mich vorsichtshalber, daß ich nicht der einzige aus unserer Gruppe sei. Zu meinem Erstaunen fragten mich die verbliebene Dame und der restliche Herr, ob ich wüßte, wo unsere Gruppe hingekommen sei. Wir hatten also in den Souks von Fes, in denen sich selbst die Einheimischen oft noch verirren, unsere Gruppe verloren. Unsere Hoffnung, daß unser Verlust bemerkt und man uns abholen würde, erwies sich nach einer Viertelstunde, die ich noch für ein paar Aufnahmen verwandte, als trügerisch. Daher erkundigte ich mich beim nächstgelegenen Laden, wo die Souks der Teppichhändler seien. Der Inhaber machte eine unbestimmte Bewegung in eine ungewisse Gegend. Wie sich herausstellte, zu unserem Glück, hatte ein 10jähriger Junge meine Frage mitbekommen und versicherte mir, nachdem er meine Nationalität und den Namen unseres Führers erfahren hatte, er wisse, wo der betreffende Teppichladen sei. Kreuz und quer führte er uns im Regen durch Souks, vorbei an bepackten Eseln, die fast den Durchgang versperrten, in einen Hinterhof, von dem aus wir tatsächlich in einen großen Teppichladen gelangten, in dem aber leider unsere Gruppe nicht war. Also folgten wir wieder unserem kleinen Fährtensucher durch das Gewinkel der Gassen - wenn ich nicht jeden Versuch einer Orientierung schon vor mehr als einer Stunde aufgegeben hätte, dann hätte ich spätestens jetzt jedes Wissen um Vorn und Hinten, Links und Rechts verloren - zu einem zweiten Teppichladen, mit dem gleichen Ergebnis wie beim ersten. Wir sagten unserem Führer daraufhin, er sollte uns auf dem schnellsten Weg aus der Medina bringen, was er zwar zusicherte, aber nicht vorhatte. Er hatte beschlossen, unsere Gruppe zu finden. Wie er das dann schaffte, weiß ich nicht. Er strahlte jedenfalls erst vor Stolz über sein Leistung, dann über unser Lob und am meisten über unser fürstliches Trinkgeld. Trotz unserer Verspätung hielten wir uns dann im Teppichladen noch länger auf als bei sämtlichen architektonischen Sehenswürdigkeiten von Fes zusammen.

Nach dem Mittagessen machte ich zusammen mit - wie sich dies für ein islamisches Land gehört - vier Frauen einen Einkaufsbummel. Es hatte zwar nur 18° C, aber es regnete wenigstens nicht mehr. Zuerst bummelten wir durch die Neustadt, wo meine Begleiterinnen schon die ersten Dirhams unter die dortigen Händler brachten. Dann fuhren wir mit einem Taxi zum Bab Bujelud, dingten dort für 10 Dirham einen jugendlichen Führer und stürzten uns in das Vergnügen, durch die Souks und deren Geschäfte zu spazieren und selbst das Tempo bestimmen zu können. In aller Ruhe besichtigten wir nochmals die Bu Inania Medersa, ließen diesen schönen Bau auf uns wirken und sahen den Muezzin (also nicht den sonst üblichen Lautsprecher) vom Minarett aus die Gläubigen zum Gebet nach Sonnenuntergang rufen. Langsam schlenderten wir durch die belebten und nächtlich beleuchteten Souks, die vom Regen (und vielleicht auch von einem Besen) saubergewaschen waren, bewunderten hier einen Drechsler, der auch mit seinen Zehen sein Handwerkszeug "handhabte", und feilschten dort um einen möglichst günstigen Preis. Schließlich meinte unser geduldiger Führer, er müsse nach Hause, und führte uns zurück zu den Taxis.

Den ganzen Nachmittag wurden wir nicht angebettelt. Fes war für mich der Höhepunkt der bisherigen Reise; ich ernannte es deshalb zum München von Marokko.

Heute morgen verzeichnete ich mit Dankbarkeit, daß seit den Pannen in Casablanca der Koffertransport immer klaglos funktionierte, denn der gestrige Temperatur- und Wettersturz hat mein Innenleben doch etwas durcheinander gebracht.

Von Fes nach Meknes sind es eigentlich nur 60 km, da wir aber über Volubilis und Moulay Idris fuhren, hat sich die Strecke verdoppelt. Ein feiner Geruch von Kamelleder zeigte im Bus an, daß die Taschen, Gürtel und sonstigen Dinge aus diesem Material, die überall zum Vorkauf bereit lagen, in unserer Gruppe ihre Abnehmer gefunden hatten.

