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Rund Korsika

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    Über Norditalien lagert ein ausgeprägtes Tiefdruckgebiet, als ich spätabends in Salivoli, dem Hafen von Piombino, zu unserer Crew stoße, alles Leute, die ich nie zuvor gesehen habe. Darunter befinden sich sowohl einige mit seglerischer Erfahrung als auch Anfänger. Es ist beinahe ein ausgesprochener Männertörn, bei dem die mittleren Jahrgänge dominieren, nur eine Frau ist darunter. Nach einem ersten Erfahrungsaustausch wird schnell klar, daß es sich zumeist um Studierte handelt, genau die Sorte Mensch also, der ich das größte Mißtrauen entgegenbringe, Besserwisser, was das Theoretische angeht, aber für das Praktische ungeeignet, jedenfalls mit einer gehörigen Portion Selbstbewußtsein ausgestattet. Um nun noch weitere Vorurteile aufzuführen, wäre der vielen Vegetarier und Teetrinker an Bord zu erwähnen, ohne rechte Affinität zu Bier und Härterem und lauter ausgesprochene Nichtraucher. Wir werden sehen, wie weit wir mit dieser Mannschaft kommen. In der ersten Nacht an Bord geht ein heftiger Regen über der Marina nieder, für das Gebiet, das wir in den nächsten Tagen besegeln wollen, den Norden Korsikas, ist Sturmwarnung angesagt. Am Morgen desselben Tages herrscht noch eitel Sonnenschein, eine trügerische Windstille zwingt uns dazu, unser erstes Fahrtziel, den gut geschützten Hafen Portoferraio auf Elba, unter Motor anzulaufen. Bei Tage orientiert sich die Ansteuerung am vorgelagerten Felsen Scoglietto.
    Elba ist eine herrliche Insel. Über und über mit grüner Macchia überzogen, ragt sie aus dem Meer. Ihr vorgelagert ist die kaum eilandgroße Insel Palmaiola mit einer Festung auf dem Gipfel. Gegen halb vier zieht ein Gewitter über uns hinweg, so daß es uns kaum gelingt, rechtzeitig die Segel zu reffen. Regen peitscht uns ins Gesicht, die Krängung nimmt zu. Verzweifelte Gesichter! Den Leuten ist ihr anfängliches Lachen vergangen: die Fock beginnt zu killen, die Schoten rauschen aus, das Vorsegel muß geborgen werden. Ein Teil der Mannschaft macht einen kläglichen Eindruck. Im Nebel und peitschenden Regen der Gewitterwolke beginnt das Wetter unsichtig zu werden, fahrlässig wurde das Schiff in die Gewitterwolke hineinmanöveriert. Wir halten direkt auf die Küste zu, anstatt wie die anderen Boote auf See auszuweichen. Es wird weder befohlen, Schwimmwesten anzulegen, noch die Fahrt der verminderten Sicht entsprechend anzupassen noch Ausguck zu gehen, so daß die Nervosität wächst. Der Steuermann ist völlig hilflos und will die Position wissen. So wie der Spuk gekommen ist, ist er auch vorüber. Am Ende zeigt sich wieder die Sonne, und als wir in den Hafen von Portoferraio einlaufen, wirkt die felsige Küste bizarr in ihren Umrissen. Von hoch droben grüßt eine Festung, die den ganzen Hafen überblickt. Der Wind ist mittlerweile völlig abgeflaut. Unsere einzige Sorge ist jetzt noch, daß der Yachthafen wegen des angekündigten Orkans voll besetzt sein könnte, und er ist es in der Tat. Daher ist uns vorgegeben zu ankern, leider etwas außerhalb des Stadtzentrums, wo rosa-, creme- und ockerfarbene Häuser sich zu Füßen der Zitadelle idyllisch um den alten Hafen gruppieren. Im gesamten Hafenbereich herrscht reger Fährbetrieb. Im zwanzigminütigen Takt legen diese Kolosse hier an und ab. Das Ankermanöver verläuft keineswegs nach Lehrbuch, was wir den lauten Protesten auf den Nachbarschiffen entnehmen können. Nach dem Ankern wird zunächst das Abendbrot eingenommen. Es scheint sich bei unserer Mannschaft um rechte Asketen zu handeln: tagsüber ist Schmalhans Küchenmeister, und abends gibt es auch wieder nur Vegetarisches zu essen. Den hungrigen Magen müssen wir daher mit süßem Gelatti sättigen, das man im Hafen von Portoferraio in den leckersten Variationen bekommt. Die Überfahrt mit dem Dingi gerät aufgrund des Wellenschlags der riesengroßen ein- und auslaufenden Fähren zum feucht-fröhlichen Vergnügen: Schuhe und Hose werden außerordentlich naß. Rund um das Hafenbecken promenieren Spaziergänger, allein Urlaubsgäste aus den Ländern nördlich der Alpen findet man kaum, es scheint, als wären die Italiener unter sich geblieben. Viel zu dem südländischen Flair tragen die Frauen mit ihrem cremefarbenen Teint bei: Latinerinnen, Sabinerinnen, Etrurerinnen, in üppiger Weiblichkeit. Wir machen noch einen Abstecher hinauf auf die Festung der Medici, wo man einen großartigen Ausblick über die Bucht und auf die Stadt herab genießt. Die Festung selbst ist verschlossen. Eine gewisse Nervosität macht sich ob des angekündigten Orkans breit, was uns dazu zwingt, Ankerwache zu gehen.
    Als wir morgens erwachen, herrscht strahlender Sonnenschein und die See ist spiegelglatt, kein Lüftchen regt sich. Die von der Nachtwache geschwächte Mannschaft schläft noch. Am Vorabend hat einer vergessen, den Gashahn abzudrehen, offenbar weil es ihm trotz Sicherheitsbelehrung nicht eindringlich genug eingeschärft wurde. In der Tat scheint Poseidon den Orkan von uns abgewettert zu haben, oder aber die Meergöttin Thetis hat ein gutes Wort für uns eingelegt. Ein unter griechischer Flagge laufendes Schiff genießt nämlich den besonderen Schutz der Götter. Die Wind- und Wetterbedingungen legen als nächstes Ziel die Insel Capraia ans Herz. Doch scheint die Entscheidung, die man ohne mich getroffen hat, nicht die beste gewesen zu sein, denn alle restlichen Schiffe, die an diesem Tag unter Segel laufen, nehmen unter günstigerem Wind, als wir ihn haben, Kurs auf Kap Corse. Noch während des Auslaufens aus Portoferraio frischt der Wind auf, so daß wir ausreichend gute Verhältnisse vorfinden, um die Segel zu heißen. Bei halbem Wind segeln wir am Monte Capanne vorbei, dem höchsten Berg Elbas, dessen Gipfelregion sich bereits in Wolken hüllt, und nehmen Kurs auf Capraia. Im Verlaufe einer nichtssagenden Überfahrt kommt die Insel, über der sich eine Wettergrenze ausgebildet hat, näher und näher. Dunkel und düster begrüßt sie uns, schroff erhebt sich ein Fort über der engen Hafeneinfahrt. Die Liegeplätze sind alle besetzt, so daß uns ein umständliches Ankermanöver über Bug- und Heckanker nicht erspart bleibt. Noch während des Ankerausbringens reißen die Himmel auf, und die Marina zu Füßen de Monte Castello erstrahlt im güldenen Abendlicht. Selbst bei so einfachen Vorgängen wie dem Ausbringen eines Ankers tritt die ganze Unsicherheit des Skippers zutage, und das Schlimme daran ist, daß sie sich voll auf die Mannschaft überträgt. In der Marina muß man für die sämtlichen sanitären Einrichtungen löhnen, nichts gibt es mehr umsonst. Mein Angebot an die Mannschaft, diesen Abend Fisch zu brutzeln, findet keinen Anklang, diese bevorzugt, für teures Geld im Ort essen zu gehen. Oben auf dem Kastell über der Stadt stößt man auf prähistorische Ausgrabungen, die als Weinpressen gedeutet werden und bis ins 18. Jahrhundert in Betrieb waren.
    Als ich in der Nacht unsanft geweckt werde, versuche ich an Deck zu schlafen, doch ist es dort zu schmal und zu hart zum Liegen, so daß ich mich reumütig wieder in meine Kajüte zurückziehe. Am nächsten Morgen ist die Gasflasche leer, und es gelingt uns nicht rechtzeitig genug, auf dem Weltempfänger den ORF zu empfangen, um den Wetterbericht abzuhören. Vor dem Auslaufen entbrennt unter der Crew ein Streit darüber, ob die zu Beginn des Törns vereinbarte Route eingehalten werden soll. Es wird fast Mittag, bis wir endlich unter Segel gehen können, ein halber Tag ist verbummelt! Bei mäßig bewegter See und einer leichten Brise steuern wir entlang der steilen Küste auf die Südspitze Capraias zu, um anschließend Kurs auf Macinaggio zu nehmen.
    Da die Wind- und Wetterverhältnisse es zulassen und die See bis dicht unter Land steil abfällt, entsteht der Eindruck, als würde man sich an einer Mauer oder Wand entlangtasten. Hoch über den Klippen kommt ein alter Wachtturm in Sicht, in Höhe der Punta Zenobita mit dem Ankerplatz Cala Rossa, der von eindrucksvollen geologischen Formationen gesäumt ist. Während die Länder nördlich der Alpen in Wassermassen ertrinken, hat sich über Korsika ein stabiles Hoch ausgebreitet, das uns nicht nur einen Tag voller Sonnenschein beschert, sondern auch günstigen Wind, nicht über die Maßen zwar, aber nach Richtung und Stärke zum Segeln auf jeden Fall ausreichend. Wir steuern direkt auf den Hafen von Macinaggio zu. Im äußersten Norden setzt sich die Insel Giraglia von der Küste ab, während wir direkt südlich von Finocchiarola den Hafen anlaufen. Der 2622 m hohe Monte Rotondo hüllt sich in Wolken.
    Nachdem wir im Hafen festgemacht haben, gilt unser erstes Interesse der Versorgungslage an Bord, die wieder aufgebessert werden muß. Dabei dringt erneut der Egoismus unserer Vegetarier und Weltverbesserer durch: an Fleisch und Wurst fehlt es völlig, anstatt guter Butter kommt Margarine auf den Tisch. Dabei sind diese Vegetarier und Antialkoholiker den ganzen Tag über hungrig und ständig mit Essen und Knabbern beschäftigt, weil sie offenbar nie richtig das Gefühl der Sättigung kennenlernen. Uns sie alle begrüßen die Einführung des Euro, weil sie meinen, daß ihnen damit ein Krieg erspart bliebe. Aufgrund ihrer ständigen Unterernährung wären sie solchen Fährnissen ohnehin nicht gewachsen, und sie wären buchstäblich die ersten, die ins Gras beißen müßten. Ach, wie waren doch dereinst die Zeiten schön, als an Bord noch nach Herzenslust gegessen, getrunken und geraucht werden durfte! Aber diese jungen Leute, sie rauchen nicht mehr, sie trinken nicht mehr, sie haben sich alles abgewöhnt, was einen Mann zum Mann macht.
