»In unseren Träumen sind
wir alle Kinder. Wir träumen davon, fremde Länder zu
entdecken, unbezwingbare Berge zu erklimmen, auf stolzen
Schiffen die Welt zu umsegeln. Dies ist die Geschichte
eines Traums, der Wirklichkeit geworden ist.«
Es war
einmal ein Land, so groß wie ein Kontinent, das in
grauer Vorzeit mit feuerspeienden Bergen übersät war, in
dessen weiten Sümpfen riesige Echsen schwerfällig durch
Farn- und Schachtelhalmwälder stapften, ewig auf Suche
nach Beute, um im Kampf des Überlebens gegen die
allseits lauernden Feinde zu bestehen, lange bevor der
Mensch das Licht dieser Welt erblickte.
Es konnte nicht
lange unbekannt bleiben, daß es in unserer
Erdvergangenheit einen riesigen Urkontinent gab, welcher
den Namen Pangäa trug, eine feste Masse, die unter dem
Drängen der Natur in zwei Subkontinente zerbarst:
Laurasia und Gondwanaland. Gondwana hieß jener
Südkontinent, in dessen zähem Innern, eingebettet
zwischen den heutigen Kontinenten Afrika und Australien,
dem südamerikanischen und indischen Subkontinent, sich
eine Terra australis incognita befand, eine gemutmaßte,
lange Zeit unbekannte Landmasse, welcher man nach ihrer
Entdeckung den Namen Antarctica gab, als dem Gegenpol zu
den schon viel früher entdeckten Polarregionen.
Griechischen Vordenkern, die um die Kugelgestalt der
Erde wußten, war es vorbehalten zu erahnen, daß ein Teil
fehle, hatten doch bereits die Alten Kenntnis davon, daß
sich das ganze damals bekannte Festland auf der
nördlichen Halbkugel konzentriere, umgeben von den
Weiten des umspülenden Ozeans. Allein das Wissen um das
statische Gleichgewicht nährte die Annahme, daß es eine
ausgleichende Landmasse auf der anderen Seite des
Erdballs geben müsse; zu gewagt jedoch erschien es
selbst den kühnsten Seefahrern, sich in dem alles
verschlingenden Meere auf die Suche danach zu begeben.
Bereits auf Karten des ausgehenden Mittelalters bzw. der
anbrechenden Neuzeit sind südliche Polarregionen im
wahrsten Sinne des Wortes verzeichnet, denn nachweislich
betreten hatte den hypothetischen Kontinent bis dahin
niemand. Es mochte allerdings auch nicht lange
unentdeckt bleiben, daß ab und an treibende Weiße Inseln
gesichtet wurden, deren Herkunft schon der frühe Mensch
nicht anders zu deuten wußte als von Zonen alles
erstarrender Kälte herrührend.
Unseres Wissens war der Umsegler Australiens und
Entdecker Neuseelands, James Cook, der erste, der bis
in die Nähe der Antarktis vordrang. Daß er sie widriger
Umstände wegen nicht gesichtet hat, gilt heute als
erwiesen. Sein Vorstoß endete in den Nebelbänken an der
Treibeisgrenze. Ein Deutscher war es, der sich den Ruhm,
als erster die kontinentale Landmasse der Antarktis
entdeckt zu haben, erworben hat, Fabian Gottlieb von
Bellingshausen, ein in russischen Diensten stehender,
später zum Konteradmiral der Schwarzmeerflotte
avancierter Marineoffizier, dem 1820 gemeinsam mit
Michail Lazarev auf der Vostok zugleich die erste
Umrundung des neu entdeckten Kontinents gelang.
Nathaniel Palmer, ein amerikanischer Robbenfänger, der
fälschlich behauptete, er habe als erster die Antarktis
gesehen, kam indes um acht Monate zu spät, nicht
wissend, daß ein anderer bereits vor ihm da war.
Allerdings hat von Bellingshausen die Antarktis nicht
betreten, konnte sie demnach auch nicht für den
russischen Zaren in Besitz nehmen. Der erste, der
nachweislich die Antarktis am 30. Januar 1820 betreten
hat, war Edward Bransfield. Die Süd-Shetland-Inseln
wurden bereits 1819 von William Smith für die britische
Krone beansprucht. Der erste, der seinen Fuß als
Forscher auf die Antarktis gesetzt hat, war wiederum ein
Deutscher, Erich Dagobert von Drygalski, ein aus
Königsberg stammender Professor für Erdkunde und
Geophysik, der 1902 mit dem Schiff Gauß dort ankam. Er
gab dem von ihm entdeckten Land den Namen
Kaiser-Wilhelm-II.-Land, doch lohnte ihm sein Kaiser
schlecht. Nicht genug damit, daß Drygalski keine
weiteren Forschungsmittel bewilligt worden waren, was
ihn schließlich zum Aufgeben und Abbruch seiner Mission
zwang, womit Deutschland im Wettlauf um die Erreichung
des Südpols ins Hintertreffen geriet, war Wilhelm II.
auch noch darüber ungehalten. Unstreitig bleibt es
jedoch von Drygalskis Verdienst, seine
Forschungsergebnisse in einem 20bändigen
wissenschaftlichen Kompendium veröffentlicht zu haben,
das allen späteren Forschern sämtliche Ergebnisse
vorwegnahm. Er soll argumentiert haben, daß es für die
Erforschung der Antarktis ohne Belang sei, wer als
erster am Südpol stehe, übersah dabei aber völlig, daß
dem damaligen nationalistischen Zeitgeist mehr daran
gelegen war, den siegreichen Ausgang einer solchen
Mission verkünden zu können, als nur wissenschaftliche
Ergebnisse vorzuweisen.
Etwa zeitgleich mit Drygalski unternahm der Norweger
Nordenskjöld eine Schiffsexpedition von Kap Horn aus, die
ihn auf die antarktische Halbinsel führte. Scott und
Shackelton erreichten in den folgenden Jahren ihr Ziel,
als erste am geographischen Südpol zu sein, im ersten
Anlauf nicht. Die Endphase in dem Wettlauf begann, als
etwa zeitgleich der Norweger Amundsen und der Brite
Scott, und zwar beide auf etwa gleichem Wege, nämlich
über das Ross-Eisschelf, den Südpol erreichen wollten.
Scott wußte nicht, daß er diesen Wettlauf nicht gewinnen
konnte, weil der Zeitpunkt, zu dem Amundsen den Südpol
bereits erreicht hatte, nicht bekanntgegeben worden war,
wohl in der Absicht, daß der zweite, der dort eintraf,
einen direkten Beweis von der erfolgreichen Erstbegehung
geben könne, was tragischerweise dann auch der Fall war.
In dem Glauben, noch vor Amundsen am Südpol zu sein,
kamen alle Expeditionsteilnehmer aus Scotts Mannschaft
in der Folge um. Die etwa zur gleichen Zeit ausgesandte
deutsche Expedition Filchners blieb im Wedell-Schelfeis
stecken und mußte aufgeben. Die einzige danach noch
spektakuläre Antarktis-Expedition ist die 12 Jahre
später erfolgte von Shackelton, dessen Schiff, die
Endurance, zwischen Packeis eingekesselt, zerbarst. In
einer dramatischen Rettungsaktion konnte die Mannschaft
aber noch gerettet werden.
Die
Eroberung der Antarktis mit Segeljachten ist ein eigenes
Kapitel. Seit der ersten Fahrt einer Segeljacht 1967
wagen sich immer mehr kühne Segler in arktische Breiten
vor. Von denen, die hier waren, sagen aber auch die
allermeisten, daß sie diese Reise nicht noch einmal
machen würden. In den vergangenen 30 Jahren hat es etwa
200 Jachtreisen in die Antarktis gegeben. Der wohl
aufsehenerregendste Segeltörn ist die 10monatige
Überwinterung der Freydis im Kratersee der Vulkaninsel
Deception im Jahre 1990 und ihre anschließende
Antarktisumrundung, die insgesamt sieben Jahre in
Anspruch nahm. Im Jahr
1991 stieß der Deutsche Wolf Kloss mit der Santa Maria
bis in die Antarktis vor, was vor ihm nur zwei deutschen
Segeljachten gelungen war. Jedes Jahr
besuchen etwa 125 zahlende Gäste den sechsten Kontinent
auf einer Segeljacht, Tendenz steigend. Rechnet man
diese Zahl hoch, so sind wir in jedem Fall unter den
ersten 3750 Besuchern, die die Antarktis auf diese Art
bereist haben. Zieht man davon die unter deutscher
Flagge fahrenden Jachten ab, so sind wir unter den
ersten deutschen Seglern überhaupt, die sich diesem
Abenteuer unterzogen haben. Auch wenn es quasi nicht die
Jungfernfahrt der Santa Maria Australis ist, so bleibt
dennoch festzuhalten, daß wir
unter denen, die diese Fahrt auf einer deutschen
Segeljacht, unter deutscher Flagge und mit einem
deutschen Skipper durchführen, immer noch unter die zu
rechnen sind, die zu den absoluten Pionieren zählen, womit
wir nun an dem Punkt angelangt wären, wo es von unserer
eigenen Reise zu berichten gilt.
Für
mich ist es gewissermaßen der Höhepunkt aller meiner
bisherigen seglerischen Ambitionen, das Non-plus-ultra
des Schwerwettersegelns. Wer die Reiseberichte der
bahnbrechenden Entdeckungen eines Ferdinand Magellan
oder eines Sir Francis Drake aufmerksam gelesen hat, dem
dürfte auch Kap Horn ein Begriff sein. Die Südspitze
Amerikas ist berüchtigt für ihre starken Winde; hier ist
zugleich der Ort, an dem die höchsten Windspitzen
weltweit gemessen werden, weswegen sich die seefahrenden
Nationen lange Zeit schwer taten, Kap Horn unbeschadet
zu umrunden. An dieser Stelle fällt mir sogleich jene
Anekdote ein, wonach einem Seemann zum Urinieren die
Hose herunterzulassen erst dann gestattet war, wenn er
einmal um Kap Horn gesegelt war. Auch wenn a posteriori
nicht feststeht, was an dieser Geschichte Wahres ist, so
zeigt sie uns doch, mit welch gebührendem Ernst man sich
an jene Seegegend heranwagte, wo die Winde ein solches
Ungestüm entfesseln, daß sie alles von Deck fegen, was
nicht niet- und nagelfest ist. Der erste, dem es gelang,
den südlichsten Zipfel Amerikas zu umschiffen und einen
Weg zum Pazifischen Ozean zu finden, der nicht durch die
Enge der von Magellan entdeckten Wasserstraße führte,
war in der Tat jener bewunderungswürdige Pirat Sir
Francis Drake, dem zu Ehren diese Straße heute ihren
Namen trägt. Von Kap Horn bis zur Peninsula antarctica
sind es ganze 500 sm einfache Entfernung, und auch unter
günstigsten Bedingungen sind für die Überfahrt mit einer
Segeljacht volle dreieinhalb Tage anzusetzen.
Ausgangshafen für ein solches Unterfangen ist Ushuaia,
die südlichste Stadt der Welt, auf Feuerland, direkt am
Beagle-Kanal gelegen, indianischen Ursprungs. Die
Feuerland-Indianer, die Charles Darwin noch gesehen hat,
sie sind inzwischen ausgerottet, ihr kulturelles Erbe
untergegangen, allein der Name des Ortes, auf dem
Ushuaia heute steht, erinnert noch an sie. Ushuaia
erreicht man mit dem Flugzeug von Buenos Aires in vier
bis fünf Stunden.