Am Stadtrand von Fes sahen wir unseren bisher einzigen Verkehrsunfall in Marokko. Das Wetter, das bei unserem Frühstück noch Besserung versprach, wurde, je länger wir durch das fruchtbare Hügelland mit seinen frisch bestellten oder abgeernteten Äckern fuhren, um so schlechter. Immer wieder mußte unser Fahrer den Scheibenwischer einschalten, und die Dörfer, die mit ihren ebenerdigen Häusern keinen Vergleich mit den Kasbahs der Berber aushalten, sahen noch ärmlicher und unfreundlicher aus.

Als wir in Volubilis ankamen, regnete es zwar gerade nicht, aber ein heftiger Wind ließ uns die 17° C, die ich maß, noch viel kälter erscheinen. Auf teilweise aufgeweichten Wegen kämpften wir uns durch diese Ruinenstätte und besichtigten das, was von dem, was die Römer hier im 2. und 3. Jahrhundert nach Christus gebaut hatten, noch übriggeblieben ist. Obwohl Volubilis zeitweise als Steinbruch herhalten mußte, und obwohl auch hier das Lissabonner Erdbeben von 1755 erhebliche Schäden anrichtete, ist noch ziemlich viel Sehenswertes übriggeblieben: ein mächtiger Triumphbogen, beachtliche Gebäudereste und vor allem viele Mosaiken, die zwar teilweise zweit- oder drittklassig sind, deren Farben aber durch die Regenfälle der vergangenen Tage besonders zur Geltung kamen. Im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen geführt wurde uns das Alter der Ziermuster auf Berberteppichen: die gleichen Muster schmückten auch die fast 2000 Jahre alten Mosaiken. Schon kurz nach Beginn unseres Rundganges setzte wieder leichter Regen ein, und so zogen wir frierend und als ziemlich lustloser Haufen durch die Antike. Wir konnten uns kaum vorstellen, daß die Gruppe vor uns durch Hitze fast kampfunfähig gemacht worden war. Als einer der ersten eilte ich zurück zum Bus und entging dadurch als einer von wenigen dem einsetzenden Platzregen.

Von Volubilis sieht man, malerisch auf zwei Hügeln liegend, Moulay Idris, wo das Grab des gleichnamigen Begründers der Idrissidendynastie ist. Dieses Grab wurde zu einem Ersatzmekka für den Maghreb. Bis zu Anfang unseres Jahrhunderts durften Nichtmoslems die Stadt nicht betreten, und auch heute noch dürfen sie dort nicht übernachten. Je näher wir der Stadt kamen, um so mehr merkten wir, daß sie das nicht zu halten vermochte, was ihr Anblick aus der Ferne versprach. Sie besteht nämlich aus ziemlich häßlichen ungepflegten Häusern. Als dann auch noch starker Regen einsetzte, kaum daß ich den Bus verlassen hatte, erinnerte ich mich an Karla, die gemeint hatte, Moulay Idris könne man vergessen, und eilte in den schützenden Bus.

Auch nach der Mittagspause in Meknes regnete es noch. Heute ist Meknes, das um 1100 n. Chr. gegründet wurde, eine Provinzstadt. Seine große Zeit hatte es unter Moulay Ismail, dem zweiten Herrscher der Alaouitendynastie, der 1727 starb Dieser despotische und grausame Herrscher, der aber politisch durchaus fähig war und Marokko wieder zu einem starken Reich zu vereinigen verstand, baute Meknes zu seiner Hauptstadt aus, die er mit einer 6 m breiten Mauer aus Stampflehm umgab. Meknes wird als die Stadt der Tore bezeichnet; das Bab el-Khemis sowie das Bab el-Mansur, das als das schönste Tor Marokkos bezeichnet wird, besichtigten wir - natürlich bei Regen. Beim Bab el-Mansour machte uns zusätzlich ein Linienbus die Freude, für den Rest des Tages Fotovordergrund zu spielen. Aber das Bat el Mansour bei Regen mit Linienbus hat auch nicht jeder Fototourist in seiner Sammlung. Vor ein paar Tagen hatte ich bei 1/60 s Belichtung Blende 16 gebraucht, heute reichte gerade noch Blende 4; die Wolkendecke muß also ziemlich dick sein.

Nach den eindrucksvollen Getreidespeichern von Moulay Ismail besuchten wir das sehenswerte Grab dieses Herrschers mit der einzigen Moschee Marokkos, die auch Nichtmuslims betreten dürfen.

Anschließend wurden wir durch das sehenswerte Museum im Dar Jamai, einem recht attraktiven Bau vom Ende des 19. Jahrhunderts, geschleust, um dann dem Höhepunkt des Tages, der Bu-Inania-Medersa, zuzustreben. Sie ist etwas kleiner als ihre vom gleichen Stifter gespendete Namensvetterin in Fes, aber ein Kleinod der Merinidenbaukunst.