    Niemals habe ich bisher erlebt, daß unser Skipper ein riskantes Manöver selbst gefahren hätte; wahrscheinlich würde er sich, wie im Crewvertrag vereinbart, im Falle eines Falles, anstatt seiner Eigenschaft als Schiffsführer gerecht zu werden, aus jeglicher Verantwortung für Schiff und Mannschaft stehlen. Grundsätzlich ist jedem von der Unterzeichnung dieser Art von Verträgen abzuraten, insbesondere dann, wenn man den Vertragstext vor Törnbeginn nicht gelesen hat, denn die Intention dabei ist eindeutig die, daß entstandene Lasten auf den unbedarften Mitsegler abgewälzt werden sollen. Während der Zubereitung des Abendessens stellt unser Skipper lakonisch fest, daß kein Frischwasser mehr an Bord sei, da beide Tanks leer seien, und daß sich deshalb niemand mehr die Hände waschen könne, es sei denn mit Mineralwasser. Das Geschirr bleibt diesen Abend ungespült liegen, und die Peinlichkeit der Situation wird von den meisten durch albernes Gekichere überspielt. Die Crew war losgeschickt worden, wohl wissend, daß die Tanks mittendrin leergefahren sein können. Jede Gelegenheit sie aufzufüllen wurde bislang ausgelassen, obwohl wir nun schon im dritten Hafen anlegen. Darüber vergißt der Coskipper den allabendlichen Wetterbericht abzuhören, was ihm aufgetragen worden war, und das, obwohl wir ihn schon am Morgen nicht abgehört haben. Das nennt sich dann Sorgfaltspflicht gegenüber der Besatzung! Noch während des vegetarischen Abendesssens, das, völlig salzlos und geschmacklos zubereitet, lediglich dazu angetan ist, den Bauch mit Wasser zu füllen, kommt uns ein Schiff innerhalb seines Schwojkreises so bedrohlich nahe, daß wir unser Schiff versetzen und ein neues Ankermanöver ausführen müssen. Der Schiffsführer scheint noch etwas ungeübt im Bemessen des richtigen Sicherheitsabstandes und im Einschätzen der erforderlichen Bewegungsfreiheit, die ein Schiff benötigt, wenn der Wind dreht.
    Ohne alle Crew-Mitglieder zu befragen und ohne Angabe von Gründen beschließt ein Teil der Mannschaft, einen Tag im Hafen von Macinaggio liegenzubleiben, was mit einer Crew-Entscheidung begründet wird, gegen die sich die nicht gehörten Mitsegler, als in der Minderzahl befindlich, nachträglich nicht wehren können. Der Wunsch, täglich zu segeln, sofern es die Wind- und Wetterverhältnisse zulassen, wird als "Regattabetrieb" abgetan, und man sucht nach fadenscheinigen Argumenten, wie etwa, daß es wenig Wind gebe und der Skipper sich schließlich auch im Urlaub befinde. Dabei muß ein Segeltörn durchaus nicht ausschließlich unter Segeln durchgeführt werden, sondern es kann, abhängig vom Wetter, ein Teil der Strecke auch unter Motor zurückgelegt werden.
    Abends beim Rotwein erzählt mir ein älterer Mitsegler seine gesamte Lebensgeschichte, die der anderen interessiert ihn hingegen kaum, denn er redet so gut wie nur von sich und zwingt sein Gegenüber ständig zum Zuhören. In der Nacht müssen wir Ankerwache gehen, obwohl ich auf den Schiffen ringsum niemanden entdecke, der das gleiche tun würde. Ist doch die See ruhig und der Anker hat fest gegriffen! Es hätte ausgereicht, wollte man ganz sicher gehen, alle zwei Stunden den Wecker zu stellen und nach dem Rechten zu sehen. Die durch die einlaufende Dünung wie Pendel schaukelnden Boote, ja die ganze Atmosphäre rundum in der sternklaren Nacht wirken beinahe mystisch. Das periodische Schlagen der Wanten gegen die Masten klingt wie ehernes Peitschen im wiegenden Rhythmus des Meeres, und die Nacht ist erfüllt von metallischen Klängen, zur dauernden Mahnung an den Wachenden.
    Am Morgen werden wir wie stets in die öffentlichen Einrichtungen geschickt, meine Dusche bleibt jedoch kalt. Trotz meines Protestes erhalte ich mein Geld nicht zurück, man bietet mir an, statt dessen eine andere Dusche zu benutzen. Um den Liegetag sinnvoll zu überbrücken, muß nach Alternativen gesucht werden, deren es in Macinaggio nicht recht viele gibt. Man kann nach Kap Corse wandern oder das hoch über der Stadt gelegene, malerische Bergdorf Rogliano aufsuchen, wo das "Vieux fort", das Chateau Da Mare, eine umfassende Aussicht über die gesamte Bucht von Macinaggio bietet. Niemand vermag mir seinen Namen zu nennen, und auch um seine Bedeutung weiß niemand, wen ich auch dazu befrage, Bescheid. Ein Mann meint, die Burg reiche ins 12. Jahrhundert zurück, wenngleich die Verbauung von Ziegeln darauf hindeutet, daß sie noch in späterer Zeit ihren Zweck erfüllt haben muß. In ihrer Nähe befinden sich auch der sogenannte "Couvent", ein Karmeliter-Kloster, sowie eine Reihe von alten Wehrtürmen, in die sich die einheimische Bevölkerung zurückzog, um bei drohenden Piratenüberfällen darin Schutz zu finden. Oben auf den Bergspitzen hat man eine Reihe von Windkraftwerken errichtet, denn Korsika soll angeblich sehr windreich sein, was wir für den heutigen Tag jedenfalls nicht bestätigen können.
    Ausreichend Wind jedoch ist vorhanden, um die Düftchen der überall über die Insel verteilten Müllkippen zu verbreiten, neben der Abholzung eine der auffallendsten Umweltsünden. An den Hängen über Rogliano findet man auch spärlichen Wald und darunter in den Tälern sogar Bambuswälder. Karg wirken die abgeholzten Hänge auf das Auge des Betrachters, und der Dunst über dem Meer kündigt an, daß das Wetter schön bleibt. Die Lufttemperaturen sind im Vergleich zu den letzten Tagen wieder beträchtlich gestiegen, der lichtdurchflutete Tag zwingt zum Tragen einer Sonnenbrille. Die Dörfer rund um das Kloster sind ein enges Gewirr winkeliger Gassen, die Häuserschluchten präsentieren sich in heruntergekommenen Fassaden, und dazwischen liegen ungepflegte Gärten. Doch beinahe jeder Bewohner nennt ein Fahrzeug sein eigen, und geteerte Straßen führen nahezu überall hin. In den alten Gemäuern hat sich so mancher Künstler eingenistet, an seinen langen Haaren kann man ihn erkennen. Man findet unter den Einheimischen den einen oder anderen mit stechend-blauen Augen, und einige könnten der Familie Buonapartes entstammen. So berühmte Namen wie Vivaldi und Casanova, wie man sie den Grabinschriften zu entnehmen vermag, sind hier zu Hause.
    Blaß und weißlich geht im Westen die Sonne unter, und die dunklen Seiten der Osthänge werfen schnell ihre Schatten über uns, während wir noch an Bord unser Abendessen einnehmen. Dazu wird, wie in Frankreich üblich, ein köstlicher Rotwein oder Rosé gereicht, dem wir tüchtig zusprechen. Es wird beschlossen, am nächsten Tag frühmorgens um vier aufzubrechen. Wind herrscht heute nicht, so daß wir Kap Corse unter Motor umrunden. Als ich in der Frühe starken Kaffee zubereite, springt der Skipper plötzlich, noch sichtlich unausgeschlafen, panikartig aus der Koje, weil er schwachen Gasgeruch vernimmt, und läßt alle Luken öffnen. Er ist den Anforderungen an die Seefahrt augenscheinlich nicht gewachsen und völlig überfordert. Die Insel Giraglia liegt nun schon deutlich hinter uns. Es ist sechs Uhr morgens, als wir Kap Corse umrunden und von da südlichen Kurs steuern, vorbei am 1307 m hohen Monte Stello. In der Tat ist die Westküste bei weitem steiler und erhabener als die etwas flachere Ostküste. Wir fahren noch immer unter griechischer Flagge. Der Skipper scheint nicht zu wissen, daß er neben der Nationalitätsflagge auch die Flagge des Gastlandes führen muß. Als die aufgehende Sonne alle Schatten wegnimmt, setzen wir bei schwachem Wind die Segel. Die Wolken haben sich nun verzogen und es beginnt ein strahlend-schöner Tag. Unsere junge, dynamische und erfolgreiche Crew übt bei der Gelegenheit einige Mann-über-Bord-Manöver, die allerdings einiges zu wünschen übriglassen. Mit stockenden Worten versucht der Skipper sein Wissen darüber zu vermitteln, das aber in einigen Punkten nicht ganz konform mit der Theorie einhergeht. Was hier vor allem fehlt, ist eine überzeugende Kommandosprache, wie es gute Seemannschaft erfordert und gegen die selbst dann nichts einzuwenden ist, wenn man sich im Urlaub befindet. Klare Kommados werden entweder erst gar nicht gegeben oder sie werden durch gutes Zureden ersetzt. Daher mißlingt auch nahezu jedes Manöver, wozu sicherlich die Flaute einiges beiträgt, denn unter solchen Verhältnissen sind derlei Manöver besonders schwierig auszuführen. Sie sollten daher besser bei angemessenen Windverhältnissen geübt werden, ansonsten spricht hieraus die Furcht des Seglers vor dem Wind. So frage ich mich denn bei jemandem, der seine Qualifikation bei der Bundeswehr erworben hat, ob man dort mittlerweile davon abgekommen ist, Befehle zu erteilen, und ob das Team demokratisch entscheidet, was wann ausgeführt wird. Jungen Menschen, die heute überwiegend nichts vom Kämpfen wissen wollen und ihrer ganzen Art nach völlig unmilitärisch sind, scheint es ohnehin besonders schwerzufallen, sich irgendwelchen Anordnungen zu fügen und sich unterordnen zu müssen. Manch einer erscheint gar nicht mehr an Deck, sondern schläft vor Erschöpfung den Schlaf des Gerechten - was mich eigentlich wundert bei all dem Müßiggang, dem wir uns hingeben. Somit überbrücken die meisten ihren fehlenden Mumm mit heiterem Gelächter über Witzeleien, wie es typisch ist für Gesellschaften, in denen keinerlei Hackordnung mehr gilt.
    Kaum daß wir bis gegen Mittag auf See waren und in die Bucht von Saint-Florent eingelaufen sind, steht wieder dieselbe Entscheidung an: Hierbleiben oder nach Calvi weitersegeln? Die Mehrheit entscheidet sich dafür zu bleiben, obwohl wir im Hafen keinen Liegeplatz bekommen und abgewiesen werden, was nichts anderes heißt, als daß wir schon wieder ankern müssen. Mir erschließt sich der Sinn des frühen Aufstehens nicht, denn normalerweise tut man dies, wenn man eine größere Tagesetappe plant, und nicht, um vorzeitig da zu sein und in der Sonne zu verschmoren. Langsam wird mir klar, daß unter dieser Gruppe keinerlei Sportsgeist herrscht und die Teilnehmer zudem keiner größeren Belastung gewachsen sind, geschweige denn, sich auch nur ein bißchen anstrengen wollen. Somit zeichnet sich bereits jetzt ab, daß durch die Unvernunft einiger, zu Beginn der Reise zu zögern und zu zaudern, das Ziel als Ganzes, nämlich Korsika zu umrunden, immer mehr gefährdet wird.