Im
Jachthafen Ushuaias, der nur wenige Kilometer vom
Flughafen entfernt ist, liegt unser Segelboot am Steg,
das den glorreichen Namen von Christoph Kolumbus’
Flaggschiff trägt, die Santa Maria mit dem Beinamen
Australis, eine 22-m-Ketch, die unter deutscher Flagge
fährt, mit einem Schiffssicherheitszeugnis des
Germanischen Lloyd ausgestattet. Es ist nämlich gänzlich
unmöglich, in Südamerika, wo jeder Indio, der an einem
Gotteshaus vorübergeht, sich bekreuzigt, für ein
riskantes Unterfangen nicht den Beistand der
Muttergottes zu erflehen. Also konnte in dem
gottesfürchtigen spanischen Land gar kein anderer Name
gewählt werden als jener, auch wenn eine Fahrt mit einer
modernen Segeljacht in die Antarktis den Risiken, die
Kolumbus einging, angesichts modernster
Navigationssysteme kaum vergleichbar sein dürfte. Die
Belegung des Schiffs ist, wie ich bereits vorab erfahren
habe, multinational: fünf Deutsche, zwei Österreicher,
zwei Franzosen, ein Belgier und eine Australierin, das
Schiff ist bis auf den letzten Platz ausgebucht. Mit
einigen meiner Mitsegler habe ich, soweit ich ihre
Adressen in Erfahrung bringen konnte, schon vorab
Kontakt aufgenommen und mich mit ihnen ausgetauscht, und
soviel ich der Korrespondenz entnehmen konnte, handelt
es durchweg um Leute mit höherer Bildung, denen eine
gewisse Erfahrung schon vorab anzumerken ist.
In
Buenos Aires herrschen am Tag meiner Ankunft und auch am
Tage danach, gemessen am landesüblichen Durchschnitt,
wie mir der Taxifahrer versichert, für die Jahreszeit
ungewöhnlich niedrige Temperaturen, völlig konträr zu
den heimischen Werten, die so mild sind, daß der Winter
dieses Jahr gänzlich auszufallen droht. Bereits der
Hinflug über die Alpen ließ erkennen, daß nur in den
Hochlagen der Gebirge noch Schnee anzutreffen ist.
Gerade dieses ausgebliebenen Winters wegen wird uns die
Antarktis für den fehlenden Schnee wohl reichlich
entschädigen. Der Flug nach Ushuaia längs der
argentinischen Küste verläuft bis auf den Landeanflug
wenig spektakulär. Über dem Beagle-Kanal allerdings
liegt eine massige Bewölkung, die einen Vorgeschmack
gibt auf das, was darunter los ist. Angst bereitet es,
über den gespenstischen Gipfeln Feuerlands bei nahezu
geschlossener Wolkendecke unter heftigsten Windböen zu
landen. Unter den Wolken zeigt sich die Welt grau in
grau. Mit dem Taxi ist schnell der Jachtclub erreicht.
Unter den wenigen dort liegenden Schiffen fällt es nicht
schwer, die Santa Maria Australis auszumachen. An Bord
begrüßen mich der Schiffsführer und der Bootsmann, doch
nicht der, den ich eigentlich erwartet hatte, ist
Schiffsführer, sondern ein bestellter Ersatzskipper,
der, wie er gleich eingangs zugibt, diesen Törn zum
ersten Mal fährt. Mit anderen Worten, man hat uns einen
Skipper zugeteilt, der weder Erfahrung mit diesem
Schiffstyp hat noch auch die entsprechenden
Revierkenntnisse mitbringt, ein Risikokandidat also.
Martin heißt er, ist bis auf die Kopfhaut kahlgeschoren
und hat eine für meinen Geschmack recht große Nase sowie
ein vorspringendes Kinn, wirkt auf den ersten Blick auch
nicht sonderlich sympathisch. Bei genauerem Ansehen der
Person erweist er sich jedoch als ein sachlicher,
ruhiges Blut bewahrender Charakter, der zu wenig
Emotionen neigt und auch keine vorschnellen
Entscheidungen trifft, sondern alles mit Überlegung und
der ihm eignenden Kompetenz angeht. Auch unser Bootsmann
stellt sich vor, Jochen mit Namen. Er ist noch recht
jung, wohl der Jüngste an Bord, trägt einen lichten
Vollbart; was aber am meisten an ihm auffällt, sind
seine Korkenzieherlöckchen, sein völlig verfilztes Haar.
Aber er ist sofort hilfsbereit und sympathisch, und er
hat einen unschätzbaren Vorteil: er kennt aufs genaueste
das Schiff und hat den Antarktistörn bereits einmal
mitgemacht, weiß also bestens, wo man sicher liegen
kann. Nach und nach stellen sich auch meine Mitsegler
ein; drei davon sind Ärzte, so daß ich um meine
medizinische Versorgung jedenfalls nicht zu bangen
brauche. Da wäre zunächst Christian, mit dem ich schon
telefonisch in Kontakt getreten war. Er ist der typische
Arzt: nicht mehr viel Haar auf dem Kopf, ständiger
Dreitagesbart, Sorgenfalten auf der Stirn,
überschäumender Redefluß. Seines Zeichens Brillenträger,
fahrigen Blicks, schaut er dennoch häufig mit gesenktem
Kopf über den Rand seiner Brille heraus und sieht einen
dabei an, als wäre man sein Patient. Ich habe ihn mir
nur etwas größer vorgestellt. Ganz anders ist da
Philippe, Pharmazieprofessor der vornehmsten Art, etwas
distinguiert, mit der typischen französischen Riechnase.
Doch er besitzt Bildung und hat etwas vornehmere
Manieren als Bernard, sein französischer Kollege. Dieser
ist ganz Clown, mit einem liebenswerten Charme, der sein
schlechtes Benehmen wieder etwas aufwiegt. Mit seinem
graumelierten Bart, dem drolligen Blick und dem
verschmitzten Lächeln wirkt er ein wenig wie einer von
den sieben Zwergen aus Schneewittchen. Alain ist so
etwas wie ein englischer Gentleman, er hat ein überaus
feines Benehmen, ist zurückhaltend, schweigsam,
nachgiebig und duldsam. Aber er hat ganz offensichtlich
einen Fotospleen, schleppt beharrlich ein riesiges
Teleobjektiv mit sich herum und stört die Gemütlichkeit
dadurch, daß er in jeder freien Minute an seinem Laptop
hängt und, meist schweigend, im Salon sitzend gebannt
aufs Display starrt. Als ich Tarryn, unsere Australiern,
auch nur ansehe, erkenne ich sogleich, daß dieses
schwache, ängstliche Geschöpf den Belastungen, die ihm
in den nächsten Wochen abverlangt würden, nicht
gewachsen wäre, und ich wundere mich, wie blauäugig
manche Menschen in etwas hineinschlittern, was sich bei
etwas weniger Selbstüberschätzung leicht würde vermeiden
lassen. Ein solches Beispiel geben auch unsere beiden
Österreicher ab, Walter und Martina: sie wissen, daß sie
beide seekrank werden, und dennoch unterziehen sie sich
den Torturen, die sie an Bord erwarten, völlig
unbekümmert darüber, daß sie bei Ausfall ihrer Person
anderen zur Last fallen. Als letzter trifft Helmut auf
dem Schiff ein, ein gewaltiger Riese mit reichlich viel
Übergewicht. Ihm sieht man allerdings an, daß ihm Wind
und Wetter nichts ausmachen würden, daß er in allen
Situationen seinen Mann stehen würde.
Auf
eine einheitliche Sprache an Bord können wir uns nicht
einigen, insbesondere sprechen unsere französischen
Kollegen kein Wort Deutsch. Viel wichtiger ist jedoch,
daß jeder jeden versteht, wenngleich es für die deutsche
Seemannssprache nicht in jedem Fall eine adäquate
englische Übersetzung gibt, ihre eingefleischten
Begriffe nicht jedermann geläufig sind. Mit dem Stauraum
in den Kajüten gibt es erhebliche Probleme, man weiß
eigentlich gar nicht, wo man seine Sachen hinstellen
soll. Was den einen oder anderen aber völlig
desillusionieren dürfte, ist, daß die
Meerwasserentsalzungsanlage offenbar in der Kälte nicht
funktioniert, so daß aus dem täglichen Duschen
offensichtlich nichts wird. Wichtiger ist aber fürs
erste, daß sich die Mannschaft untereinander gut
versteht. Für den ersten Segeltag ist nur ein ganz
kurzes Wegstück geplant. Am Vorabend des Auslaufens wird
noch einmal richtig essen gegangen, ehe wir uns dann für
die erste Nacht zur Ruhe betten, denn die meisten von
uns haben sich von dem überlangen Flug noch nicht
richtig erholt. Alle Kojen auf dem Schiff sind belegt,
Spielraum, sich den Platz auszusuchen, gibt es kaum.
Meine Kajüte teile ich mit Helmut, einer deutschen Eiche
aus dem Rheinland, der mich schon vorab vor seinem
Schnarchen warnt. Er ist schon im Ruhestand, genauer
gesagt lebt er von seinem Beratervertrag, und damit läßt
er es gelassen angehen, kommt morgens immer als letzter
aus seiner Koje. Der viele Schlaf, den er braucht,
erklärt sich dadurch, daß er nachts wach liegt, an
Schlafstörungen leidet, mich hingegen um meinen gesunden
Schlaf beneidet.
Am
ersten Tag kommt noch nichts richtig in Gang, das
Frühstück bereitet der Bootsmann zu, für uns gibt es
nichts zu tun, als uns neugierig aufeinander der
Konversation zu widmen. Jeder will von jedem wissen, was
der andere beruflich macht, ob nicht ein anderer mehr
sein oder haben könnte als man selbst ist oder hat.
Schließlich will man doch wissen, mit wem man es zu tun
hat, denn davon hängt bekanntlich das eigene Verhalten
ab. Gleich ins Herz geschlossen haben mich unsere
Franzosen, die mich ob meines eloquenten Französisch
loben. Am ersten Morgen kommen insbesondere unsere
beiden Frauen lange nicht aus ihren Kojen hervor,
während die Herren der Schöpfung beinahe alle schon
gefrühstückt haben. Unser Flame schleppt schon am ersten
Tag sein riesiges Tele mit sich herum, verwandelt sofort
alle seine Aufnahmen auf dem Laptop in digitale Bilder.
Er wäre auf einem Kreuzfahrtschiff sicher besser
aufgehoben, denn diese Überbetonung des Elektronischen,
was ich in dieser Form, ehrlich gesagt, noch nicht
erlebt habe, vertreibt ein wenig den Hauch des
Abenteuerlichen. Manchmal habe ich das Gefühl, in einem
Computerraum zu sitzen anstatt in einem Segelboot, doch
vermittelt die Übertechnisierung auch ein Gefühl der
eigenen Sicherheit. Am Morgen kommt auch der
Veranstalter an Bord, gleichzeitig mit dem
argentinischen Zoll; ich habe ihn mir allerdings etwas
anders vorgestellt, größer und vor allem rauhbeiniger,
wie man sich eben einen Abenteurer vorstellt. Doch
nichts von diesem Klischee trifft zu, man steht einem
ganz normalen und freundlichen Menschen gegenüber.