Am Morgen des nächsten Tages ist die Bewölkung ist aufgelockert, aber mein Thermometer zeigt nur 14° C bei 95 % Luftfeuchtigkeit.

Am Abend liegt ein langer und schöner Tag hinter uns. Das Wetter hat sich wieder von seiner freundlichen Seite gezeigt, die Temperatur stieg auf 24° C, die Luftfeuchtigkeit sank unter 70 %.

Vormittags legten wir die 140 km von Meknes nach Rabat zurück. Äcker wechselten mit Olivenhainen, unter die sich vereinzelt sogar Weinberge mischten. Auf den Hügeln waren neben Ziegen- und Schafherden sogar Kühe zu sehen. Kurz vor Rabat führt die Straße, auf der sogar einiger Verkehr herrschte, durch einen Korkeichenwald. Wie schon fast seit Beginn unserer Reise waren auch heute die Vorboten des morgigen großen Festes, das zum Gedenken der Opferung Isaaks durch Abraham gefeiert wird, zu sehen. Jede Familie, die sich das einigermaßen leisten kann, schlachtet zu diesem Fest einen Hammel - für viele fast die einzige Gelegenheit im Jahr, Fleisch zu essen. Mit allen möglichen Verkehrsmitteln werden die Tiere von den Hammelmärkten ihrer morgigen Verwendung näher gebracht: gefesselt auf dem Dach von Linienbussen oder in den Packtaschen eines Esels oder auch auf dem Beifahrersitz eines Pkw.

Bei einem Halt in Khemisset konnten wir junge Mädchen beim Knüpfen von Teppichen und Sticken von Tischdecken beobachten. Es handelt sich hierbei zwar um Kinderarbeit, andererseits sind solche Betriebe praktisch die einzige Möglichkeit für den Staat, die Eltern zu veranlassen, auch in ländlichen Gebieten Mädchen zur Schule zu schicken. Für die Heiratsaussichten eines Mädchens ist es nämlich entscheidend, handwerklich und haushaltlich geschickt zu sein; Schreibfertigkeit zählt nicht.

Wie schon bei anderen Gelegenheiten fiel mir auf, wie stolz hier Kinder und Erwachsene sind, ihre Fertigkeiten zu zeigen. Die Mädchen wiesen mit großem Vergnügen ihre Arbeiten vor und waren stolz über unsere ehrliche Bewunderung.

Am Nachmittag besichtigten wir Rabat. Unser einheimischer Führer überraschte uns mit der wörtlichen Wiedergabe von Passagen aus dem DuMont-Reiseführer, jedoch ohne die Quelle zu nennen.

Wie so viele andere Küstenstädte Marokkos geht auch Rabat auf die Phönizier zurück. Die Römer legten hier ihre Siedlung Sala Colonia an, deren Überreste in der Chella wir ebenso besichtigten wie die dort befindlichen, leider heruntergekommenen, Merinidengräber. Aus der Zeit der Almohaden sind noch die Stadttore und der Hassanturm erhalten. Andere Bauten wurden bei dem Erdbeben von 1755 zerstört. In dieser Zeit war Rabat ein gefürchtetes Zentrum der Piraterie (das letzte Schiff wurde erst 1823 aufgebracht). Heute ist Rabat die Hauptstadt von Marokko mit rund 700 000 Einwohnern.

Das moderne Rabat zeichnet sich durch seine Sauberkeit und Eleganz aus, in der Medina hingegen lebt eher noch das alte Marokko; der Markt allerdings ist blitzsauber. Man kann dort sogar Emmentaler, Leberkäse und Weißwürste kaufen.

Um die Medina nicht auf dem gleichen Weg, den wir gekommen waren, wieder verlassen zu müssen, entschieden sich meine drei Begleiterinnen und ich, durch eine kleine unscheinbare Gasse zu gehen. Dabei kamen wir an der halb geöffneten Tür eines Hauses, aus dem Musik erklang, vorbei. Eine meiner Begleiterinnen spähte ins Innere, und schon waren wir eingeladen. Zu unserer großen Überraschung standen wir nach ein paar Schritten in einem schönen, gefliesten Innenhof. Als wir uns als Deutsche zu erkennen gaben, wurde eine junge hübsche Dame herbeigerufen - wie sich herausstellte, eine Nichte des Hauseigentümers -, die perfekt deutsch sprach. Gegen das leicht zu haltende Versprechen, Abzüge unserer Fotos zu schicken, erhielten wir die Erlaubnis, das Haus zu fotografieren. Dann wurden wir in das an den Hof angrenzende Wohnzimmer (etwa 10 x 4 m2 groß) gebeten, an dessen Wänden ringsherum Couchen standen, auf denen sich etwa 10 Frauen und 3 Männer im Hinblick auf das morgige Fest in feierlicher Kleidung versammelt hatten. Leider durfte ich die Versammlung nicht fotografieren; es wäre ein Bild einer marokkanischen Modenschau geworden. Dafür wurden wir aber mit Milch, Datteln und Gebäck freundlich bewirtet.