    Der Hafen von Saint-Florent ist landschaftlich herrlich gelegen, entsprechender Andrang herrscht im Ort, wo die Leute auch tagsüber zahlreich die Restaurents bevölkern. Saint-Florent ist schnell besichtigt. Es besitzt ein altes Fort, eine Häuserzeile am Kai und einige dahinter verlaufende Gassen. In fünf Minuten kennt man den ganzen Ort, der aus einem armen Fischerdorf hervorgegangen und erst durch den Yachttourismus groß geworden ist. Während wir mit dem Beiboot übersetzen, kommt es zu einem Getriebeschaden am Außenborder. Der Skipper schenkt unseren Ausführungen zunächst keinen Glauben und setzt sich selbst ins Beiboot, natürlich mit dem Erfolg, daß er auf halbem Weg zum Hafen das gleiche Schicksal erleidet, welches zuerst uns widerfahren ist. Natürlich hat er keine Paddel mitgenommen, so daß er, nachdem es ihm passiert ist, vornübergebeugt, mit beiden Händen rudernd, zum Schiff zurückzukommen sucht. Nicht ohne eine gewisse Häme, weil man uns keinen Glauben schenkte, verfolgen wir den Vorgang.
    Nachdem uns unser Schiffsführer verlassen hat, dauert es eine Ewigkeit, bis das Boot, mit Einkäufen angefüllt, zurückkehrt. Niemand von den anderen außer uns dreien, die wir an Bord zurückgeblieben sind, scheint sich an Vereinbarungen zu halten. Ihnen ist nur wichtig, daß sie tagsüber in der Sonne liegen können, was aber mit denen geschieht, die auf dem Schiff zurückbleiben mußten, ist ihnen egal. Nach dem Abendessen versuchen einige der Unseren, offenbar unter dem Einfluß des Alkohols, das Schiff zu reinigen, jedoch ohne vorher die Luken zu schließen. Mein Bett wird dabei völlig durchnäßt, das Bettlaken muß gewechselt werden. Auch der Schlafsack bleibt nicht trocken. Auf diesem Schiff war von Anfang an der Wurm drin. Der Skipper, der die Anweisung dazu erteilte, überschüttet uns anschließend, anstatt die Schuld sich selbst beizumessen, mit Vorwürfen, warum wir die Luken nicht geschlossen hätten. Hätte er hingegen die Augen offen gehabt, so würde er selbst gesehen haben, daß sie nicht dicht waren, aber dennoch erteilte er das Kommando. Total beschwipst bettet er sich zur Ruhe und vertreibt mich vorher noch aus dem Salon, welcher sein Schlafplatz ist. Am nächsten Morgen, wieder ausgenüchtert, entschuldigt er sich dann aber für sein gestriges Verhalten.
    Auch der zweite Offizier an Bord hat offenbar psychische Probleme, er leidet an Phobien und unter Platzangst. Manchmal schreckt er nachts auf und schlägt mit dem Kopf gegen die Decke. Dann wieder bildet er sich ein, die Koje habe keinen Ausgang, obwohl ihm seine Vernunft sagt, daß er sich auf einem Schiff befindet. Das sind ganz typische Probleme, wie sie bei Gebildeten manchmal auftreten, was mich zu der Überzeugung neigen läßt, daß rauhere Gesellen für die Seefahrt besser geeignet sind als sensible. Ich wage mir im Augenblick kaum auszumalen, was passieren würde, wenn wirklich schweres Wetter aufkäme, wo Kaltblütigkeit angesagt ist anstatt Angst.
    Am nächsten Morgen herrscht nahezu kein Wind, auch die Nacht war vollkommen windstill, so daß wir diesmal auf eine Ankerwache verzichten konnten. Die See ist spiegelglatt, und nur wenige Boote draußen haben die Segel aufgezogen. Die gesamte Küste ist in Dunst getaucht, und nur geringe Stratocumulusbewölkung bedeckt den Himmel. Die höheren Berge treten nun bald in den Hintergrund. Ab und an sehen wir einen der halbverfallenen Türme, die die ganze Küstenlinie umziehen. Somit laufen wir eine ganze Weile unter Motor, und das ändert sich auch nicht, bis wir unser heutiges Tagesziel erreicht haben, Calvi. Im Dunst über L'Ile-Rousse ragt der 2710 m hohe Monte Cinto auf, der höchste Berg Korsikas.
    Einer meiner Mitsegler hat sich in Macinaggio ein Angel gekauft, doch bei einer Fahrt von 8 Knoten hätten wir ihm gleich sagen können, daß kein Fisch anbeißen wird. Tatsächlich scheint jener eine ganze Weile zu glauben, etwas hinge an seiner ca. 100 m langen Angelleine, die er vollständig ausgebracht hat, doch ist die Enttäuschung groß, als sich herausstellt, daß dem nicht so ist.
    Unterwegs erklärt der Skipper die Kreuzpeilung. Was er dabei aber völlig unter den Tisch kehrt, ist die Größe des Fehlers in Abhängigkeit vom relativen Winkel der beiden Peillinien, wenn, wie in unserem Beispiel, die beiden Peilungen nahezu unter demselben Winkel vorgenommen werden.
    Für das Mittagessen sind heute wieder unsere gefürchteten Vegetarier zuständig, und da wissen wir beinahe im voraus, was auf uns zukommt: eine wässrige, geschmacklose und kalorienarme Mahlzeit, die nach ihrem Verzehr den Magen so richtig zum Knurren bringt. Besonders ärgerlich daran ist, daß wir viel Geld für frisches Gemüse ausgeben, dafür aber wenig Nährwert erhalten. An ein schönes Stück Fleisch kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern, doch fühle ich mich auch nicht als der Missionar, der diese hoffnungslosen Fälle bekehren will.
    Im gleißenden Gegenlicht, während sich vor uns eine spiegelnde Wasseroberfläche ausbreitet, zu der in der Ferne im Dunst verschwindende hohe Berge die Kulisse bilden, erreichen wir Calvi, das von einer genuesischen Hafenfestung überragt wird. Hier soll angeblich Christoph Kolumbus geboren sein, und Admiral Nelson verlor vor der Stadt ein Auge. Weder ihm noch den Türken gelang es, die stark befestigte Stadt einzunehmen. Noch im zweiten Weltkrieg besaß sie eine gewisse militärische Bedeutung. Die Hafenpromenade hat das Ambiente wie jede andere südländische Stadt, die über eine Marina verfügt. Wie überall in der Hochsaison sind alle Liegeplätze belegt, so daß wir hier nur zu dem einen Zweck kurz festmachen können, um unseren Körper zu pflegen, unser Wasser aufzufüllen und den Außenborder zu reparieren. Da es Wasser jedoch erst ab 19 Uhr gibt, liegen wir hier quasi nur auf Abruf, jederzeit damit rechnen müssend, daß wir kurzfristig wieder ablegen werden. Fast ein halber Tag vergeht, den wir, um die Zeit totzuschlagen, abwechselnd dazu nutzen, die üblichen Angelegenheiten zu erledigen, wie etwa Duschen, Einkaufen und Landgänge unternehmen. Ich sehe mir in dieser Zeit die imposante Festung an, die eine richtige kleine Stadt für sich darstellt. Man erkennt von dort oben noch besser, daß die gesamte Bucht von hohen Bergen eingerahmt wird, wo an sogenannten Ankerbojen Dutzende von Yachten festgemacht haben, die gemächlich im ruhigen Wasser schwojen. Ein Mitsegler, der vor fünfzehn Jahren schon einmal hier war, berichtet, daß Calvi damals ein idyllischer Fischerort gewesen sei, mit viel Flair, wovon heute durch den zunehmenden Yachttourismus nicht mehr viel übriggeblieben ist. Noch immer fährt die alte Bahn, die sich heute allerdings neben all dem Straßenverkehr nur mehr nostalgisch ausnimmt, die Bucht entlang nach Calvi. Als ich vom Einkaufen zurück bin, verlangt ein Mitsegler, weil er mir anscheinend mißtraut, den Kassenbeleg von mir, nachdem offenbar keiner mehr versteht, wo das viele Geld hingekommen ist.
    Als wir nun bis fast genau neunzehn Uhr am Landesteg ausgeharrt haben und just zu dieser Minute die Wasserversorgung zu fließen beginnt, kehrt das Boot zurück, dessen Liegeplatz wir belegt haben, und pocht auf sein Recht. Unser Skipper entscheidet, daß wir ablegen und anderswo Wasser bunkern. Nun herrscht allerdings reger Betrieb im Hafenbecken, und dem Skipper, der wie immer der Situation nicht gewachsen ist, steigt die Röte auf, und es stehen ihm seine kurz geschorenen, abstehenden Haare noch mehr zu Berge. Aufgeregt hüpft er an Deck herum, teilt dem Steuermann seine Aufgaben zu, die eigentlich er zu übernehmen hätte, stürzt da und dort hin und läßt das Schiff von Hand verholen.
    Abends wird erneut auf lächerlich demokratische Art abgestimmt, wie der Ablauf des nächstfolgenden Tages auszusehen habe, um wenigstens dem Schein nach jeden Gedanken an einen Vertragsbruch ins Reich der Fabel zu verweisen, und mit einer Stimme Mehrheit wird beschlossen, daß man, anstatt zu segeln, den Tag lieber an Land verbringen wolle, sehr zum Unwillen der Überstimmten. Da aber diejenigen, die sich schon vor Reiseantritt zusammengefunden haben, stets einstimmig abstimmen, haben die anderen kaum jemals eine Chance, etwas anderes durchzusetzen. Der Skipper, der eigentlich als unser Dienstleister gar nicht stimmberechtigt ist, schließt sich der Mehrheit an, indem er etwas befremdend argumentiert, daß dieser Job, den er ausschließlich in seiner Freizeit ausübe, nicht sein eigentlicher Beruf sei, und daß der ganze Törn auch für ihn den Charakter einer Urlaubsreise habe, und daß er sich noch überhaupt nicht den Ort angesehen habe. Ich erkläre ihm dann vor versammelter Mannschaft, daß sich aus seiner Funktion, die sich ausschließlich durch uns finanziere, kein Anspruch auf einen bezahlten Landurlaub ableite.