Am
Montag, den 15. Januar 2007, legen wir, beinahe
unauffällig, genau um 12 Uhr mittags vom Kai des
Jachthafens in Ushuaia ab. Es herrscht komplette
Windstille, die See ist spiegelglatt, der Himmel bis auf
wenige Wolkenlücken bedeckt, lediglich die
blendend-weißen Schneefelder unter den Bergzipfeln
Feuerlands reflektieren das durchgelassene Sonnenlicht
in der ringsum grauen Szenerie. Welch ein Gegensatz zu
gestern, als höllische Winde wirre Wolkenfetzen über den
zumeist blauen Himmel jagten! Unter gleichmäßigem
Vibrieren der Motoren laufen wir ein nur kurzes Stück
auf dem Beagle-Kanal ab, bis wir auf der chilenischen
Seite Puerto Williams erreichen. Vorbei geht es an
Inselchen – eine von ihnen mit einem Leuchtturm bewehrt
–, auf denen in Symbiose mit Pinguinen, die es dort en
masse gibt, Robben sich häuslich eingerichtet haben. Die
Inseln sind beliebte Ausflugsziele vieler
Touristik-Unternehmen in Ushuaia, die Tagesausflüge zu
den Brutplätzen verschiedener Vogelarten anbieten. Auf
dem Beagle-Kanal – nach dem Schiff benannt, mit dem
einst Charles Darwin hier vorbeikam –, können sich die
Wetterverhältnisse rasch ändern. Plötzlich aufkommender
Wind verleitet uns zum Segelsetzen. Unser erstes
Ausbringen der Segel gerät nicht gerade zu einem
Bravourstück, viel zu stark flattert die Genoa im Wind,
ohne daß es gelingen könnte, sie auf die richtige Seite
zu ziehen. Meine erste persönliche Bekanntschaft mit dem
Rudergehen vermittelt ein etwas anderes Gefühl, als man
es von einer 14-m-Jacht kennt. Das Ruderlegen ist
ausgesprochen anstrengend, der Ruderdruck immens, so daß
man nach einer Stunde harter Arbeit eine sportliche
Leistung vollbracht hat.
Unser Anlegemanöver in Puerto Williams kann schon als
kleines Unglück angesehen werden. Erst sieht unser
Skipper ein vor uns liegendes Traditionsschiff nicht und
wäre diesem, hätte man ihn nicht noch im letzten
Augenblick gewarnt, beinahe aufgefahren, anschließend
beschädigen wir beim Anlegen ein fremdes Schiff, weil
dieses verglichen mit dem unseren viel zu klein ist, um
daran längsseits zu gehen. Der Bootsmann erzählt uns bei
der Gelegenheit ganz beiläufig, daß er erst seit einem
halben Jahr zur See fährt und davor mit Seefahrt so gut
wie nichts am Hut hatte, auch nicht über die
erforderlichen Scheine verfügt, die ihn zum
Schiffsführer befähigen würden. Er habe rein zufällig
auf einer Südamerikareise, als er mit dem Rucksack
durchs Land tingelte, auf der Santa Maria Australis
angeheuert. Obwohl er seine Sache recht gut macht, fehlt
ihm dennoch die langjährige Praxis, die jemand haben
müßte, um für alle Eventualitäten einer solchen Reise
gerüstet zu sein. Der Skipper ist mit dem Schiffstyp,
wie eingangs gesagt, ebenfalls nicht vertraut und muß
das Boot erst kennenlernen, denn sein erstes
Anlegemanöver war nicht präzise genug, sei es, daß er
sich in zu schneller Fahrt dem Anleger näherte oder sich
zu dicht in Untiefen hineinwagte. Auch seine
Segelmanöver wirken anfangs noch recht holprig, eben wie
die eines sich noch in Ausbildung Befindlichen, doch er
lernt schnell. Aufgrund vermuteter Schwächen versucht
Christian von Anfang an, ihm die Schiffsführung streitig
zu machen und seine Autorität zu untergraben, sei es
durch beharrliches Hinterfragen all seiner
Entscheidungen oder durch schulmeisterliche
Besserwisserei. Man merkt deutlich, wie Martin in eine
Verteidigungshaltung gerät, die in dauernde
Rechtfertigungen ausufert, und ich bewundere die Geduld,
mit der er dies erträgt, so als ginge es ihm darum zu
beweisen, nicht erst noch sein Patent ablegen zu müssen.
Nachdem ich diese schädlichen Diskussionen mitbekomme
und die kleinen Fauxpas selbst miterlebt habe,
beschleicht mich ein leises Gefühl der Unsicherheit. Wie
würde es uns wohl ergehen, wenn wir die erste kritische
Situation zu meistern hätten? Alles in allem drängt sich
mir der Verdacht auf, daß man uns mit einem riesengroßen
Vertrauen in die Antarktis schickt. Wollen wir hoffen,
daß aus unserem Abenteuerurlaub kein
Himmelfahrtskommando wird.
In
Puerto Williams müssen wir einklarieren, und zwar
deshalb, damit wir im Zweifelsfalle auch in einer
chilenischen Bucht vor Anker gehen können, ohne Gefahr
zu laufen, von den Behörden aufgebracht zu werden. Zur
Abwicklung der Zollformalitäten kommen die Beamten an
Bord des Schiffs, lassen aber alle Angelegenheiten
reibungslos über die Bühne gehen. Am Abend sind wir bei
Wolf, der den Törn ursprünglich selbst fahren wollte,
aber vermutlich aufgrund fehlender Französischkenntnisse
einen französischsprechenden Skipper anheuern mußte, zu
einem Barbecue eingeladen. Er lebt mit seiner
argentinischen Frau und seinen beiden Kindern hier in
Puerto Williams, am Ende der Welt sozusagen, und
organisiert von da aus seine Fahrten in die Antarktis.
Sein Haus liegt hoch über dem Beagle-Kanal und gewährt
einen aussichtsreichen Blick sowohl auf die natürliche
Wasserstraße als auch auf das gegenüberliegende
Argentinien, sprich Feuerland. Als wir eintreffen, ist
der Holzkohlengrill bereits gefeuert, und es liegen
verschiedene Bratwürste und Fleischsorten zum Verzehr
bereit. Dazu werden frische Salate und ein
ausgezeichneter Rotwein gereicht. Da die
Wettervorhersage für die nächsten fünf Tage nicht gerade
ermutigend ist – starke südwestliche Winde, die uns zum
Liegenbleiben zwingen –, kommt es bei einigen unserer
Fremdbucher aus Unmut darüber zu ersten Beschwerden.
Alain bringt vor, daß man ihm zehn Tage Aufenthalt in
der Antarktis verkauft habe, die sich aber bereits nach
unserer jetzigen Zeitplanung nicht mehr einhalten
ließen. Bernard trägt vor, ihm sei ein französischer
Skipper versprochen worden, aber Martin, unser
Ersatzskipper, spricht nur ein bißchen besser
Französisch als ich, und das in einem derart abgehackten
Pfälzer Dialekt, daß er sich rasch den Spott eines
Bretonen einhandelt. Nachdem jedem Reiseteilnehmer
offenbar etwas unterschiedliche Reiseleistungen
versprochen worden sind, bemüht sich Wolf um Schlichtung
und gelobt, die Verträge der einzelnen Anbieter zu
harmonisieren. Erst sehr viel später finden wir heraus,
daß unsere drei Franzosen auf der SY Vaihere gebucht
waren, weil diese aber überbucht war, auf die freien
Plätze der Santa Maria Australis verlegt wurden. Auch
unsere Australierin Tarryn sollte ursprünglich auf einer
australischen Segeljacht mitgenommen werden, denn sie
konnte, da sie kein einziges Wort Deutsch spricht, kein
ureigenes Interesse daran gehabt haben, sich auf einem
deutschen Boot einzuquartieren. Nachdem die Wogen
geglättet sind, begeben sich die Standfestesten von uns
nach dem Essen noch in die Nautik-Bar, die auf dem alten
abgewrackten Kahn eingerichtet ist, an dem wir
längsseits gegangen sind. Der dortige Standard-Drink,
der mit Zuckerrand serviert wird, schmeckt sehr köstlich
und verleitet zum Vieltrinken, mit den unangenehmen
Folgen, daß man am nächsten Tag Kopfweh davon hat. Die
Nacht selbst ist für einige von uns recht unerfreulich,
weil es einige arge Schnarcher unter uns gibt, die den
anderen den letzten Nerv kosten.
Am
nächsten Morgen kommt die ganze Mannschaft nur
schleppend in Gang. Während die ersten bereits
gefrühstückt haben, liegen die anderen noch immer faul
in ihren Kojen. Philippe, Bernard und ich sind wieder
die ersten, die aus ihren Federn krabbeln, zuletzt
erscheinen gestern wie heute die Ladies. Die Stimmung
hingegen ist prächtig; sobald die ersten Witze gerissen
worden sind, bricht alles in schallendes Gelächter aus.
Nachdem ich zum ersten Mal gegen die unerbittliche
Sonne, die uns gestern fast alle verbrannt hat, meine
Gletscherbrille aufsetze, werde ich sofort mit Spott
bedacht. Insbesondere Helmut, unseren blassesten
Hauttyp, hat es schwer erwischt, sein Gesicht scheint
vor Röte zu glühen. Auch Walter war entsprechend
unvorsichtig. Bei aufkommenden Winden laufen wir am
späten Vormittag, nachdem alle notwendigen Vorkehrungen
abgeschlossen sind, bei schönem Wetter aus Puerto
Williams aus, um uns etwas südlicher auf den großen
Schlag über die Drake vorzubereiten. Schnell haben wir
die enge Fahrrinne des Beagle-Kanals erreicht; die Insel
Navarino zur Rechten, Feuerland zur Linken, geht es mit
etwa sieben Knoten bei sieben Beaufort in gemächlicher
Fahrt Richtung Lennox-Insel, wo wir in einer gut
geschützten Bucht vor Anker gehen wollen. Die
majestätischen Berge zu beiden Seiten geben uns das
letzte Geleit, denn wir wissen, daß wir hiermit den
letzten Hafen verlassen haben, wo uns das Vorhandensein
menschlicher Behausungen noch ein Gefühl rettender
Zuflucht hätte geben können. Jetzt sind wir ganz auf uns
allein gestellt.
Kurz nach dem Auslaufen hören wir über Funk, daß der
Hafen von Puerto Williams wegen Sturmwarnung geschlossen
wurde. Die jährliche Niederschlagsmenge auf den Inseln
südlich von Feuerland ist ausreichend, um noch Bäume von
beachtlicher Höhe wachsen zu lassen. Hätte sich in
unserem Bewußtsein nicht bereits festgesetzt, wo wir uns
befinden, so würde diese Landschaft auch gut zu einem
Regenwaldgebiet passen. Lachte uns soeben noch
strahlender Sonnenschein, so verdüstern urplötzlich
wieder dunkle Nebelschwaden den Himmel. Ein leichtes
Nieseln verursacht Frösteln, besonders um die
ungeschützten Beine, wenn man keine wärmenden
Gummistiefel trägt. Das gleichmäßige Schaukeln des
Schiffes verzieht bei den ersten bereits die Mienen.
Vermutlich ist das auch der Grund, warum wir
unweigerlich auf die Seekrankheit zu sprechen kommen.
Unser Bootsmann meint, er sei immer der erste, den es
erwische. Danach befragt, warum er diese Tortur dann auf
sich nehme, meint er nur, die Vorteile überwögen.
In
Höhe der Isla Snipa liegt ein Schiffswrack auf Grund. Es
würde aber absolut ruhiges Wetter voraussetzen, um an
diesem Wrack anlegen zu können, was wir uns am heutigen
Tag allerdings verkneifen müssen. Als wir die schmale
Passage zwischen der Punta Oriental und der Punta
Occidental passieren, ziehen urplötzlich schwere, dunkle
Gewitterwolken auf, die uns dazu zwingen, das erste Reff
einzulegen. Es ist wirklich erstaunlich, wie schnell
sich das Wetter hier ändern kann. Wo soeben noch eitel
Sonnenschein herrschte, ist auf einmal stockdunkle
Nacht, das blaue Meer nimmt schlagartig dunkelgrüne
Farbtöne an. Und dann folgt erneut ein Wechsel.