Meine heutige Nachtruhe war wiederholt durch ein Blökkonzert gestört worden. Als ich gegen 7.50 Uhr nach der Ursache desselben Ausschau hielt, stellte ich fest, daß mein Zimmer auf ein etwa 8- 10stöckiges Wohnhaus blickt, auf dessen Balkonen die Hammel für die heutige Schlachtung abgestellt worden waren.

Marokko in der Rückschau

Unsere Lufthansa-Maschine ist nach pünktlichem Start um 14.30 Uhr soeben an Rabat vorbeigeflogen. Von dort hatten wir heute morgen unsere Fahrt zum Flughafen angetreten, wobei wir auch die einzige Autobahn Marokkos benutzten, auf der reger Verkehr herrschte. Wir fuhren an fruchtbarem Land und frisch aufgeforsteten Eukalyptus- und Nadelholzwäldern vorbei, nach Mohammedia, um dort drei aus unserer Gruppe, die noch eine Woche Badeurlaub machen wollten, abzuladen. Es kann einem schlimmeres passieren, als in Mohammedia Badeurlaub machen zu müssen, aber ein Badehotel mit Blick auf Ölraffinerien, die keinen Kilometer entfernt sind, und ein Strand, von dem aus ich neben dem Blick auf diese Raffinerien auch noch immer große Öltanker an- und abfahren sehe, sind nicht mein Ideal.

Der Kapitän unserer Boeing 727 hat soeben einige interessante Zahlen durchgegeben: wir fliegen in 10700 m Höhe mit 830 km/h; für die 2470 km nach Frankfurt brauchen wir 16000 l Sprit.

Nun, da Marokko hinter uns versinkt, möchte ich als Schlußergebnis dieser Reise feststellen, daß Marokko nicht nur eine Reise wert ist.

Auf den 3000 km, die wir durch dieses Land gefahren sind, haben wir erkannt, daß Marokko ein Land der Gegensätze ist, und insbesondere auch, daß der widersprüchliche Slogan von dem kalten Land unter heißer Sonne durchaus gerechtfertigt ist. Während wir im trockenen Süden, wo dunstige Berge nicht Luftfeuchtigkeit, sondern Sand in der Luft bedeuten, bei 35° C jede Kleidungserleichterung nützten, kramten wir nördlich des Atlas unsere Pullover aus den Koffern, um uns vor Regen und Wind zu schützen.

Den tiefsten Eindruck auf mich hat die menschen- und vegetationsfeindliche Gegend des Antiatlas und südlich des Hohen Atlas gemacht. Am meisten verwundert hat mich, daß ein Land, das als Vermittler arabischer Kultur an das mittelalterliche Europa eine beträchtliche Rolle spielte und Grenze an Grenze mit Europa liegt, von den Küstenstädten abgesehen, weiter von Europa entfernt zu liegen scheint, als Indien, Mexiko oder Südostasien. Und in den Berberdörfern des Südens fühlte ich mich manchmal in die Zeit der biblischen Propheten zurückversetzt, kein Zufall also, daß hier Sodom und Gomorra gedreht wurden.

Reisen auf eigene Faust dürfte - von der Hotelreservierung abgesehen - nicht allzu schwierig sein. Die Straßen sind, von den beschriebenen Ausnahmen abgesehen, gut und haben wenig Verkehr - der VW der Marokkaner ist nicht nur in den Dörfern immer noch der Esel -, es gibt viele Campingplätze und mit Französisch kommt man überall durch; überraschend oft wird auch Deutsch verstanden. Die Hotels sind akzeptabel, können aber einen Vergleich mit gleichrangigen Hotels in Südostasien nicht bestehen; irgend etwas fehlt immer.

Fotomotive bietet Marokko in Fülle, auch wenn sich die Menschen hier nicht fotografieren lassen wollen.

Das einzig Negative sind die bettelnden Kinder, insbesondere in den Berberdörfern, und die lästigen Händler und Führer in Marrakesch.

Alles in allem habe ich Marokko nicht "Leb wohl", sondern "Auf Wiedersehen" gesagt, und sei es auch nur um herauszufinden, ob mehr Frauen verschleiert oder unverschleiert gehen.

 

 

Copyright © 2001 Manfred Hiebl. Alle Rechte vorbehalten.