    Wir verbringen nun notgedrungen bereits einen weiteren Tag in der Stadt der Schönen und Reichen, die sich hier besonders wohlzufühlen scheinen. Den ganzen Tag über scheint die Sonne prall vom Himmel, und im Ort gibt es nach nur zwei Stunden nichts mehr, was noch einmal anzusehen sich lohnen würde. Die kleinste Kleinigkeit ist sündhaft überteuert, was einem den Aufenthalt ein wenig verleidet, noch dazu, weil die meisten doch immer über die zu hohen Preise jammern. Ihnen scheint zu gelten: dabei sein ist alles. Obwohl wir alle keinen Landurlaub gebucht haben, nehmen etliche die Gelegenheit wahr, sich für einen Landausflug abzusetzen und dem Segeln fürs erste Lebewohl zu sagen. Dabei ist die gesamte Umgebung der Stadt kahl, und außer in der Sonne zu verbrennen ist die einzige Alternative, im Schatten der Häuserzeilen Bier zu trinken oder Eis zu essen oder einfach nur am Strand zu liegen.
    Als der Tag sinnlos vergeudet ist, begebe ich mich gegen Abend in den Supermarkt, um die übernommenen Einkäufe zu tätigen. Mit Tüten vollbepackt, schaffe ich den Weg gerade noch zum Hafen, ehe die Plastiktüten reißen. Als ich mit "verlorener Ladung" am Steg auf Unterstützung warte, sind die übrigen gerade beim Wasserauffüllen im Fischereihafen zugange. Außer Skipper und zweitem Offizier befindet sich der ganze Rest der Mannschaft bereits an Land und sieht den beiden gespannt beim Ablegen zu. Wenigstens einer an Bord, wird mir später berichtet, scheint im vorhinein bemerkt zu haben, daß sich ein Tampen in der Schiffsschraube oder im Ruderblatt verfangen hat. Nachkontrolliert habe man die Freigängigkeit des Ruders aber nicht, wird mir gesagt. Somit stellt sich unmittelbar beim ersten Gasgeben heraus, daß die Vermutung berechtigt war und sich tatsächlich etwas verheddert hat, was uns nunmehr, wie jeder sehen kann, am Ablegen hindert. Durch die Kraft voraus wird die Leine, mit der die Boje, die sich im Ruder vertörnt hat, an der Kaimauer befestigt ist, gespannt und reißt unter dem Zug. Bis jetzt kümmern sich weder Schiffsführer noch sein zweiter Offizier, obwohl sie beide am Ruder stehen und alles direkt aus nächster Nähe miterleben, um den Schaden, den sie angerichtet haben, noch um den möglicherweise am eigenen Schiff entstandenen Schaden. Offenbar scheut jeder der beiden sich, in dem mit einem Hauch von Ölfilm überzogenen Hafenbecken unter die Schiffsschraube zu tauchen und das Ruderblatt von dem Fremdkörper zu befreien. Nachdem nun das Steuer nicht mehr freigängig bewegt werden kann, ist auch die Manövrierfähigkeit des Fahrzeugs nicht mehr gegeben oder doch zumindest stark eingeschränkt und es treibt hilflos im äußerst engen Hafenbecken. An Bord läuft der Skipper konfus, ohne recht zu wissen, was zu tun sei, von einem Ende des Bootes zum andern, während sich am Kai eine Menge Schaulustiger versammelt hat, die das Theater, das sich vor ihren Augen abspielt, Beifall klatschend verfolgt oder mit Hohn bedenkt. Wir, die restliche Crew, stehen, ebenso Maulaffen feilhaltend wie beschämt, im Bad der Menge und können nichts tun, was die Situation retten würde. Unser Schiff, für das wir gemeinsam die Verantwortung tragen, treibt nun gänzlich hilflos und manövrierunfähig im Hafenbecken zwischen den anderen Yachten und Fischerbooten, bis der Skipper schließlich auf die glorreiche Idee kommt, seinen Stellvertreter abtauchen und nachsehen zu lassen, wie es guter Seemannsbrauch schon längst erfordert hätte. Nachdem das Hindernis am Unterwasserschiff nach einer guten halben Stunde der Ratlosigkeit und Entschlußlosigkeit endlich beseitigt ist, gelingt es unserer Restcrew schließlich, daß Boot in Rückwärtsfahrt aus dem Hafenbecken hinauszumanövrieren und den Blicken der Gaffer zu entziehen. Die Unseren legen ab, ohne sich um die Festmacherleine zu kümmern, die sie an Land zurückgelassen haben. Meine Aufgabe während des gesamten Manövers bestand darin, denn zu nichts anderem wurde ich eingeteilt, die abgerissene Leine mit einem doppelten Schotstek wieder an der Mooringleine zu befestigen. Nachdem der Knoten schon richtig gelegt war, läßt mich der Skipper, vom Boot aus zusehend, vor den Augen der Zuschauer diesen wieder lösen und anders stecken, woraufhin er aufgeht und uns gemeinsam der Lächerlichkeit preisgibt. Seine Entscheidung widerrufend, läßt er mich den Knoten wieder wie vorher stecken, woraufhin er sich denn auch tatsächlich zuzieht. Während mir persönlich das Vorgefallene, wessen uns die Schiffsführung preisgegeben hat, äußerst peinlich ist, scheinen die zwei Vorderen eher noch stolz auf sich zu sein, weil sie die Situation so trefflich gemeistert haben. Jedenfalls scheint das Vorgefallene mit ihrem Selbstgefühl vereinbar, oder aber sie kennen keine Scham, jedenfalls freuen sie sich wie glückliche Kinder, noch einmal mit dem Schrecken davongekommen zu sein.
    Am vereinbarten Ort des Abendessens treffen wir dort, wo wir uns verabredet haben, unsere drei Verbliebenen nicht an, obwohl ich dem Skipper laut und unmißverständlich gesagt zu haben glaube, welches Restaurant wir aufsuchen wollten, und daß wir dort auf sie warten würden. Über die glücklichen Umstände des Tages wird nun reichlich Wein vergossen, und es dauert im Anschluß an die Sperrstunde eine Ewigkeit, bis das Beiboot, dessen Tank wir leergefahren haben (offenbar weil keiner sich vorstellen konnte, daß jeder Treibstoff einmal zur Neige geht) mit Ruderkraft zurückkommt. Es gehört meiner Meinung nach zur sorgfältigen Schiffsführung, sich nicht nur um die Belange der Yacht zu kümmern, sondern sich ebenso gewissenhaft des Beibootes anzunehmen. Aber um Treibstoff betteln will natürlich auch keiner von uns, so daß wir, unschlüssig an der Kaimauer stehend, lieber zuwarten, ehe wir uns spät in der Nacht übersetzen lassen. Der Skipper schlägt sich in einer der Hafenkneipen die Nacht um die Ohren und läßt sich erst frühmorgens, nach durchwachter Nacht, mit dem Dingi abholen, um sich erst einmal richtig auszuschlafen, denn zur Schiffsführung ist er wohl nicht in der Lage, während die übrigen, sehr zur allgemeinen Unzufriedenheit, in dieser Zeit ausharren müssen. Dieser Umstand gibt offenbar einem Teil der Crew den Rest, sie kann dem Skipper nicht weiterhin das Vertrauen aussprechen und beschließt, abzuheuern und das Boot zu verlassen. Nun entzünden sich nicht enden wollende Diskussionen um die Verantwortung eines Schiffsführers. Diesem wirft man vor, die Yacht in ein Gewitter hineingesteuert zu haben, ohne die Crew Schwimmwesten anlegen zu lassen. Zweitens habe er ein Hafenmanöver durchführen lassen, bei dem angeblich die Sicherheit des Schiffes nicht mehr gegeben gewesen sei, und drittens habe er übernächtigt und unter Alkoholeinfluß ablegen wollen. Ausgerechnet der Teil der Mannschaft, auf dessen Seite er sich in den letzten Tagen geschlagen hatte und um dessen Gunst er entsprechend gebuhlt hatte, hat ihn nun verraten und gedenkt, rechtliche Schritte gegen ihn zu unternehmen. Unter den von Bord Gehenden befindet sich auch das Pärchen, das sich bereits von Anbeginn an unter einem Segeltörn etwas ganz anderes vorgestellt hatte, als er eigentlich ist. Der Dritte im Bunde ist der Bruder des einen, der zwar aus eigenem Antrieb nicht abgeheuert hätte, sich aber unter dem verwandtschaftlichen Druck seiner Loyalität ihm gegenüber nicht entziehen kann. Letzerer gibt aber ein gar klägliches Bild ab, beruft sich auf seine Mutter, die ein reiner Gefühlsmensch sei und die seinem Bruder ewige Vorwürfe machen würde, wenn ihm tatsächlich etwas zustoßen sollte. Ich meine dazu, daß er seine Eltern nicht zu beunruhigen brauche und durchaus eine Notlüge gebrauchen dürfe, damit die Mutter sich nicht unnötig ängstige. Aber jener besitzt nicht einmal dazu die Kraft, fast weinenden Auges gibt er zu verstehen, daß er noch nie gelogen habe und dies auch nicht fertigbrächte, sondern immer nur, damit nicht das Vertrauen in ihn verlorenginge, die volle Wahrheit sagen würde. Einige von uns sind sichtlich froh, als die drei nach längerem Herumprobieren, wie sie einen passenden Eintrag fürs Logbuch formulieren könnten, endlich von Bord gehen. Sie wären allesamt in ihrer weinerlichen Art zu einer Belastung für uns alle geworden, zu einer noch größeren, als es der Skipper ist.
    Und wie es in solchen Situationen meistens geht, vollzieht letzterer nun innerhalb der Mannschaft eine Kehrtwende und sucht bei denen Zuflucht, gegen die er zuvor Partei ergriffen hatte. Er ersucht uns gnädig darum, wir möchten ihm doch bitte unser weiteres Vertrauen aussprechen, was wir ihm ohne weiteres und mit Recht verweigern könnten. Dabei stößt er noch die Drohung gegen uns aus, er würde eine Mannschaft, die Sicherheitsbedenken gegen ihn trage, verlassen, und er droht sogar damit, die Reise andersherum fortzusetzen zu wollen, wogegen ich mich von Anbeginn an gesträubt habe. An dieser Stelle ist die ganze Kunst der Diplomatie gegen ihn aufzubieten. Die ausdrücklich von ihm geforderte schriftliche Bestätigung, wonach wir uns mit seiner ganzen Art der Schiffsführung einverstanden erklärten, wird uns förmlich aufgezwungen, womit sich denn auch die unter Zwang geleistete Unterschrift als vollkommen wertlos erweist. Obwohl wir durchaus um die Sicherheit des Schiffes besorgt sind, wagt keiner es, sich offen gegen ihn auszusprechen, und mit tiefgestapelten Verharmlosungen und an den Haaren herbeigezogenen Argumenten sprechen wir ihm gemeinschaftlich mehr oder weniger doch unser aller Vertrauen aus, wohl weil die meisten von uns soviel Zutrauen in sich selbst besitzen, daß sie glauben, im Ernstfall auch ohne ihn zurechtzukommen. Noch weiß keiner von uns, ob er diesen Schritt nicht in nächstem wieder zu bereuen hätte. Auf jeden Fall lassen ihm alle noch an Bord Verbliebenen eine gehörige Portion Mitleid zuteil werden, die in meinen Augen eigentlich als nicht gerechtfertigt erscheint. Wie darf jemand, der anderen ein absolutes Alkoholverbot auferlegt, bei sich selbst eine andere Meßlatte anlegen und vorsätzlich dagegen verstoßen?