Mittlerweile hat der Wind derart aufgefrischt, daß
Seegang und Krängung erheblich zugenommen haben.
Ungeschützt kann man sich beinahe gar nicht mehr aufs
Vorschiff wagen, denn einsetzender Regen läßt an Deck
die Gefahr des Ausrutschens steigen, Einhaken ist
angesagt, und auf das Anlegen von Schwimmwesten kann
nicht verzichtet werden. Die zu Beginn der Reise noch
gesunde Hautfarbe ist bei einigen einer Leichenblässe
gewichen. Und tatsächlich müssen sich die beiden ersten
bereits übergeben. Eingehakt hängt Bernard, unsere
französische Frohnatur, über der Reling und speit sein
komplettes Mittagessen wieder aus. Auch unsere
Australierin, selbst Medizinerin, ist gegen solche
Unbill nicht gefeit. Was diese Reaktionen ausgelöst
haben mag, wird unterschiedlich bewertet: bei dem einen
dürfte es die Angst vor dem Unbekannten gewesen sein,
bei andern schlichtweg die Reisekrankheit. Viele
Menschen wissen eigentlich gar nicht, ob sie zur
Seekrankheit neigen, einige sind sogar so dreist, sich
gleich auf das wagnisreichste einzulassen, ohne sich
vorher auf ihre Seetüchtigkeit überprüft zu haben.
Diesmal ging noch alles glimpflich ab, Hagel und
peitschender Regen konnten uns nicht zermürben. Auf
jeden Fall haben wir einen leichten Vorgeschmack auf das
erhalten, was uns noch bevorsteht.
Eine nicht geringe Beeinträchtigung zeigt sich auch
darin, daß Christian, unser Bordarzt, selbst im Leben
schon einmal Skipper gewesen, häufig alles besser zu
wissen glaubt als Martin, wodurch dieser sich in seiner
Autorität als Schiffsführer gefährdet sieht und deswegen
des öfteren genervt reagiert. Es ist aber ganz und gar
schädlich für Schiff und Mannschaft, wenn zwei in ein
und derselben Sache entscheiden wollen und sich daher
pausenlos aneinander reiben. Für den, der die Last der
Verantwortung trägt, ist das in etwa so, als müsse er
seine Qualifikation tagtäglich aufs neue unter Beweis
stellen. Bereits am frühen Nachmittag haben wir unser
Tagespensum erfüllt und bringen bei wagrecht
peitschendem Regen in der Caleta Lennox auf der
Luis-Halbinsel den Anker aus, um hier über Nacht zu
liegen. Obwohl wir einen erfolgreichen Segeltag hinter
uns haben, scheint niemand an Bord auf die Idee zu
kommen, wie das unter Seglern eigentlich üblich ist, ein
Anlegerbier trinken zu wollen: schwarzer Tee mit Milch
und Zucker erfüllt denselben Zweck. Wir haben nunmehr so
etwas wie ein Basecamp erreicht, denn hier werden wir
nun solange liegenbleiben, bis sich die tosende See
beruhigt hat. Was es an Freizeitgestaltungsmöglichkeiten
auf so einem Schiff alles gibt, bleibt ganz dem
Einfallsreichtum der jeweiligen Crew überlassen,
reichhaltig ist das Angebot aber nicht. In Muße lesen
kann man bei dem Hin-und-her-Schaukeln kaum, und am
Kartenspielen wiederum haben viele kein Interesse, so
daß man erst gar nicht die erforderliche Zahl von
Teilnehmern zusammenbringt. Die jeweilige Musik, die aus
dem Bordlautsprecher dröhnt, ist oft nicht jedermanns
Geschmack, so daß als einzige Alternative nur das
persönliche Gespräch übrigbleibt. Oder man fühlt sich
vor lauter Langeweile zum gemeinsamen Kochen angespornt.
Bis
auf drei Leute, die nicht mitgehen wollen, hat die
gesamte Crew sich zu einem Landgang auf der Lennox-Insel
entschlossen. Wie im richtigen Leben gibt einer den
Impuls vor, und die anderen laufen mit. Schon jetzt
würde ich eine Wette eingehen, daß sie nach wenigen
Stunden wieder zurück sind, sobald sie nämlich Hunger
verspüren. Während sich also die einen auf Landgang
befinden, taucht an Bord ein erstes Problem auf, mit
einer Vakuumpumpe, an der sich eine
Verschleißerscheinung zeigt. Wie ich beiläufig erfahren
habe, stammt sie Santa Maria Australis aus einer
Zwangsversteigerung, d.h. neu ist sie jedenfalls nicht.
Dem Skipper gelingt es indes, das quietschende Geräusch
abzustellen, so daß die Toiletten wieder benutzt werden
können. Kaum, daß die restliche Crew von ihrem Landgang
zurückgekehrt ist, kippt in dem schweren Sturm der am
Heck befestigte Zodiac um, der Außenborder taucht ins
Wasser, die Paddel fallen heraus. Skipper und Bootsmann
mühen sich vergebens, den Motor wieder lauffähig zu
machen, was aufgrund der naß gewordenen Zündspule aber
nicht ganz leicht fällt. Unsere zwei Paddel sind in der
Zeit, die seit dem Kentern verstrichen ist, unbemerkt
abgetrieben. Der Skipper hält nach ihnen Ausschau,
jedoch vergebens, wir müssen uns mit dem Verlust
abfinden.
Um
fünf Uhr nachmittags, Ortszeit, sind wir in der
Privatwohnung von Herrn Valdez, dem auf Lennox
stationierten Beamten, zum Essen eingeladen. Seine
Familie lebt hier für die Dauer eines Jahres in völliger
Abgeschiedenheit von der Außenwelt, um im Auftrag der
chilenischen Regierung den Funkverkehr auf See zu
überwachen. Die gesamte Umgebung seines bescheidenen
Hauses ist völlig naturbelassen und unwegsam, Sümpfe und
Wasseradern behindern das Fortkommen. Dennoch bringt die
Natur einiges hervor, was in dem rauhen Klima noch zu
gedeihen vermag, ein bescheidenes Angebot zwar, doch
angesichts des extremen Wetters wiederum ein sehr
reichhaltiges: Moose, Flechten und Sträucher, die sich
unter dem Einfluß des Naturgewalten demütig gegen die
vorherrschende Windrichtung verneigen. Und dennoch ist
auch hier Leben möglich, ein karges zwar, doch ein
friedvolles, das nur durch das Rauschen der Brandung und
das Brausen des Windes unterbrochen wird: Wasser so
schwarz, daß das Auge kaum einen halben Meter eindringt,
feinsandige Kiesel, Reste einer basaltischen
Vergangenheit. Der Wind bläst mich fast vom Landesteg,
in dessen Nähe sich lediglich eine Möwenkolonie noch zu
halten vermag. In gebeugter Haltung gegen den Wind
ankämpfend, bemerke ich viel zu spät, daß mir jemand
zuwinkt, ins Haus zu kommen. Bereitwillig nehme ich die
Einladung an, als Vorhut zwar, denn meine Mitsegler sind
alle noch an Bord des Schiffes, doch was bleibt mir in
dieser Situation auch anderes übrig. Sogleich sehe ich
mich einer etwas holprigen Kommunikation ausgesetzt,
denn meine Gastgeber sprechen kein Englisch, so wie ich
ihr Spanisch nicht verstehe. Auch wenn sich die
Verständigung schwierig gestaltet, so wird mir dennoch
in Kürze eine Tasse Tee vorgesetzt. Alle möglichen,
leicht zu beantwortenden Fragen werden mir gestellt,
angefangen von meinem Namen, über meinen Wohnort bis hin
zu meinem Familienstand. Ein Ehepaar, zwei im
Vorschulalter befindliche Kinder, ein Hund und eine Hase
sind alles, was den besonderen Charme dieser Insel
ausmacht. Ungeduldig halte ich mit dem Fernglas
Ausschau, wo meine Mitsegler bleiben, fühle mich mit dem
ständigen Übersetzen lateinischer Vokabeln ins Spanische
überfordert, doch schließlich naht sprachlicher Entsatz,
und als wir abends mit dem Schlauchboot aufs Schiff
zurückkehren, ist der aufschiebende Aufenthalt auf
dieser Insel bereits wieder vergessen. Das hingezauberte
Nudelgericht à la Raclette hält die Laune noch halbwegs
aufrecht, doch das anschließende Schlafen gerät vielen
zum Alptraum. Mit unglaublicher Wucht fegt in der Nacht
ein Sturm über uns hinweg, so daß ich kaum ein Auge
zubringe. Den anderen dürfte es nicht anders ergehen.
Nahezu tausendmal wälze ich mich von einer Seite auf die
andere, doch weil man trotz der frischen Luft nicht
wirklich körperlich beansprucht ist, es auch kein
weibliches Wesen an Bord gibt, bei dem man sich
erschöpfen könnte, trägt nichts zu einem gesunden
Schlafe bei. Sollte das Wetter so anhalten, wären wir
wohl schon demoralisiert, noch ehe wir uns auf die
Drake-Straße hinausgewagt haben. Der Skipper findet
vielversprechende Worte, um uns den Folterschmerz des
Abwartens ein wenig zu mildern, indem er uns in Aussicht
stellt, wir würden vielleicht schon einen Tag früher von
hier aufbrechen können. Wieviel sich davon aber als wahr
erweisen wird, müssen wir ganz den Launen des Wetters
überlassen. Es beginnt eine Zeit des Abwartens und
Bangens, denn noch hat der Wind nicht auf die gewünschte
Seite gedreht, die wir bräuchten, um die Drake
überqueren zu können und genau auf Deception Island
herauszukommen.
Am
Morgen des 18. Januar 2007 lichten wir, nachdem ein
letzter Wetterbericht eingeholt wurde und der Wind nun
deutlich schwächer geworden ist, um 9.15 Uhr Ortszeit
den Anker und stechen in See, mit Kurs Antarktis, die
wir nach einer drei bis vier Tage währenden Überfahrt,
die wir für die Überquerung der Drake-Straße
veranschlagen müssen, erreicht haben wollen. Es ist dies
bereits das zweite Mal, daß die Santa Maria Australis zu
einer Fahrt in die Antarktis aufbricht. Der Himmel ist
bedeckt, die See schwach, der Wind weht aus
südwestlicher Richtung. Kaum jedoch, daß wir die
Lennox-Insel an Steuerbord haben liegen lassen, werden
die unbändigen Elemente wieder dreister, Regen und
Starkwind sind unsere ständigen Begleiter während des
Auslaufens aufs offene Meer. Wegen der hohen Wellen ist
jetzt Einhaken angesagt. Einige von uns müssen nach vorn
zum Setzen des Großsegels. Beim Winschen kurbele ich mir
fast die Seele aus dem Leib: irgendeine Leine scheint
noch festgemacht, denn es gelingt uns nicht, das Groß
ganz durchzusetzen. Hagel peitscht mir ins Gesicht,
meine ungeschützten Hände werden klamm. Nachdem wir uns
fast eine Viertelstunde abgeplackt haben, ist das zweite
Reff endlich ausgebracht, dagegen gerät das Setzen des
Vorsegels geradezu zum Kinderspiel. Unsere Foto- und
Filmamateure behindern das Arbeiten zusätzlich, es läge
am Skipper, ihnen ihr Paparazzi-Verhalten auszutreiben,
wenn Manöver gefahren werden. Die gleichen, die gestern
erbrochen haben, erbrechen heute wieder. Tarryn, unsere
Australierin, ist Anästhesistin, sich selbst kann sie
allerdings nicht helfen, nicht einmal Prophylaxen
sprechen bei ihr noch an. Christian hat sich
diesbezüglich klüger verhalten, er trägt beständig ein
Pflaster hinter dem Ohr. Unser kleiner Franzose Bernard
rülpst lustig drauf los, doch ihm gelingt es wenigstens,
sich seine Frohnatur auch in schwierigen Situationen zu
bewahren. Für die meisten an Bord nimmt die ungewohnte
Ausnahmesituation immer dramatischere Formen an, gut die
Hälfte ist bereits seekrank, von dem andauernden
Erbrechen ersichtlich geschwächt. Die es erwischt hat
sind plötzlich von der Bildfläche verschwunden, liegen
entweder in ihren Kojen oder hängen teilnahmslos im
Salon herum, wo sie den anderen jegliche Sitzmöglichkeit
rauben. So manch einer, der soeben noch versucht hat,
wieder etwas zu essen, muß es schon bald wieder von sich
geben. Fast allen ist das Lachen vergangen. Wer so etwas
noch niemals mitgemacht hat, weiß eigentlich nicht,
wovon er spricht, wenn es um das Thema Seekrankheit
geht. Im Liegen ist das ständige Stampfen und Schlagen
noch am ehesten zu ertragen. Immer wieder aufs neue
rasen gewaltige Brecher auf uns zu, nötigen uns, sie
abzureiten. Hilflos schlingert das Schiff in der
aufgewühlten See, den tosenden Elementen wie ein
Spielball ausgeliefert.
Bei
so einem Segeltörn lernt man einander gut kennen. Nun
haben wir zwar insgesamt drei Ärzte an Bord, aber man
glaube ja nicht, daß diese privat die feinsten Menschen
sind. Christian zum Beispiel ist ausgesprochen gefräßig.
Was ich und auch viele andere nicht könnten, er bringt
es fertig. Gierig schlingt er kalte, verklebte Spaghetti
in sich hinein, mit bestandener Soße, davon würde
anderen nur schlecht werden. Wenn man wirklich Hunger
habe, würde man aber auch das essen, meint unser
Bootsmann: eine Verpflegung, die dem hohen Reisepreis
nicht gerecht wird. Es ist auch nicht unsere Schuld,
wenn unser Bootsmann schnell seekrank wird und seinen
Nebenjob als Schiffskoch deshalb nicht ausüben kann.
Keinem von uns war das vorher gesagt worden, denn es
hieß, daß an Bord gekocht würde und wir uns darum nicht
zu kümmern bräuchten. Jedoch kaum jemand von uns vermag
einzusehen, warum er sich mit trockenem, hartem Brot
begnügen soll. Selbst auf einfachsten Jachten findet man
heutzutage serienmäßig einen kardanisch aufgehängten
Herd, allein die Santa Maria Australis verfügt über
einen solchen nicht. Es ist also nicht möglich, bei
größerer Krängung an Bord zu kochen. Auch Jochens
Argument, daß die vielen Kranken an Bord keine große
Lust verspürten, etwas zu essen, und man schon aus
diesem Grund nicht zu kochen brauche, vermag ich nicht
gelten zu lassen. Schließlich kann man nicht auch noch
die Einsatzfähigkeit der wenigen Seetüchtigen an Bord
aufs Spiel setzen, denn wer soll das Schiff noch
steuern, wenn außer Martin, Helmut und mir niemand mehr
dazu in der Lage ist und auch wir noch durch
Unterernährung geschwächt sind? Nicht ohne Grund wurden
alle Wachpaarungen so gewählt, daß immer ein Erfahrener
mit einem Unerfahrenen zusammen ist, ein des Segelns
Kundiger mit einem Unkundigen.
Die
Delphine, die uns eine Zeitlang auf dem Bug folgen,
versprechen Besserung zu bringen. Die Seeschwalben, die
unserem Kielwasser hinterher fliegen, wären in unseren
Breiten Vorboten schlechten Wetters. Ob dies hier auch
so ist, muß uns ein Rätsel bleiben, denn von welcher Art
Insekten sie sich ernähren, finden wir selbst nach
längerem Nachdenken nicht heraus. Ringsum sind alle
Anzeichen dafür, daß Land in der Nähe sein könnte,
verschwunden, uns umgibt sonst nichts als das weite
offene Meer, mit meterhohen Wellen und immer stärker
sich ablösender Gischt. Die Winde drehen im Laufe des
Tages nach rechts, so daß wir schon bald auf den
angestrebten Südkurs gehen können. Aber es kommt anders,
als wir glauben. Als ich morgens aus meiner Koje
krieche, um meine Wache anzutreten, muß ich leider
feststellen, daß wir erst auf Höhe von Kap Horn sind.
Was ist passiert? Allen Unkenrufen zum Trotz ist der
Wind jetzt so schwach geworden, daß wir die Maschine zur
Unterstützung mitlaufen lassen müssen. Geschlafen habe
ich trotz ruhiger Nacht dennoch nicht, denn durch das
ständige Schaukeln rollt man nur von der einen Seite auf
die andere, ohne dabei ein Auge zuzutun. Mein Problem
ist nicht die Seekrankheit, mein Problem ist der Hunger.
Wir sind uns in den nächsten drei, vier Tagen selbst
überlassen, da ist niemand, der kocht, der den Tisch
deckt. Alles müssen wir uns selbst besorgen. Wenn etwas
fehlt, ist es gerade am andern Ende des Schiffs
verstaut. Mit gefüllter Kaffeetasse, die man nicht aus
der Hand lassen darf, eilt man zum nächsten Schapp, um
es mit der freien Hand, die man nicht zum Festhalten
braucht, nach dem Gesuchten zu durchwühlen. Und alle
sind wir in der Not egoistischer geworden, keiner tut
mehr etwas für den anderen, jeder ist sich selbst der
nächste. Die Kranken sind im Salon hingestreckt, ohne
daß ihnen jemand Essen reichen oder wenigstens ein
Getränk bringen würde, die übrigen haben sich durch die
doppelten Nachtwachen, die sie abgeleistet haben, eine
Erkältung zugezogen und husten oder müssen ständig
schneuzen. Wieder andere haben aufgehört, sich zu
waschen und die Zähne zu putzen und riechen schlecht;
beinah alle aber lassen sich gehen. Bernard ist wieder
auf die Beine gekommen: Unkraut vergeht eben nicht!
Soeben hat er mir noch erzählt, wie reich er sei, wie
viele Immobilien er in Paris und über ganz Frankreich
verteilt besitze, und schon hält er auch seine Kamera
wieder in Händen, er filmt einfach alles, alles ist für
ihn interessant! Tarryn wird von Tag zu Tag dünner, zur
Wache ist sie überhaupt nicht zu gebrauchen, sie ißt und
trinkt nichts, hängt nur herum, völlig apathisch. Ich
habe am Morgen eine kalte Dusche genommen, Kaffee und
heißen Tee getrunken, und fühle mich ersichtlich wohl,
genieße die frische Luft in vollen Zügen. Eine wahre
Armee von Albatrossen jagt hinter uns her, ihr Gekrächze
ist neben dem Gurgeln des Kielwassers und dem leise
mitlaufendem Motor das einzige Geräusch, das noch an
Leben erinnert. Als Helmut zur Wachablösung an Deck
kommt, erzählt er, daß sie in der Nacht einen Kometen
beobachtet hätten. Gegen Mitternacht soll er am
Firmament zu sehen gewesen sein, allerdings zeigte sein
Schweif nach Norden, ein böses Omen vielleicht, daß wir
besser umkehren sollten! Kurz darauf eröffnet uns
Martin, daß er keine Möglichkeit habe, den Wetterbericht
einzuholen, weil sich während der Nacht der
220-V-Konverter überhitzt habe. Da fällt mir ein, daß
ich dummerweise soeben genau an dieser Steckdose meinen
Fön angeschlossen hatte, wobei die Sicherung
herausgeflogen sein muß. Zum Glück gibt es noch eine
andere Möglichkeit, den Wetterbericht einzuholen, an die
wir bisher nicht gedacht haben. Nachdem nun eine größere
Tiefdruckrinne durchgezogen ist, kommt eine länger
anhaltende Schönwetterfront auf, der Wind flaut ab und
die Sonne lacht wieder vom Himmel. Der Seegang ist
abgeebbt, die Segel haben wir geborgen, die Maschine
angeworfen. Mit fünf bis sieben Knoten machen wir
reichlich wenig Fahrt, haben erst eine südliche Breite
von 57 Grad erreicht. Da fällt bei absolut ruhigem
Schiffsbetrieb plötzlich einer der beiden Motoren aus.
Wie sich bald herausstellt, ist lediglich der
Kraftstoffilter verstopft. Der Schaden ist schnell
behoben und wir können die schleppende Fahrt fortsetzen.
Kein Land ringsum, nicht einmal die Spur irgendeines
Schiffsaufkommens, und unser einziges Ziel, das wir vor
Augen haben, liegt immer noch irgendwo tief im Süden.
Mittlerweile kenne ich die Verhältnisse meiner Mitsegler
recht gut und weiß um ihre Interessen, der eine geht
mehr aus sich heraus, der andere weniger, doch sind es
immer wieder dieselben Themen, um die sich unsere
Gespräche ranken, die sich in Beruf, Familie und Luxus
erschöpfen. Das Stimmengewirr, die immer gleichen Witze
und Spötteleien werden langsam zu einem Gefängnis, von
dem man umgeben ist.
Graue Theorien sprechen bereits von vier Tagen, die
jemand für die Überfahrt ansetzen muß, zuzüglich zu dem
Tag, den wir wegen ungünstigen Wetters bereits eingebüßt
haben, wären es insgesamt fünf. Damit ist bereits ein
Drittel der Zeit ohne große Perspektiven verstrichen,
allein aufgrund unfreiwilliger Verzögerungen. Am Abend
unseres zweiten Tages auf der Drake-Straße sind wir
immer noch nicht weiter als bis zum 57. Breitengrad
gekommen. Unter Deck liegen, auch nachdem der Wind
längst abgeflaut ist, immer noch drei Leute herum, die
zu nichts zu gebrauchen sind, die aber verpflegt werden
müssen. Von den anderen, die aufrecht stehen können, ist
der Gemeinsinn gewichen, jeder wühlt in den Schapps
herum und zieht heraus, was ihm gerade beliebt, wie
unter Plünderern. Es gibt keine geregelten warmen
Mahlzeiten mehr, die gemeinsam eingenommen würden, und
dieselbigen zu organisieren gelingt trotz des
vielbeschworenen Teamgeists nicht. Dieses
Laissez-faire-Prinzip vertreibt bei einigen die Laune,
weder sind sie selbst dazu in der Lage zu kochen noch
auch sind schnell aufzutischende Fertiggerichte an Bord,
die wenigstens eine warme Mahlzeit täglich sicherstellen
würden. Mit dem ungeregelten Ablauf sinkt auch die
Stimmung, bei manch einem macht sich bereits
Niedergeschlagenheit breit, denn wenn sich um das
leibliche Wohl nicht gekümmert wird, stimmt bald auch
alles andere nicht mehr froh. Auf einem Kreuzfahrtschiff
würde man die Drake-Straße in nur zwei Tagen überqueren,
man hätte geregelte Mahlzeiten an Bord, und es wäre für
Unterhaltung gesorgt, und das alles zum halben Preis.