    Mit der neuen Situation ändert sich schlagartig einiges an Bord, vorrangig die Mehrheitsverhältnisse, die nun nicht mehr auf seiten der Schwachen liegen, sondern bei den Starken, die höheren Belastungen gewachsen sind als unsere Hungerleider. Mit nur fünf Mann an Bord läßt eine Yacht sich wesentlich schwieriger bedienen als mit acht, es fehlen plötzlich sechs freie Hände, die nicht in allem hinderlich waren. Die Freiräume schrumpfen hingegen zusammen, jeder von uns wird rund um die Uhr für irgend etwas gebraucht. Ich, der ich bisher nur ungern am Ruder gesehen war, darf plötzlich Anker- und Anlegemanöver fahren. Allein daran kann man erkennen, wie sehr manche Menschen sich doch selbst überschätzen und ein Selbstbewußtsein zur Schau tragen, das ihnen gar nicht ziemt. Die Restmannschaft hält nun auch besser zusammen, weil man mehr aufeinander angewiesen ist als vorher, wo man sich demjenigen am meisten zugesellen konnte, der einem geistig am nächsten stand. Viele Lösungen werden nun gemeinsam erarbeitet und auch von allen mitgetragen. Wieder einmal hat es sich bewahrheitet, daß eine Frau an Bord für viel Verstimmung unter der Crew sorgen kann, denn letztlich gingen die meisten Querelen eindeutig von ihr aus. Wir sind nun ein reiner Männertörn geworden, und vieles geschieht jetzt nur noch den Gesetzen der Logik unterworfen.
    Abends, nach dem Abendessen, diskutieren wir auf Wunsch des Skippers noch einmal ausführlich die drei Ereignisse, die unsere Kameraden veranlaßt haben abzuheuern. Letztendlich erkennt die Crew an, daß dem Skipper kein grobfährlässiges schuldhaftes Verhalten angelastet werden kann, und wir erklären einvernehmlich, daß unsererseits keine Sicherheitsbedenken bezüglich der Führung des Schiffes bestehen. Ich für meinen Teil schließe mich der Eintragung ins Logbuch nur halbherzig an, weil meinerseits zwar weniger Bedenken wegen einer tatsächlichen Gefahr für Leib und Leben der Besatzung bestanden, wohl aber Zweifel daran, ob dem Skipper, falls wir einmal einer wirklich kritischen Situation ausgesetzt sein sollten, nicht eine wesentliche Eigenschaft fehlt, die zur sicheren Führung eines Schiffes befähigt. Ich denke, der Mann hat insgesamt viel zu wenig Erfahrung für die von ihm wahrgenommene Aufgabe und ist noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Da wir aber, zumindest für die nächsten drei Tage, vielleicht sogar bis zum Ende der Reise, weder starken Wind noch schlechtes Wetter zu befürchten haben, sehe ich keine akute Gefahr im Verzug.
    Mit Verlassen Calvis treten wir nun die Fahrt längs des schönsten Teils der Westküste an. Da nur ein sehr schwacher Wind weht, wird auch an diesem Tag der größte Teil des Wegs unter Motor zurückgelegt. Wir könnten wegen der schwachen Windverhältnisse leicht noch wesentlich dichter unter die Küste gehen, die bis Porto, unserem heutigen Tagesziel, fantastische Formen annimmt, und uns entlang den Klippen vorantasten. Bizarre rote Felsgebilde, einmal scharfkantig, dann wieder rund, nehmen nun die Ufer ein. Das Gestein enthält wohl reichlich Eisenverbindungen, die ihm seine rote Farbe verleihen. Ausnehmend schön nimmt sich der der Bucht von Porto vorgelagerte Golf von Girolata aus. Dieser, als eine der schönsten Ankerbuchten Korsikas geltende, geschützte Hafen wird von einem alten genuesischen Fort bewacht, hinter das sich das alte Fischerorf duckt, das in seiner Ursprünglichkeit erhalten werden soll. Es liegt zu Füßen eines Naturschutzgebiets. Bis zu fünfzig Yachten finden hier einen Liegeplatz, den man nur dann wieder verlassen sollte, wenn der Wind direkt hineinsteht, da ansonsten leicht "Ankersalat" entsteht.
    Spät wie immer nehmen wir unser Abendbrot ein, welches in Anbetracht der fehlenden Kochkünste zumeist aus einem Nudelgericht mit Tomatensoße besteht. Ein einlaufender Schwell sorgt an diesem Abend dafür, daß mir die noch halbgefüllten Teller entgegenrutschen und sich über meinen Beinen entleeren. Die mit Rotwein vollgefüllten Gläser kippen um, so daß der ganze verschüttete Wein bis über beide Waden perlt. Somit bleibt mir an diesem Tag eine zweite unfreiwillige Ganzkörperreinigung mit Meerwasser - denn die Süßwasserduschen dürfen wegen des notorischen Wassermangels nicht benutzt werden - nicht erspart. Überhaupt ist an diesem Schiff nahezu alles defekt und marode. Der Anker läßt sich wegen eines Wackelkontakts nur noch mit der Winsch einholen. Beim Ansaugen des Wassers mit dem Brausenschlauch geht dem Skipper die Dichtung verloren, so daß das Waschbecken ab jetzt nicht mehr zum Händewaschen benutzt werden kann. Zudem täuscht die Füllstandsanzeige eine erhöhte Tankfüllung vor, was eigentlich nicht sein kann, da wir bei dem ständigen Motoren nicht so wenig Treibstoff verbraucht haben können. Dazu gesellen sich Versäumnisse beim Einkaufen. Wir haben keine Küchentücher und keine Servietten mehr, so daß wir zum Abwischen Toilettenpapier verwenden müssen. Die Undiszipliniertheit der Mannschaft im Umgang mit Reserven hat zur Folge, daß den Stauraum an Deck acht angebrochene Wasserflaschen aufbrauchen und wir an diesem Tag nur schales und abgestandenes Wasser zu trinken bekommen.
    Trotz spiegelglatter Wasseroberfläche müssen wir wegen der Enge des Ankerraumes Ankerwache gehen. Die Nächte kühlen auch schon wieder merklich ab. Am wolkenlosen Himmel leuchtet der zunehmende Mond in sternklarer Nacht. Gegen vier Uhr versinkt er blutrot über dem Meer. Ein hell erleuchtetes Fenster oben auf dem Fort erweckt den Eindruck, als ob dieses bewohnt sei, was sich aber als Illusion erweist. Als der Morgen graut, ist der Spuk vorüber. Lautlos baumeln die Masten im Wind, und einzig die Ankerlichter verbleiben am verblassenden Sternenhimmel wie helle Wandelsterne. Fahl und grau wirkt das Szenario des aufkeimenden Tages, und als die Sonne dem zerklüfteten Fels das erste Rot abgewinnt, legen wir nach Einholen des Ankers ab und gewinnen rasch an Fahrt in Richtung Porto. Die gesamte Bucht zeigt sich bei glitzerndem Gegenlicht in ihrem morgendlichen Nebelgewand. Tief sitzt der Dunst auf dem Wasser, und draußen über dem Meer tauchen die Wolken einer sich ankündigenden Kaltfront auf. Den pisanischen Wehrturm über dem Fischerort sehen wir nur schemenhaft, als Schatten gegen den sich abzeichnenden Hintergrund, und auch die reizvollen Gipfelformationen wirken eher wie ein Schattenspiel an einem langweiligen Sonntagmorgen. In bezug auf ein beeindruckendes Landschaftserlebnis, welches man hier generell nur für die Abendstunden erwarten darf, wenn die Sonne im Westen steht und die Bucht voll ausleuchtet, bringt uns die Ansteuerung des Hafens von Porto wegen des ungünstigen Sonnenstandes nicht viel. Somit halten wir uns hier nicht länger auf und nehmen Kurs Richtung Ajaccio.
    Als ich während der Fahrt die Navigation nachprüfe, stelle ich fest, daß sich der Steuermann an die Einhaltung vorgegebener Kurse wenig gebunden fühlt und weitgehend eigenmächtig steuert. Der Skipper ruft nach nunmehr einer Woche auf See den einen oder anderen noch immer beim falschen Namen an, etwas peinlich auch, wenn die vermeintliche Person schon längst von Bord gegangen ist, im Gehirn aber immer noch festsitzt. Überhaupt gilt es festzustellen, daß Studierte häufig keinen Bezug zu ihren Mitmenschen haben, weil sie ihnen offenbar gleichgültig gegenüberstehen, was die Betreffenden, etwas perfide zwar, häufig mit ihrem schlechten Namensgedächtnis zu entschuldigen suchen.
    Das Teilstück, welches wir nun bis nach Ajaccio zurücklegen, ist landschaftlich nicht gerade als absoluter Höhepunkt zu bezeichnen, da die Berge zurücktreten und weniger majestätisch sind, doch gibt es immer noch steile Ankerbuchten genug, die wir aus Zeitgründen allerdings an Backbord liegenlassen. Das Wetter ist zwar schön, wenngleich dunstig, aber das Meer ist flach und der Wind schwach. Als wir in den Golf von Ajaccio einlaufen, fahren wir auf Amwindkurs. Über dem Ort liegt ein Fort, das gut die Hafeneinfahrt einsehen kann. Der eigentliche Hafen ist ebenso durch ein Fort geschützt. Beim Anlegen in Ajaccio entspannt sich wieder dieselbe Unsicherheit des Schiffsführers, da dieser nicht zu wissen scheint, wie man mit Achterleine und Achterspring festmacht. Unschlüssig stehen wir mit Fendern in Händen über eine halbe Stunde an Deck herum und nehmen seine wechselnden Anweisungen entgegen, während er das Schiff mit irgendwelchen Leinen seitlich verholt und diese auf den Klampen zu wahren Knäueln belegt, für welche letztere gar keinen Platz bieten. Dabei gelingt es ihm eine Ewigkeit lang nicht, achtern soviel Abstand zu geben, daß zum Schutz des Hecks ein Fender ausgebracht werden könnte, der das Boot davor schützt, auf den Steg zu laufen. Man kann es drehen und wenden, wie man will, es ließe sich beliebig hinterfragen, ob nicht doch eine Eigenschaft fehlt, die zur Führung eines Schiffes erforderlich ist. Erneut nämlich wird unser Anlegemanöver von den Umstehenden mit Skepsis und Häme begleitet.
    Ajaccio läßt uns noch einen Tag in einem Hafen liegen, wir können ausschlafen und die Spuren der letzten Ankerwachen, die wir, da wir jetzt nur mehr einige wenige sind, häufiger gehen müssen, beseitigen, bevor wir dann nach einem letzten Ankermanöver bei Bonifacio in einem Schlag nach Elba übersetzen wollen. Die Restmannschaft ist jetzt insgesamt harmonischer geworden. Männer können viel vernünftiger miteinander umgehen, als wenn Frauen dabei sind, die folgerichtigen Abläufen weit weniger Gehör schenken und sich auch oft nicht in der gebührenden Zurückhaltung üben. All das hat die bisherige Törnerfahrung wieder bestens bestätigt. Freilich erleben wir nun kaum noch Bewegung. Dies ist der Preis, den man dafür zahlt, denn es gibt entsprechend weniger zu berichten. Auf jeden Fall hat jetzt jeder von uns seine Einzelkabine und könnte sich dorthin auch jederzeit zurückziehen, falls er Abstand braucht, denn die Gereiztheit der verbliebenen Crew-Mitglieder nimmt von Tag zu Tag zu. Man glaubt es nicht, über welchen Themen sich Streitigkeiten und Rechthabereien entfachen können. Da stört den einen das stündliche Piepsen meiner Uhr, weil es ihm wie ein Alarmsignal vorkommt. Der zweite belehrt mich, was heute eigentlich jedes Kind weiß, daß man die Zähne nach dem Essen putzt, und nicht davor, wenngleich er sich selbst auch nicht immer an diese Regel hält. Dem einen schmeckt das Essen nicht, der andere will Mineralwasser nur ohne Kohlensäure. Ein dritter achtet streng darauf, daß jeder seinen Teil und keiner ein Stück zuviel abbekommt. Wieder ein anderer glaubt, daß der Tisch viel zu früh abgeräumt wurde, und versteht den Wink mit dem Zaunpfahl nicht, daß er sich nämlich beeilen möge, weil uns ein langer Fahrttag bevorsteht. Der einzige noch verbliebene Vegetarier an Bord nötigt uns beständig dazu, für ihn eine Extrawurst zu braten, und so lebt jeder dieser Singles in seiner eigenen Welt, voll des egoistischen Glücks, ohne Rücksicht auf andere und nicht fähig, sich in die Gemeinschaft einzufügen, dabei aber so von sich eingenommen und in dem Bewußtsein lebend, daß sein Weg der allein seligmachende sei. Die Reinlichkeit an Bord hat abgenommen, Gerüche machen sich breit. Einer beobachtet, daß ein anderer sich zuwenig engagiere, der dritte möchte die Hafengebühren einsparen und lieber Nachtwache schieben. Wieder ein anderer hält es für zwingend, die Tanks erst dann aufzufüllen, wenn wirklich alles Wasser verbraucht ist, denn es könnte ja noch ein weiterer Liter mitgenommen werden, geradezu, als ginge die Reise über den Atlantik.
    Am Morgen wollen wir vor der Abfahrt noch Diesel aufnehmen, obwohl der Teibstofftank noch mehr als zur Hälfte voll ist. Es herrschen ideale Bedingungen für einen Schönwetteranleger. Das Steuer darf nun ich übernehmen. Nach völlig überflüssigen Rundfahrten im Hafenbecken bekomme ich irgendwann gesagt, daß ich in langsamer Rückwärtsfahrt an der Tankstelle anzulegen hätte. Das Anlegemanöver, wie es auszusehen habe, wurde vorher bereits besprochen. Obwohl nichts dagegen spräche, längsseits an den Steg zu gehen, entscheidet der Skipper, über Heck anzulegen. Weder rechts noch links von uns liegen jedoch Boote, an denen wir uns abfendern könnten. Während ich achteraus fahre, faßt mir der Skipper in einem Anflug von Nervenschäche unvermutet ins Ruder und korrigiert die Fahrt entsprechend seinen Vorstellungen, so daß eigentlich er das Anlegemanöver gefahren ist, während ich achselzuckend daneben stehen und seinen Ausführungen lauschen darf. Ein solches Erlebnis hinterläßt bei einem Segelanfänger das Gefühl des Versagens, bei einem fortgeschrittenen Segler, der sich sicher war, daß er das Anlegemanöver auch ohne fremden Eingriff zustande gebracht hätte, bloß eben dem eigenen Temperament entsprechend (so wie auch zwei Motorradfahrer sich unterschiedlich stark in die Kurve legen), ein Gefühl der Ohnmacht, weil man, ohne eine faire Chance gehabt zu haben, seine Sache gut zu machen, vor den anderen bloßgestellt worden ist – vermeidbar. Nachdem wir senkrecht zur Kaimauer zu liegen gekommen und die beiden Achterleinen ausgebracht worden sind, driftet das Schiff über Bug weg und legt sich längsseits, so daß einerseits das Heck der ständigen Gefahr ausgesetzt ist, mit der Kaimauer in Berührung zu geraten, und andererseits der Bug in gefährliche Nähe zu einem Nachbarschiff kommt, so daß dieses nur noch mit dem Bootshaken auf Distanz gehalten werden kann. Wieder war eine Situation herbeigeführt worden, die den Gesetzen guter Seemannschaft zuwiderläuft. Bei der anschließenden Besprechung des Anlegemanövers stellt unser Skipper den Ablauf als weitgehend gelungen dar, obwohl es in meinen und wohl auch den Augen einiger anderer als ein voller Mißerfolg gewertet werden muß.
    Unsere Weiterfahrt führt nun, aufgrund des schwachen Windes unter Motor, entlang der korsischen Südwestküste Richtung Bonifacio. Die Berge werden dort zusehends flacher, landschaftliche Reize fehlen beinahe völlig, denn die Küste ist einerseits nicht so steil, daß sie für eine Klippenküste gelten könnte, andererseits nicht flach genug, daß man sie als Strandküste ansprechen könnte. Die Berge sind unbewaldet und weisen keine markanten Erhebungen oder spektakulären Formen mehr auf wie weiter nördlich. Mit mäßigen Winden, die meist aus Nordwest wehen, segeln wir die korsische Küste südwärts, wo wir kurz vor Bonifacio die Bucht von Figari anlaufen, die schwierig anzusteuern ist und für ihre Untiefen berüchtigt, dafür aber ausgezeichneten Schutz bietet. Zunächst müssen wir unter 8° rechtweisend zwischen den beiden Fahrwassertonnen hindurch, den genuesischen Wachturm ansteuern und dann unter 223° rechtweisend den Felsen St. Jean über den Magnetkompaß peilen. Die gefährlichste Stelle ist eine Untiefe von nur 0,7 m. Dramatisch gestaltet sich das Einlaufen. Wir haben an der seichtesten Stelle nur noch 20 cm Wassertiefe unter dem Kiel. Es gibt in dieser Bucht, die sich fjordartig ungefähr eine Seemeile landein erstreckt, das Inselchen Ilot du Port, hinter der die geschütztesten Ankerplätze liegen, die allerdings für höchstens fünf mittelgroße Yachten ausreichen. Als der Wind einmal gedreht hat, berührt das Ruder den Boden. So etwas hätte nicht passieren dürfen! Wir verholen das Boot etwas weiter weg vom Land in tieferes Wasser, so daß es ausreichend Schwojraum hat.
    Die Bucht von Figari ist einzigartig unter den Buchten im Süden Korsikas. Rundherum ziehen sich flache felsige Ufer hin, die gegen das Land in Sumpfgebiete münden. Die Gestade am Meer sind von grüner Macchia überwuchert, während sich dahinter die Berge nochmals in Höhen von bis zu 1300 Metern aufschwingen, gleichsam eine Barriere bildend, über die abends Landwinde herabstürzen. Die Bucht ist voll mit Masten, und als das Abendrot auf der unbewegten Wasseroberfläche liegt und das Meer glutrot färbt, leuchten die ersten Ankerlichter auf. Noch landen über unsere Köpfe hinweg die Flugzeuge, denn die langgestreckte Bucht ist zugleich Einflugschneise für den nahegelegenen Landeplatz. Es gibt keine Restaurants am Ufer, die die Idylle stören könnten, so daß auf allen benachbarten Yachten reges Leben herrscht. Das Wasser in der seichten Bucht hat Badewannentemperatur, und im Schlick der Untiefen ringsum stehen die Fischer und bringen ihre Gerten aus. Als der Abendstern in der lauschigen Nacht sich unter die anderen Sterne mischt, sind die weißen Rümpfe der vor Anker liegenden Yachten das erste, was im hellen Mondschein aufleuchtet.
    In dieser Nacht habe ich folgenden Traum: Mir träumte, unser Schiff sei eine vollgelaufene, im Meer treibende Badewanne. Als ich mich seitlich auf deren Rand setze, auf dem auch die anderen sitzen, wird dieses Gefährt, dadurch daß mein Gewicht hinzugekommen ist, plötzlich instabil und kippt seitlich weg. Wir alle werden fortgespült, einzig ich, der ich eine Schwimmweste trage, bleibe über Wasser. Von den anderen sehe ich weit und breit keinen mehr. Nachdem ich kurz vor Antritt meiner Ankerwache unsanft aus dem Schlaf gerissen worden bin, sehe ich beim ersten Blick durch die Luke das Sternbild der Cassiopeia über mir. An Deck schlägt mir eine frische Brise entgegen, und noch steht das Sternbild Orion über dem Horizont. Im Westen geht gerade der Mond unter, während er seine letzten orange leuchtenden Strahlen auf die Bucht wirft. Ganz ruhig, beinahe ohne jedes Schaukeln, liegt unser Boot vor Anker. Als er untergegangen ist, verschwinden die hellen Bootsrümpfe wie Schatten im Nebel, und der Sternenhimmel entfaltet noch einmal kurz seine ganze Pracht, bis beim ersten Hahnenschrei der Morgen zu grauen beginnt. Erstmals sind nun Wolken aufgezogen, und zu den Stimmen der Bucht gesellt sich das Plätschern der Wellen am Heck, das Schreien der Möwen und das Motorengeräusch der ersten auslaufenden Boote. Vogelschwärme ziehen über uns hinweg, und das rhythmische Schlagen der Wanten verklingt unter dem Gezwitscher der Vögel beim Erwachen des Tages. Nur kurz leuchtet das Morgenrot auf und macht schnell der aufsteigenden Sonne Platz. Auf den Nachbarbooten kehrt bereits geschäftiges Treiben ein. Nur die Unseren liegen noch trunken in bleiernem Schlaf, den selbst das Kreischen der Möwen nicht zu stören vermag. Erst das Pfeifen des aufgesetzten Wassers, der Duft frischen Kaffees, der in die Nasen dringt, vermag die Müdigkeit zu bannen, den Schlaf zu vertreiben.