Wir hingegen wollten es anders haben, abenteuerlicher,
glaubten an die vollmundigen Versprechungen in den
Reiseprospekten, denn unser Ziel war es, unsere Grenzen
und unsere Belastbarkeit auszuloten. Wie schnell die
Grenzen eines an Luxus gewöhnten Menschen erreicht sind,
beweist sich hier: In unserem sogenannten »French
Quarter« (so nennen wir die vordere Kajüte, in der auf
engstem Raum unsere drei Franzosen untergebracht sind)
wäscht sich schon längst keiner mehr, die Dusche sei
völlig unbenutzt, versichert Bernard. Nun ist das Schiff
aber wiederum auch zu klein, als daß man gehörig auf
Distanz gehen könnte, und nur von einem feinfühligen
Menschen kann man erwarten, daß er erkennt, wie er auf
seine Umgebung wirkt. Gerade diese Fähigkeit aber ist
kultivierten und zivilisierten Menschen häufig abhanden
gekommen. Der Genuß auch nur irgendeiner Speise an Bord
bleibt angesichts dieses faden Beigeschmacks eher
fraglich. In der Not entbietet sich Christian, uns ein
Menue hinzuzaubern. Als das Gericht dann aber auf den
Tisch kommt, ist die Enttäuschung darüber eher groß:
Tomaten mit Olivenöl und ein hartgekochtes Ei. Ähnlich
erfindungsreich hatte er sich bereits bei den beiden
letzten Mahlzeiten gezeigt, die er uns kredenzte. Aber
der Wille zählt schließlich fürs Werk. Ich verkneife es
mir daher, irgend etwas daran auszusetzen, tröste mich
damit, daß es schließlich gut für unsere schlanke Linie
sei, und finde es immerhin anerkennenswert, daß er sich
für die Gemeinschaft einzusetzen bereiterklärt hat,
während die andern auch nicht im entferntesten auf die
Idee gekommen wären, sich für uns aufzuopfern. Als wir
das Mahl nach viel Aufwand endlich bereitet haben, hat
Bernard, unser kleiner französischer Barbar, bereits mit
dem Essen angefangen, noch ehe alle etwas auf dem Teller
haben. Wir schelten ihn deshalb, und am liebsten hätte
er seinen Tellerinhalt darob wieder in den Topf
zurückgekippt. Als ich mich nach entbehrungsreicher Zeit
mit Genuß dem Essen hingebe, redet Bernard, während ich
esse, pausenlos auf mich ein, wenngleich ich ihm zu
verstehen gebe, daß der Vogel nicht zwitschert, wenn er
frißt. Als ich ihm nicht mehr zuhöre, fängt er an,
lauthals in der Runde ein Trinklied anzustoßen, während
die anderen alle still vor sich hin essen. Ungeschickt
wie er ist, oder einfach nur unachtsam, kippt er dabei
mein Weinglas um, so daß sich dessen gesamter Inhalt
über meine Hose ergießt. Ärgerlich weise ich ihn
zurecht, er hingegen meint beschwichtigend, das sei
alles gar nicht so schlimm, und wirft mir dabei das
Spültuch zu, das voll in meinem Teller landet. Wie hätte
ich es auch auffangen sollen, mit Messer und Gabel in
Händen? Meine Aufgebrachtheit gegen ihn hat sich, auch
wegen vieler anderer Kleinigkeiten, die mich an ihm
stören, mittlerweile derart gesteigert, daß ich ihn
scharf zurechtweisen muß, auch wenn er mir deswegen
beleidigt ist. Daß Franzosen kaum oder nur wenig Kultur
haben, ist nun durchaus nichts Neues, wie weit es aber
mit ihnen gehen kann, war selbst für mich, der ich
dieses Volk genauestens kenne, überraschend.
Doch auch mit unseren Österreichern ist es nicht weit
her. Martina, der Frau von Walter, merkt man an, daß sie
aus einfachen Verhältnissen stammt. Nachdem sie bereits
aufgegessen hat und ihr Teller bereits leer ist, wischt
sie ihn, nachdem er schon eine Viertelstunde auf dem
Tisch gestanden hat, noch mit den Fingern ab und leckt
die erkalteten Reste auf, wobei ich mir meinen Teil
denke. Christian greift sich das schon seit drei Tagen
in Benutzung befindliche Geschirrspültuch, das mit
Speiseresten bekleckert ist, und wischt sich damit den
Mund ab. Jochen läßt jeden wissen, daß er sich nur alle
zwei Wochen einmal dusche. Er pinkelt auch am Tage über
die Reling, ohne sich anschließend die Hände zu waschen,
und faßt danach das Essen wieder an, das er für uns
zubereitet. Bertrand hat lange und ungeschnittene
Fingernägel, so daß ich jedesmal innerlich
zusammenzucke, wann immer er sich an der
Essenszubereitung beteiligt. Auch ißt er alles mit den
Fingern und schmatzt ständig laut dabei. Helmut und
Christian haben auch die Angewohnheit, das Behältnis, in
dem sie ihr benutztes Toilettenpapier sammeln,
regelmäßig dann an Deck zu bringen, wenn andere gerade
beim Essen sitzen. Derart ist es also um die Kultur
meiner Mitsegler bestellt.
Als
Alain und ich Punkt Mitternacht unsere Wache antreten,
hat sich der Himmel wieder zugezogen. Schade, hatten wir
doch darauf gehofft, besagten Kometen, der sich gestern
am Himmel zeigte, auch noch heute beobachten zu können,
wenn es denn einer war. Statt dessen tut sich uns ein
anderes, noch viel unheimlicheres Phänomen auf: wir
sehen am Horizont Lichter, dort, wo nach menschlichem
Ermessen keine sein können. Sie zeigen sich genau im
Süden, und ich mutmaße schon, daß es sich um
Polarlichter handeln könnte. Was es aber in Wirklichkeit
gewesen ist, habe ich bis heute nicht herausfinden
können. Vermutlich hat es sich nur um ein sehr
entferntes Loch in der Wolkendecke gehandelt, durch das
Resthelligkeit des Himmels zu sehen war. Als wir unsere
Wache beenden, haben wir den 58. Breitengrad erreicht,
der auf unserer Längenposition mit der Treibeisgrenze
übereinstimmt. Jochen meint zwar, daß es
unwahrscheinlich sei, hier an dieser Stelle auch nur auf
kleine Eisbrocken im Wasser zu stoßen, dennoch werden
wir ab jetzt unsere Aufmerksamkeit beim Ausschauhalten
erhöhen. Den Rest der Nacht verbringe ich mit
erquickendem Schlaf. Nachdem die zermürbenden
Stampfbewegungen des Schiffs nun aufgehört haben, die
See merklich ruhiger geworden ist, sind bei den meisten
auch die Ängste verflogen, und die gute Stimmung kehrt
allmählich zurück. Lediglich unsere Australierin liegt
noch immer mutlos im Salon. Schon als ich sie das erste
Mal sah, stellte ich mir im stillen die Frage, ob dieses
schwache Geschöpf unserem Vorhaben gewachsen wäre, und
somit haben sich meine Befürchtungen aufs vollste
bestätigt, denn noch immer kreidebleich im Gesicht,
wirkt sie von Tag zu Tag erschöpfter. In solchen
Notsituationen kann man auf die selbstheilenden Kräfte
der Natur vertrauen, die in einem die letzten
Widerstandskräfte mobilisieren.
Mittlerweile finden wir uns alle recht gut damit
zurecht, wo sich die lebenswichtigen Dinge auf diesem
Schiff befinden, denn diese wurden ohne alle Regel
wahllos über alle Schapps verteilt. An mir selbst kann
ich beobachten, wie sich meine Eßgewohnheiten in dieser
Ausnahmesituation verändert haben. Anstatt Kaffee trinke
ich morgens Tee und gebe Zucker hinein, was ich zu Hause
nie tun würde. Den nötigen Energievorrat verschaffe ich
mir durch mehrere Müsliriegel täglich, teils aus
praktischen Gründen, weil ein Brot zu schmieren nicht
geringe Umstände bereitet, teils weil ich das ewig
trockene Weißbrot und die immer gleiche Marmelade nicht
mehr sehen kann. Schon kurz nach dem Frühstück hole ich
mir frisches Obst hervor, und zur nachmittägigen
Brotzeit hat man mich nicht selten nur mit einer Tomate
und Salz bewaffnet speisen sehen. Auch süße Fruchtsäfte
und Kuchen schlinge ich haufenweise in mich hinein, eine
normalerweise nicht sehr gesunde Art der Ernährung, die
aber gerade bei Magenempfindlichkeit eine leicht
verdauliche Kost darstellt, welche alldieweil auch für
Seekranke bekömmlich ist. Überhaupt ist gerösteter
Schiffszwieback, den man zu Hause wohl nie essen würde,
an Bord eines Schiffes eine überaus bekömmliche
Mahlzeit.
Was
hat sich derweil auf unserer Reise Erwähnenswertes
getan? Kurz bevor ich meine nächste Wache antrete,
überschreiten wir den 59. südlichen Breitengrad, bei
sieben Knoten Fahrt über Grund legen wir in einer Stunde
genau sieben nautische Meilen zurück. Da 1 Grad 60
nautischen Meilen entspricht, benötigen wir für jeden
Grad etwa 8-9 Stunden. Drei Grad haben wir noch bis zu
den Süd-Shetland-Inseln zurückzulegen, d.h. wir werden
noch ca. 24 Stunden oder einen vollen Tag unterwegs
sein. Die Windstärke ist mittlerweile auf Null
abgesunken, ein Seegang ist auch kaum mehr wahrzunehmen.
Unbeirrt arbeitet sich die Santa Maria Australis nach
Süden vor. Die Wassertemperatur beträgt immer noch
ansehnliche 7 °C, der Luftdruck liegt bei 1005 hPa, was
auf ein ausgedehntes Hoch hindeutet. Walter erzählt mir,
daß er an einer Großwetterwarte arbeitet, die sich mit
der Auswertung weltweiter Wetterdaten anhand bestimmter
Klimamodelle beschäftigt. Über e-Mail ruft er in
Abständen immer wieder Wettervorhersagen ab. Doch alle
Prognosen für Wind lauten auf Windstille bzw. schwache
südwestliche Winde. Darauf angesprochen meint Jochen,
die »Drake« habe eben zwei Gesichter, deren eines Extrem
wir gerade erlebten. Unten im Salon sitzen einige und
schreiben Postkarten, andere geben Flaschenpost auf. Die
Technik hat es auch möglich gemacht, über
Satellitentelefon mit seinen Angehörigen kommunizieren
zu können.
Ein
Segeltörn in die Antarktis nimmt auch unter günstigen
Bedingungen dreieinhalb Tage in Anspruch. Seinen
seglerischen Ehrgeiz muß man wegen der 500 sm, die dabei
zurückzulegen sind, etwas zurückschrauben. Man kann
nämlich nicht erwarten, daß man diese Strecke
ununterbrochen durchsegeln kann. In der Regel müssen
längere Schwachwindphasen bis hin zu anhaltenden Flauten
durch ständiges Motoren überbrückt werden. Wo soeben
noch eitel Sonnenschein herrschte, sind plötzlich dunkle
Wolken aufgezogen. Bei drei ausgebrachten Segeln machen
wir eine Fahrt mit Spitzen von 8,5 Knoten. Der Wind
bläst weiterhin aus südwestlicher Richtung, der
Luftdruck ist bis auf 1011 hPa angestiegen. Insgesamt
bewegt sich das Wetter exakt innerhalb der Vorhersagen.
Als wir den 60. Breitengrad erreicht haben, ist dies
erst einmal ein Grund zum Feiern. Ab jetzt gelten
hinsichtlich des Ausbringens von Abfällen strengere
Vorschriften, nicht einmal organische Abfälle dürfen
jetzt noch ins Meer gekippt werden. Das anschließende
»Festessen« fällt wieder einmal äußerst knapp aus: ein
Teller Suppe für jeden und ein elendes Häuflein
Gurkensalat mit Butterbrot. So haben einige von uns sich
das nicht vorgestellt und beginnen deshalb zu meutern.