    Frühmorgens, kurz vor dem geplanten Ablegen, zeigt das Log nur mehr eine Wassertiefe von etwa einem Meter, der Grund wird sichtbar, und das heißt, daß wir das Ablegen nicht ohne Not weiter hinauszögern dürfen, weil uns der Wind sonst gegen das Land treiben würde. Die Mannschaft wird also in Eile zusammengetrommelt, wie immer in Hektik versetzt, und ein hastiges und nervöses Ablegemanöver durchgeführt. Das Rudergehen bleibt mir überlassen, ob allerdings als Ausdruck des Vertrauens, sei dahingestellt. Während der Anker eingeholt wird, geraten wir in gefährliche Nähe zu einem Nachbarschiff. Skipper und Coskipper geben dabei entgegengesetzt lautende Ruderkommandos, und die des Schiffsführers befolgend, fällt mir diesmal der Coskipper ins Ruder, so daß sich mir die Frage stellt, wer hier eigentlich das Schiff führt. Seit Tagen schon beobachte ich, daß sich die beiden nicht immer einig sind, worunter natürlich massiv die Schiffsführung leidet. Warum am Ende ich das Lob erhalte, daß ich uns so souverän aus den Untiefen herausgesteuert habe, entzieht sich meiner Nachvollziehbarkeit. Offenbar, weil ich einen Kompromiß aus den gegenläufigen Richtungsweisungen eingegangen bin, ohne weder den einen noch den andern zu sehr zu mißachten. Interessant wäre in dieser Situation, wie ein solches Verhalten im Schadensfall vor einem Seegericht ausgelegt würde. Ich denke, daß man nur dann von jeder Schuld freigesprochen werden kann, wenn man in jedem Fall den Anweisungen des Schiffsführers Folge geleistet hat, mögen diese auch noch so verkehrt gewesen sein. Erstmalig erlebe ich, was wohl auch einmalig sein dürfte, daß es zwei erklärte Schiffsführer auf einem Boot gibt, was völlig den Rechtsvorschriften auf See zuwiderläuft. Im Gesetz heißt es, daß die Crewmitglieder vor Antritt der Reise zu bestimmen haben, wer verantwortlicher Schiffsführer ist. Auch wenn ein stellvertretender Schiffsführer benannt worden ist, trägt die Verantwortung für das Schiff sowie für die Sicherheit von Leib und Leben aller an Bord befindlichen Personen stets nur der verantwortliche Schiffsführer. Das eine aber ist gewiß: Im Schadensfalle würden die beiden sich gemäß unserem Crewvertrag gegen den Mitsegler verschwören.
    Da wir gestern dem Schutzheiligen der Seefahrer, namens Rasmus, geopfert und ihn um gute Winde angefleht haben, ließ er uns in der Tat nicht im Stich, denn heute herrschen die besten Winde seit Anbeginn des Törns. Wir messen bis zu 25 Knoten Windgeschwindigkeit und machen damit etwa 9 Knoten Fahrt über Grund. Die Wellen erreichen stellenweise ein Höhe von über 1 m. Es ist schwer, bei halbem Wind und quer einlaufender Dünung den Kurs zu halten, zumindest erfordert es körperliche Anstrengung, da das Ruder einen gewaltigen Druck verspürt. Nach einigem Halbwindsegeln kreuzen wir vor Bonifacio auf, welches an der gleichnamigen Meerenge zwischen Korsika und Sardinien liegt. Dieses Bonifacio ist ein ganz außergewöhnlicher Ort. Es liegt steil wie ein Schwalbennest hoch über der von Grotten ausgehöhlten Küste. Selbst Schiffe dürfen sich bei wenig Wellenschlag in diese Grotten hineinwagen. An der schmalen Hafeneinfahrt von Bonifacio, die sich wie ein Fjord hinzieht, herrscht reger Ein- und Ausgangsverkehr, so daß höchste Aufmerksamkeit geboten ist. Auch Fähren fahren in diesem Schlund ein und aus, und an seinem Ende liegt der Yachthafen. Wir staunen nicht schlecht ob der Besonderheit dieses Ortes, blicken hinauf zu der hoch über uns liegenden Festung, die einer Trutzburg gleicht. In dem ganzen Hafenbereich wimmelt es nur so von Urlauberschiffen, so daß sich ein Gefühl des Entspanntseins nicht einstellen will. Wir drehen am Ende und fahren langsam im Kielwasser anderer Schiffe wieder aufs offene Meer hinaus.
    Nun laufen wir bei auffrischenden Winden in die Straße von Bonifacio ein, darin sich einige Inselchen befinden, die der Schiffahrt nur begrenzt Durchfahrtsmöglichkeiten bieten. Die Untiefen umschiffend und die Küste Sardiniens stets zum Greifen nahe, kreuzen wir auf, gehen hinter einem Großsegler her, bis wir die Meerenge verlassen haben. Das Sonnensegel müssen wir wegen der starken Winde wegnehmen, so daß wir voll der Sonne ausgesetzt sind. Gnadenlos brennt das Zentralgestirn auf uns hernieder. Doch wir an Bord sind guter Dinge, und unser großartiges Erlebnis führen wir weitgehend auf Rasmus' Einfluß zurück, dessen Gunst wir Wind und Wetter zu verdanken haben. Nachdem wir die Straße von Bonifacio durchquert haben, nehmen wir nördlichen Kurs auf Porto-Vecchio, eine gut geschützte, jedoch sehr seichte Ankerbucht, deren Ansteuerung ebensowenig trivial ist wie die der vorherigen. Das flache Fahrwasser zwingt uns dazu, mit höchster Wachsamkeit das Echolot zu verfolgen. Nachdem wir die Marina, die voll belegt ist, wieder verlassen haben, versuchen wir es den anderen Yachten gleichzutun und legen uns vor die Hafeneinfahrt. Doch währt unsere Freude dort nicht lange, denn der Wind beginnt aufzufrischen, wir treiben auf ein benachbartes Boot zu, dem wir gefährlich nahekommen. Also beschließen wir, uns an anderer Stelle in der weitläufigen Bucht einen besser geschützten Platz zum Ankern zu suchen. Aber auch dort sind Untiefen, so daß uns auch diesmal die Ankerwachen nicht erspart bleiben. Großartig ist die Bergwelt ringsum. Über zweitausend Meter hohe Berge und die angenehm milde Abendstimmung lassen die Bergketten um uns im weichesten Licht erstrahlen. Es ist die Idylle schlechthin, und als bei Einbruch der Dunkelheit der Vollmond aufgeht, ist wieder ein Tag voller Erlebnisse zu Ende gegangen.
    Die Nacht verläuft insgesamt ruhig, wenngleich der Wind mehrmals dreht, uns dabei auch aus dem Untiefenbereich heraustreibt. Als ich morgens um vier Uhr meine Ankerwache antrete, leuchtet der volle Mond vom wolkenlosen Himmel herab und verwandelt die ganze Bucht in einen silbern glitzernden Spiegel, auf dem sich die nahezu unbewegt vor Anker liegenden Yachten als einzige Schatten vor dem dahinterliegenden Porto-Vecchio abzeichnen. Die Festung über der Stadt ist hell erleuchtet, und hoch im Gebirge flackert, wie Hunderte brennender Fackeln, das Lichtermeer eines am Hang klebenden Bergdorfs. Ruhig und still liegt der Hafen, fast beklemmendes Schweigen herrscht auf den Ankerliegern ringsum. Welch ein Gegensatz zu den noch gestern bis tief in die Nacht hinein zu schriller Musik lautstark tobenden Gästen auf einem benachbarten Boot! Bis zum Erwachen des Morgens kämpfe ich gegen den Schlaf an, und pünktlich um 6 Uhr wecke die gesamte Mannschaft, damit wir frühzeitig aufbrechen können, denn heute steht uns ein größerer Schlag bis Elba bevor, welches wir noch vor Einbruch der Nacht erreichen wollen. Da wir den Göttern gestern nicht opferten, dürfen wir heute auch kaum mit günstigen Winden rechnen. Wer zur See fährt, möge wissen, daß der Meergott Neptun Wert darauf legt, daß man seiner stets gedenkt. Sind wir ihm doch gänzlich ausgeliefert! und es kann nie schaden, ihn sich gewogen zu machen und gnädig zu stimmen.
    Im fahlen Morgenlicht, als die Umrisse der Berge sich noch zart abzeichnen, laufen wir aus und nehmen Kurs auf Montecristo. Zwei markante Wehrtürme fallen noch auf, dann entschwindet die Insel im Dunst zunehmend den Blicken. Der Wetterbericht sagt nördliche Winde mit einer Stärke von zwei Beaufort voraus. Die vor uns liegende Strecke von Porto-Vecchio bis zur Südküste Elbas beträgt 100 Seemeilen. Bei der Geschwindigkeit, die wir gutmachen können, von 8 Knoten brauchen wir dafür 12-13 Stunden. Nachdem wir erst um 7.30 Uhr aufgebrochen sind, ließe sich Elba gerade noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Gleichzeitig war nämlich unsere Zielvorgabe, noch bei Helligkeit zu ankern. Mein Vorschlag, gar nicht erst nach Elba zu gehen, sondern die Nacht durchzusegeln und im Laufe des nächsten Morgens in Piombino, unserem Ausgangshafen, einzutreffen, kommt bei meinen Mitseglern nicht sehr gut an. Die meiste Zeit des Tages verbringen sie abgeschlafft in ihren Kojen, und ihre Ausdauer und Belastbarkeit hält sich in Grenzen. Die Möglichkeit einer Nachtfahrt wird gar nicht erst in Erwägung gezogen, lieber wird Tag für Tag Ankerwache geschoben. Das Log der Yacht zeigt stets eine um etwa 2 kn niedrigere Geschwindigkeit an, als wir sie laut GPS fahren, übrigens einer der vielen Mängel auf dieser Yacht, die bisher nicht behoben wurden, trotzdem daß sie bekannt waren. Obwohl wir also knapp mit der Zeit sind, sind die "beiden" Skipper offenbar der Meinung, daß wir an diesem Tag, der eigentlich nur dazu dient, Meilen gutzuschreiben, es uns leisten können, weitere Zeit zu verlieren, dadurch daß wir bei schwachem Wind von höchstens 2 Beaufort einen Teil der Strecke unter Segel zurücklegen. Lange Zeit bekommen wir die Insel Montecristo überhaupt nicht zu Gesicht, sie verbirgt sich hinter undurchdringlichem Dunst, der nur eine Sichtweite von weniger als 15 Seemeilen zuläßt. Da ist nun der Wunsch, daß sie schon aus 17 Seemeilen zu sehen sei, Vater des Gedanken, denn niemand, seien seine Augen auch noch so gut, sähe sich in der Lage, denen, die sie bereits gesehen haben wollen, zu widersprechen, weil diese wohl wissen, daß ihre Umrisse ohnehin demnächst aus dem Dunst auftauchen müssen. Rechthabern ist eben durch nichts der Wind aus den Segeln zu nehmen, ihre falschen Behauptungen können nur zugegeben werden. Somit erreichen wir die Insel Montecristo, die wir zunächst ansteuern, erst gegen 18 Uhr, also relativ spät. Des weiteren fahren wir nicht an der von der Sonne beschienenen Westseite der Insel entlang, wo im weichen Abendlicht die besseren Aufnahmen zu machen wären, sondern stecken unseren Kurs längs der dunklen, im Gegenlicht liegenden Ostseite ab.
    Montecristo ist eine nach allen Seiten schroff ins Meer stürzende Insel, die schon in der Antike als Verbannungsort galt, später dann als Sträflingsinsel herhalten mußte. Heute ist es bis auf wenige Naturschützer, die hier ab und zu vorbeikommen, unbewohnt, und man darf sich ihr höchstens auf 500 m nähern. Die Möglichkeit anzulegen besteht mangels Buchten gar nicht erst. Montecristo hat eine annähernd runde Form, ihre höchste Erhebung erreicht 645 m. Sie würde gute Möglichkeiten zum Klettern bieten, und ihr Anlick reizt zur Besteigung. Doch sind dies nichts als Träume. Was es allerdings mit dem berühmten Grafen von Monte Cristo auf sich hat, habe ich nie herausfinden können, denn der Schauplatz der Handlung in Alexandre Dumas' berühmten Roman ist Elba, und nicht Montecristo, und das Chateau d'If, in dem Dantès eingekerkert war, liegt bei Marseille. Schwarz und abweisend ist die Ostküste. Doch weil Verbotenes stets den größten Reiz auf den Menschen ausübt, können meine Mitsegler trotz Androhung von Strafe nicht darauf verzichten, sie sich aus geringerer Entfernung anzusehen. Wahrscheinlich nicht einmal dann, wenn sie wüßten, daß es ihnen wie Lots Frau erginge und sie bei ihrem Anblick zu einer Salzsäule erstarren müßten.
    Als die Sonne nur mehr eine Handbreit über dem Horizont steht, zeichnet sich im Dunst bereits die Insel Elba ab. Kaum daß sie untergegangen ist, taucht auch schon der Mond am Horizont auf. Wir steuern direkten Nordkurs und laufen auf den Golf von Stella zu, wo wir in der Punta Pareti vor Anker gehen wollen. Die Ansteuerung ist gänzlich unschwierig, doch scheinen unser Navigator und sein Schiffsführer Schwierigkeiten bei der Ortsbestimmung zu haben. Erstens laufen wir bei viel zu stark verringerter Fahrt in die Bucht ein, wobei zunächst vergessen wird, daß nachts ein Mann im Bugkorb Ausguck gehen und mit der Leuchte nach Hindernissen Ausschau halten muß, zweitens steigt die Wassertiefe nur ganz allmählich an, doch bereits bei 60 Metern Tiefe und einer Fahrt von lediglich 4 Knoten ist allein aus der Karte zu ersehen, daß die nächste kritische Tiefenmarke, 50 m, sich in frühestens 20 Minuten ergeben kann. Ich werde zur Ablesung der Wassertiefen eingeteilt, aber man scheint mir, obwohl ich durchaus des Lesens und Schreibens mächtig bin, vielleicht auch aus Angst, daß ich insgeheim den Untergang des Schiffes herbeisehnen könnte, nicht zuzutrauen, auf die Dezimalstelle genau ablesen zu können. Obwohl ich den Schiffsführer darauf hinweise, daß die nächste aufzusagende Wassertiefe noch weit entfernt liegt, ändert dieser an seinem Konzept nichts. Zuerst glauben wir, daß er die 60-Meter-Marke erreichen will, doch schließlich stellt sich heraus, daß eine geringere Tiefe im interessierenden Bereich gar nicht vorkommen kann. Schulmäßig trägt man in der Karte erst seinen Standort ein und trägt danach den zu steuernden Kurs ab, den man dann auch beibehält. Ich darf nun alle Meter die Wassertiefe laut aufsagen, bis meine deutliche Ansage schließlich doch als zu laut empfunden wird und der Skipper mir gebietet, doch bitte leiser zu sprechen. Doch woher soll einer wissen, ob die Informationen vom Heck bis in die Kajüte dringen, wo doch das Echolot direkt neben dem Ruder angebracht ist? Bei 10 Metern Tiefe bringen wir den Anker aus, wobei uns der Landwind von der Küste wegtreibt. Eine Ankerwache ist wieder einmal unumgänglich. Manchmal frage ich mich, welches Vertrauen die Eigner der umliegenden Boote in den Ankergrund haben müssen, daß sie ihre Gefährte unbeaufsichtigt das ganze Jahr über hier liegen lassen.
    Seit Ajaccio haben wir nicht ein einziges Mal mehr angelegt, um an Land des Körpers zu pflegen, und ich bin sicher, daß, wenn Frauen an Bord wären, wir spätestens jeden zweiten Tag irgendwo am Kai lägen. Mit dem überzeugenden Argument, daß wir uns die Hafengebühren sparen, wird jeder Wunsch nach mehr Reinlichkeit von der Mehrheit zurückgewiesen. Doch die sanitären Einrichtungen riechen bereits, und den Schweißgeruch von den Füßen empfindet man als äußerst unangenehm. Wieder ist ein Tag so knapp kalkuliert, daß für Körperpflege kaum Zeit bleibt. Meine derzeit größte Sorge ist daher, daß ich wie Ungeziefer in meinen Zug steigen muß, vom Hinterlassen der Kaution ganz zu schweigen.
    Als ich zur Frühschicht pünktlich geweckt werde, gegen 6 Uhr, steht der Mond noch voll am Himmel. In der Bucht herrscht bereits Leben. Gegenüber, am felsigen Ufer, haben die Angler ihre Leinen ausgeworfen und warten geduldig darauf, daß ein Fisch anbeißt. Wir haben in den vierzehn Tagen, die wir unterwegs sind, nicht einen Fisch gefangen. Das Wetter am letzten Tag der Reise ist genauso wie am ersten Tag, als wir an Bord gingen, trüb und nach Regen aussehend. Der Barometerdruck, der zwei Wochen lang stabil blieb, fällt seit gestern. Die Stationsmeldungen sagen aber keine starken Winde voraus. Mit Blick auf den Felsen Corbelli, der uns gestern Nacht so große Sorgen bereitet hat, stechen wir in See. Die Windrichtung ist günstig, so daß wir so gut wie die gesamte Distanz bis Piombino unter Segel zurücklegen können. Nördlichen Kurs steuernd, geht es an der Ostküste Elbas entlang, vorbei am Hafen von Porto Azurro, dessen Einfahrt von dem sternförmigen Fort Forte di Longone überragt wird, zwischen den Inseln Bataila und Centosa hindurch, bis wir auf dem Festland die häßlichen Schornsteine der Industrieanlagen sichten, wo früher die Erze aus Elba verhüttet wurden. Mit Windstärken von 10-12 Knoten machen wir eine Fahrt von über 4 Knoten, so daß wir bereits am frühen Nachmittag in der Marina von Salivoli an Land gehen können.
    Während mir an einer schnellen Rückkehr gelegen ist, wollen die anderen, die erst morgen heimreisen, den Tag noch einmal richtig dazu nutzen, um Segelmeilen gutzumachen, deren wir tags zuvor nicht so viele, als es hätten sein können, erworben haben, und das, obwohl sie wissen, wie dringend ich zum Zug muß. Dabei ist es ausgesprochen unklug, sich zu guter Letzt noch unter zeitlichen Druck zu bringen und sich, anstatt die Seereise entspannend ausklingen zu lassen, zum Schluß noch irgendwelche Fehler zu erlauben. Und in der Tat tritt, wie befürchtet, genau das ein, denn das Anlegemanöver gerät zu einem mittleren Desaster. Zunächst verfehlen wir die uns zugewiesene Box, treffen schräg und viel zu dicht auf den Landesteg auf, so daß abgefendert werden muß, um nicht dagegenzuschlagen. Die Leinenbelegung an den Pollern verläuft derart unkoordiniert, daß das Schiff eine Schräglage einnimmt und längsseits, nicht mehr manövrierbar, auf den Kai zutreibt, wo normalerweise drei Yachten Platz finden sollten. Nur der tatkräftigen Unterstützung des Nachbarliegers haben wir es zu verdanken, daß wir von seinem Schiff ferngehalten werden. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn niemand dort an Bord gewesen wäre, der uns herumgezogen hätte. Vorn am Bugkorb stehend, werden mir die widersprüchlichsten Kommandos erteilt, und nur meiner eigenen Denkleistung ist es zu verdanken, daß ich mich spontan für das richtige entscheide. Im Bugkorb hängend, stemme ich mich nach Kräften gegen das vorausliegende Schiff und versuche uns wegzudrücken, wobei ich mir einige Seitenhiebe ob der kopflosen Kommandos nicht verkneifen kann. In der Tat, wenn dieses unser Schiff ein Kriegsschiff wäre, so wäre es wahrscheinlich das erste, welches versenkt würde. Irgendwann in diesem Stadium der äußersten Hilflosigkeit erwischt der Vorschoter mit seinem Bootshaken die Mooringleine, an der wir uns schließlich wieder ausrichten. Bis zu diesem Zeitpunkt vergehen Minuten des Bangens, die uns wie Stunden vorkommen. Bei alldem wundert mich, wie die Mannschaft ihre eigene Unzulänglichkeit durch groteskes Lustigsein und heiteres Scherzen übertüncht. Doch ist dies ein ganz typisches Verhalten, welches ich mehrfach schon in brisanten Situationen erlebt habe. Menschen, denen der Tod vor Augen schwebt, schütten in diesem Bewußtseinsstadium sogar noch Glückshormone aus, die ihnen ihr bevorstehendes Schicksal erleichtern helfen. Zur Schau gestelltes Selbstbewußtsein hilft denen, die von Selbstzweifeln zernagt werden, über ihre Blamage hinweg. Im klugen Sprücheklopfen waren sie alle immer groß, wenn es aber darauf ankam, haben sie kläglich versagt. Nicht einmal habe ich erlebt, daß der Skipper einen Anleger selbst ausgeführt hätte, wie es gute Seemannschaft erfordert. Stets stand er nur an Deck und gab seinen Leuten Befehle wie Colonel Custer in der Schlacht am Little Bighorn, ohne daß er jemals selbst eingesprungen wäre. Auch die Schlußszene aus dem Film "Das Boot" würde gut zu unserer Situation passen. "Weil aber der Herr die Seinen stets beschützt, hat er sie zwar gezüchtigt, aber nicht vollends der Verdammnis preisgegeben." Somit geht ein Segeltörn zu Ende, der unter extremeren Bedingungen leicht zu einem Fiasko hätte werden können. Nur dem Gott des Windes, Äolos, haben wir es zu verdanken, daß die Winde meist schwach waren oder gänzlich fehlten. So wie wir uns verhielten, verhalten sich Männer, die ein zu ausgeprägtes Gefahrenbewußtsein besitzen, gewissermaßen durch das systematisch erlernte Wissen darum, was theoretisch alles passieren könnte. Die besten Piloten sind aber diejenigen, die sich in ein Flugzeug setzen, ohne daß sie sich permanent vorstellen, was beim Fliegen alles passieren kann, und die seit jeher bei einem Luftkampf am erfolgreichsten waren. Wir indes, wir würden gar nichts mehr riskieren, weil uns der Glaube an uns selbst gänzlich abhanden gekommen ist. Nicht erst, als ich die zerfetzte Fahne sehe, während wir unseren Heimathafen anlaufen, habe ich für mich die Entscheidung getroffen, mit diesem Reiseveranstalter nicht ein einziges weiteres Mal ein Risiko einzugehen, und ich kann es beinahe nicht glauben, als ich aus der Hülle des Skippers meine Kaution zurückerhalte, die ich insgeheim schon abgeschrieben hatte. Der Zettel, den ich zum Schluß der Reise ausfülle, enthält lauter Bewertungen, die um mindestens eine Note zu gut ausgefallen sind. Vielleicht ist es ein Akt der Gnade, den Menschen nicht immer die volle Wahrheit zu sagen, eine gute Portion Mitleid, weil man an den anderen auch positive Züge entdeckt haben mag.


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