Besonders in Christian, unserem nimmersatten
Allgemeinmediziner, der nach eigenen Angaben immer
Hunger hat, steigt ersichtlich die Nervosität, sowie
sein Zuckerspiegel auch nur abzusinken droht. Unruhig
und fahrig wirkt er dann, und er steckt uns mit seiner
Ungeduld an, überträgt seine Nervosität auf andere.
Meine letzte Wache endet am heutigen Sonntag um 22 Uhr
argentinischer Zeit, damit liegt eine ungestörte Nacht
mit acht Stunden Schlaf vor uns, die nur unterbrochen
wird, wenn Helmut aus seiner Koje muß. Allerdings sollte
ich mich hinsichtlich der ungestörten Nachtruhe aufs
äußerste täuschen.
Wind und Wellen nehmen in der Nacht erneut zu, so daß es
mich fast aus meiner Koje schmeißt. Die Geräusche, die
vom Schiff kommen, hören sich an, als würde es jeden
Augenblick auseinanderfliegen oder als würde es aus
größerer Höhe aufs Meer geworfen. Das Schiff scheint von
den Wellenbergen förmlich abzuheben, für kurze Zeit
übers Wasser zu fliegen, um sodann gegen den nächsten
Brecher zu donnern. Es geht um, als würde die Wilde Jagd
hinter uns herreiten. Vorzeitig krieche ich aus der
Koje, setze mich fröstelnd an Deck, zwei Stunden bevor
meine eigentliche Wache beginnt. Als ich das Ruder
übernehme, herrschen ideale Segelbedingungen. Mit bis zu
8,5 Knoten nehme ich eine Woge nach der anderen. Ich
weiß nicht, was die Ursache war und ob die Segelfläche
für diese Windstärke nicht vielleicht zu groß war, denn
plötzlich reißt im Strudel der Gefühle, beim Versuch,
noch mehr Fahrt herauszuholen, die Genoaschot; es gibt
zuerst einen dumpfen Schlag, dann rauscht das Segel aus,
flattert wie wild im Wind. Der Bootsmann wird aus seiner
Koje geholt, er muß nach vorne aufs Schiff, um das Segel
zu bergen. Noch scheint nichts verloren, die Genoa wird
gegen die Fock ausgetauscht, was uns jedoch erheblich
Fahrt aus den Segeln nimmt. Zu allem Unglück reißt auch
noch ein Schäkel aus und löst die Großschot aus ihrer
Verankerung. Auch hier weiß sich der Bootsmann zu helfen
und bringt eine Nothalterung an. Allerdings müssen wir
uns doch sehr wundern, welche Alterserscheinungen unser
Schiff bereits zeigt.
Etwa 40 Seemeilen von Livingston Island entfernt lege
ich mich nochmals aufs Ohr, vielleicht wird, wenn ich
erwache, schon Land zu sehen sein. Aber es will sich
kein Land zeigen, die Stunden vergehen, unsere Geduld
wird auf eine harte Probe gestellt, das ständige
Stampfen des Schiffs ist auch im Liegen nicht zu
ertragen. Wir können nichts anderes tun, als in der
Kajüte die Stunde Null abzuwarten, ohne Träume, ohne
Ansprache. Stunden des Wartens vergehen, sinnlos,
zwecklos. Christian ist schon nahe daran aufzugeben, er
erwägt den Gedanken umzukehren. Das GPS fällt eine
Zeitlang aus, weil es nicht genügend Satelliten findet.
Draußen ist alles grau in grau, die Wellen rasen vorbei,
das Ächzen des Schiffsrumpfs klingt wie ein leises
Klagen, wie entfernte Hilferufe einer weinenden Frau.
Die Temperatur des Meerwassers hat nicht signifikant
abgenommen, vom Überschreiten der antarktischen
Konvergenz haben wir nichts bemerkt. Nichts ist mehr wie
früher, das Klima ändert sich, selbst Wolf, der in
Puerto Williams am Ende der Welt lebt und die Antarktis
kennt wie kein anderer, kann dies bestätigen. Ich konnte
es erst nicht glauben, als uns dort irgendwelche
Rückkehrer berichteten, daß sie 6 °C
Meerwassertemperatur gemessen hätten, aber sie hatten
recht damit. Im Laufe des Tages soll der Wind abflauen,
so jedenfalls will es der Wetterbericht wissen und
verspricht bessere Sicht, womit der trostlosen Monotonie
ein Ende bereitet wäre. Wie angenehm war es doch
gestern, draußen in der Sonne zu sitzen und ihre
wohligen wärmenden Strahlen zu genießen, und schon ein
winziges Loch in der Wolkendecke, durch welches ein
wenig Blau schimmert, weckt Hoffnung in dem ewigen Grau.
Zurück zu unserem Schiff! Eigentlich werden wir ja
verwöhnt an Bord: Bootsmann und Skipper kümmern sich um
alles, sie kochen, waschen und räumen ab, während wir
nur mit uns selbst klarkommen müssen. Wir sind es, die
zusehen dürfen, wie die beiden sich abplacken, und
keinen Finger zu rühren brauchen. So gut meint es das
Schicksal mit uns, doch wir sind auch noch undankbar.
Unsere Planung sieht die Ansteuerung von Deception
Island vor, wo wir bei jedem Wetter gut geschützt liegen
können. Zunächst müssen wir dazu aber den 63. südlichen
Breitengrad erreichen, auf dem wir einen Wegepunkt in
Höhe von Snow Island eingegeben haben. Durch die
Boyd-Straße wollen wir zwischen den Süd-Shetland-Inseln
hindurchsegeln und dann in östlicher Richtung auf
Deception Island zusteuern.
Nachdem ich mich zur Ruhe
begeben habe, weiß ich, daß ich nicht der erste sein
würde, welcher Sichtkontakt mit der Antarktis bekäme.
Ein Rufen: »Wir sehen Land!« läßt mich aus meiner Koje
springen, während die andern noch schlafen. Ich stürze
hinauf an Deck und frage nur: »Wo seht ihr das?« »Dort
vorne im Nebel«, lautet die Antwort, »seit zehn Minuten
sehn wir es.« »Ich sehe nichts. Wo soll das sein?« frage
ich weiter. An Deck herrscht gebanntes Schweigen.
»Gleich muß es wieder zu sehen sein,« antwortet
Christian. »Gebt mir das Fernglas«, hake ich nach.
»Hier!« sagt er und überreicht es mir mit einem
Fingerzeig, »dort an Steuerbord.« Einige Sekunden blicke
ich gespannt durch das Glas: »Ich kann nichts sehen,
habt ihr euch auch wirklich nicht getäuscht?« »Nein«,
meint Christian. »Wer von euch hat es zuerst gesehen?«
frage ich zurück. »Ich!« lautet seine knappe Antwort.
Christian hat mit der Krängung genug zu kämpfen, er kann
sich nicht auch noch auf mich konzentrieren. Minuten des
Wartens vergehen, bis der Wolkenvorhang plötzlich
aufreißt, lange genug jedoch, um für den Bruchteil einer
Sekunde die Richtigkeit seiner Beobachtung zu
bestätigen. »Jetzt sehe ich es auch!« rufe ich
erleichtert aus, »das ist sie, die Antarktis.« Ein
eiskalter Schauer läuft über meinen Rücken, ein
zitterndes Glücksgefühl bebt in mir.
Am Abend des 21. Januar 2007 gegen 20.25 Uhr ist es
endlich soweit. Vor uns taucht Smith Island auf, mit dem
1300 m hohen Mount Foster als höchster Erhebung. Smith
Island steigt unerwartet und jählings aus dem
Südpolarmeer auf, seine Hänge sind schneebedeckt,
schroff und abweisend. Es ist dies für uns ein
Augenblick der Freude, das lang ersehnte Ziel, es ist
erreicht. Selten hinterließ eine Begegnung bei mir einen
so nachhaltigen Eindruck wie jene erste Berührung mit
dem meistweltabgeschiedenen Kontinent, den wir kennen,
eine gewaltige, hinter den meterhoch sich türmenden
Wellen und den unermüdlich vor uns herfliegenden
Seemöwen sich auftürmende Bergkulisse mit
beeindruckenden Schneefeldern und sich ins Meer
ergießenden Eismassen. Mit Erreichung der ersten
Süd-Shetland-Insel ist jedoch kein Landgang verbunden,
da diese allseits steil ins Meer abfällt und zu
unwirtlich ist, um überhaupt einem Besucher das Anlegen
zu ermöglichen. Nach einer vorgenommenen Kursänderung
gen Osten stoßen wir nach weiteren 35 Seemeilen auf
Deception Island, einen noch heute tätigen Vulkan, in
dessen Caldera man hineinfahren kann. Urweltlich und
entrückt sieht diese Insel aus, wenn man sich ihr von
See aus nähert. Hier haben Basalt und Winderosion
gemeinsam einen schier unglaublichen Einfallsreichtum
bewiesen, um zu formvollendeter Gestaltung zu gelangen:
Zacken, Zinnen und Kronen bekränzen die steil ins Meer
abfallenden Basaltsäulen, die nur Pinguinen einen
erträglichen Lebensraum sichern, den hier lebenden Wal-
und Robbenfängern aber eher zum Grauen gereichten, wenn
die Erde bebte. Jederzeit kann dieses schlummernde
Monster sein Unwesen aufs neue entfachen, indem es sich
durch Aufkochen des Meeres und Erdstöße ankündigt. Dann
ist allen Jachten und Schiffen, die auf dem Kratergrund
ankern, tunlichst das Verlassen der Insel und das Weite
zu suchen angezeigt. Nachdem wir in den frühen
Morgenstunden, die um diese Jahreszeit schon einem
fortgeschrittenen Sonnenstand entsprechen, in die
Caldera eingelaufen sind, alle wie gebannt das
Schreckliche schauend, steuern wir sogleich unseren
Ankerplatz an, der allerdings keinen guten Untergrund
bietet, so daß wir nach dem Frühstück das Boot versetzen
müssen. Sogleich nach dem Begrüßungstrunk machen wir uns
daran, die Terra australis incognita zu betreten. Auf zu
unserem ersten Landgang, ein wahrhaft historischer
Moment!
Ohne großes Pathos betreten wir am Montag, den 21.
Januar 2007, gegen 9 Uhr morgens den Boden der
Antarktis, auf Deception Island, der Insel der
Täuschung, die es eigentlich, wie alle der ursprünglich
18 angenommenen Inseln, gar nicht geben dürfte. Mit dem
Sprung vom Dingi haben wir nach insgesamt vier Tagen
wieder festen Boden unter den Füßen. Mit dem
Aufplatschen im Wasser betrete ich die Antarktis als den
letzten von insgesamt sechs Kontinenten. Nie war eine
Reise für mich anstrengender und herausfordernder
gewesen. Nach der Überquerung der Drake-Straße haben wir
es wahrhaftig verdient, uns die Antarktis als den
letzten noch unerschlossenen Kontinent untertan zu
machen, und so wie dieser Traum Wirklichkeit geworden
ist, ist auch Deception Island, wo wir das erste Mal
antarktischen Boden betreten, keine Täuschung, schon gar
keine Enttäuschung, es ist eines der meistentlegenen
Rückzugsgebiete, in die man sich flüchten kann,
allerdings ohne dort wirklich alleine zu sein. Denn
soeben setzt ein russischer Eisbrecher, zu einem
Kreuzfahrtschiff umfunktioniert, einige Dutzend
Touristen an Land, die uns, allesamt gleich gekleidet,
aus der Ferne wie gelbe Pinguine vorkommen und in jedes
Bild laufen. Es handelt sich zumeist um finanzstarke,
aber ansonsten gebrechliche ältere Herrschaften, die
sich vorgenommen haben, zum Ausklang ihres Lebensabends
sozusagen, auf die bequemste Art, die man sich denken
kann, die entlegenste und am schwierigsten zu
erreichende Region der Erde zu bereisen, allen früheren
Entdeckern und Abenteurern zum Hohn. Wir sind um eine
Illusion ärmer geworden. Gebe Gott, daß dieser
Schnäppchentourismus endlich aufhört! Ein frommer Wunsch
zwar, der aber kaum in Erfüllung gehen dürfte, denn die
Antarktis weist jährlich steigende Besucherzahlen auf.
Wie
besessen beginne ich, kaum daß ich antarktischen Boden
betreten habe, loszulaufen, zuerst den Strand entlang,
dann hinauf zu Neptuns Fenster, wo sich uns ein
fantastischer Blick hinab auf die enge Einfahrt in die
Caldera von Deception Island auftut und auf die höchsten
Erhebungen des umlaufenden Kraterrandes. Es ist wie im
Märchen, unter meinen Schritten gerät die Natur aus
ihren Fugen. Fantasievolle Felsgestalten, soweit das
Auge reicht, wurden hier von plutonischen Kräften aus
dem Gestein gemeißelt, wie Plastiken von einem
Steinmetzen, der kein geringerer ist als die Natur
selbst, geformt und mit ungeahnter Vollendung zu
bildhaften Symbolen gewandelt, denen lediglich der
eingehauchte Lebensodem fehlt. Zug um Zug arbeite ich
mich die Felsen weiter empor, bis ich, beinah atemlos,
den Kraterrand erreiche. Ein wahrhaft wundersamer Blick
bietet sich von dort über das gesamte Eiland und hinüber
zur antarktischen Halbinsel, die noch über hundert
Seemeilen von hier entfernt ist. Hier war es auch, wie
vermutet wird, wo Edward Bransfield als erster Mensch
das antarktische Festland gesehen hat, doch bezeugt ist
dieses nicht. In der glasklaren und wolkenlosen Luft
zeichnen sich die schnee- und firnbedeckten Berge der
Trinity-Halbinsel messerscharf gegen den Himmel ab. Die
Sonne erreicht in der Antarktis einen gewaltigen
UV-Anteil, bedingt vor allem durch das ständig größer
werdende Ozonloch. Ungeschützt sollte man sich der
prallen Sonne am besten gar nicht aussetzen, will man am
nächsten Tag nicht aussehen wie ein scharlachroter
Musketier. Im feinen Lavasand bereitet der Aufstieg zwar
einige Mühe, dafür kann man auf ihm in Gummistiefeln
aber auch abfahren wie auf einer Skipiste. Auch die
Gletscherbrille leistet wertvolle Dienste. Den Tieren
darf man nicht so nahe kommen, daß sie sich auch nur in
irgendeiner Form gestört fühlen könnten.
Nachdem wir das Abenteuer Deception Island hinter uns
gebracht haben und das Dingi uns wieder an Bord geholt
hat, können wir uns nach entbehrungsreichen Tagen
mangelnder Körperpflege endlich wieder einmal einem
warmen Brausebad hingeben. Man kann sich nämlich an den
Schmutz sehr wohl gewöhnen und völlig verwildern, sehr
zum Leidwesen der anderen, die sich durch das
barbarische Äußere abgestoßen fühlen. Gegen Abend
verlegen wir unser Fahrzeug von der Whalers Bay in die
Telephone Bay, weil bei jener der Anker nicht halten
will. Doch auch in der Telephone Bay haben wir Probleme,
denn in dem losen vulkanischen Grund gräbt sich der
Anker nur schwer ein. Die Telephone Bay liegt bizarr
zwischen Schlacke-Hügeln eingebettet, deren Wasser
inmitten des umgebenden rötlichen Saums in der
auftreffenden Abendsonne smaragdgrün zu leuchten
beginnen. Große Beachtung an Bord finden die
Teleaufnahmen unseres Alain, der seine Bilder sogleich
auf einem mitgebrachten Laptop auswertet. Alle anderen
verwenden ebenfalls ausschließlich Digitalkameras, der
einzig Altmodische, der noch überwiegend Dias macht, bin
ich. Daher beneide ich die anderen ein wenig, die sofort
sehen, ob ihre Bilder etwas geworden sind.
Menschen verhalten sich oft indifferent, das gilt
insbesondere auf einem Segeltörn. Zunächst will keiner
an Land, als ich jedoch als einziger darauf poche, löse
ich eine Welle der Nachahmung aus, und plötzlich wollen
alle an Land zum Wandern. Die vulkanischen Aschehügel
der Umgebung sind zwar nicht gerade ideal zum Gehen und
Klettern, doch so schlecht wiederum auch nicht, daß man
auf ihnen nicht querfeldein marschieren könnte. Wie zwei
Piraten stürmen Kapitän und Bootsmann den anderen um die
Wette voraus, als ginge es darum, als erster den
verborgenen Schatz von der Schatzinsel zu bergen. Ich
erklimme beinah jeden der Hügel, die sich rings um
unsere Bucht aufreihen wie zu einer Perlenkette, um
Fotos von unserer Jacht zu schießen. Leider spielt aber
das Wetter nicht mit, so daß ich mich diesen
Anstrengungen ganz umsonst aussetze. Launisch und windig
zeigt es sich, so daß die Natur in ihrer erschreckenden
Kargheit noch unheimlicher erscheint. Die noch nicht
ganz erloschene vulkanische Tätigkeit gibt Anlaß zu den
verschiedensten Anthrazit-, Rot- und Ockertönen, eisige
Überreste mischen sich mit dem schwarzen Lavastaub zu
einer trügerischen Masse. Teils auf weichem Grund
einsinkend, teils auf Geröll abrutschend, sind die Wege
in Antarctica durchaus beschwerlich. Verödete Krater
wechseln ab mit milchigen Seen. Von draußen kommt durch
die schmale Einfahrt eine zweite Jacht herein, die sich
uns im weiteren zugesellt. Nachdem dunkle Wolkenfelder
durchgezogen sind, reißen die Himmel plötzlich wieder
auf, und die Sonne läßt diese Welt in allen Farben aufs
herrlichste wie neu erstrahlen. Dann geht es zurück aufs
Schiff. Unser ins Wasser gefallenes Dingi hat uns bis
jetzt keine größeren Probleme bereitet, wenngleich das
Anlassen des Außenborders zunehmend länger dauert.
Deception Island, der erste große Anlaufpunkt für all
diejenigen, die die Drake-Passage hinter sich gebracht
haben und auf dem Weg in die Antarktis sind, liegt
dieser zwar schon sehr nahe, gehört aber eigentlich noch
nicht zum antarktischen Festland. Am nächsten Morgen um
fünf Uhr verläßt die Santa Maria Australis, ohne daß die
Schlafenden etwas davon merken, Port Foster und nimmt
Kurs auf Enterprise Island. Bald hat sie die
zerklüfteten Klippen vor der schmalen Einfahrt in den
Vulkan verlassen und nimmt östlichen Kurs auf. Die Sonne
steht trotz der trüben Morgenstunden bereits hoch am
Himmel; wegen der Nähe des Polarkreises dauert die Nacht
nur wenige Stunden. Die Überfahrt zur antarktischen
Halbinsel soll einen vollen Tag in Anspruch nehmen,
Winde haben wir dabei kaum zu erwarten. Morgens komme
ich wie immer als einer der ersten aus meiner Koje
gekrochen und übernehme erst einmal das Ruder, um mir
Appetit aufs Frühstück zu verschaffen. Das Meer mißt 4,5
°C und wir haben immer noch keinen einzigen Eisberg
gesichtet. Dort, wo wir hin wollen, herrscht schönstes
Wetter, man kann es aus der Ferne erkennen, und im Dunst
zeigen sich bereits die hohen Berge der antarktischen
Halbinsel, von mächtigen Schnee- und Eismassen bedeckt.
Dies ist die Zeit, um über einige philosophische Aspekte
nachzusinnen, speziell meine ich hier die Selbstsucht:
bei einigen nämlich glaube ich bereits deutliche
Anzeichen einer beginnenden Verrohung zu erkennen. Ich
bin mir bewußt, daß ich hier sozusagen mit den oberen
Zehntausend unterwegs bin, Leuten also, die es aufgrund
ihrer Ausbildung zu mehr gebracht haben als andere. Man
darf nun nicht etwa meinen, daß den oberen Zehntausend
auch eine Herzensbildung im Umgang mit Menschen eigne,
nein im Gegenteil, sie zeigen die häßlichen Seiten des
Menschseins viel deutlicher als weniger Gebildete, ihre
Rücksichtslosigkeit nämlich. Mein Zimmergenosse Helmut
beispielsweise: schon in der Nacht habe ich mich über
ihn geärgert, als ich nämlich wach werde, weil er,
obwohl ich ihm schon hundertmal erklärt habe, warum er
es nicht tun soll, wieder die Kajütentür sperrangelweit
geöffnet hat. Durch die eindringende Wärme ist es derart
warm in der Koje – ich liege noch dazu in der oberen –,
daß ich jedesmal völlig ausgetrocknet und schweißgebadet
erwache. Er möchte es eben lieber warm, so sein Einwand,
während ich es lieber kalt mag. Ich liege, aus
hygienischen Gründen wohlgemerkt, in meinem Schlafsack,
er hingegen deckt sich nur mit dem dünnen Bettzeug zu.
Es dürfte wohl klar sein, daß derart konträre
Gewohnheiten zu keiner Einigung führen, also werde ich
ihn diesbezüglich nochmals ansprechen. Als ich später
mein Frühstück zubereiten will, stelle ich fest, daß
Helmut den letzten Apfel an Bord in sein Müsli
verarbeitet hat, ohne ihn mit wenigstens einem zu
teilen. Er hat scheinbar nie gelernt, daß man sich nie
ohne zu fragen das letzte Stück nimmt. Unbeeindruckt
sitzt er in seinem Eckchen und stampft sein Müsli in
sich hinein. Weil es für den Apfel ohnehin zu spät ist,
muß ich ihm wenigstens noch zum Vorwurf machen, daß er
das Müslibehältnis zwar geleert, nicht aber nachgefüllt
habe. Dabei ist gerade er es gewesen, der gemeint hat,
daß man auf einem Segeltörn seine Mitmenschen am besten
kennenlernen kann. Christian, der Zeuge unserer
Auseinandersetzung wird, meint dazu nur spöttisch, daß
wir vielleicht demnächst an einem Apfelbaum vorbei
kämen, was alle unsere Probleme löse. Er bringt mich
durch seinen Beschwichtigungsversuch der Lösung des
Problems zwar nicht einen Schritt näher, dafür aber ganz
schön auf die Palme, denn mein Appell an mehr Gemeinsinn
verhallt ungehört. Und noch einer kommt mir in die
Quere, nämlich unser Spaßvogel Bernard. Nicht nur, daß
er an Bord demonstrativ in kurzen Hosen und
Filzpantoffeln herumläuft, er hat sich auch das Buch,
das ich zu lesen begonnen habe, unter den Nagel
gerissen, so daß ich den Versuch, es jemals auszulesen,
aufgeben muß.
Es
ist 9.30 Uhr an jenem Tage, als die Santa Maria
Australis ihren ersten Eisberg sichtet, etwa 45° an
Backbord relativ zur Recht-voraus-Richtung, in einer
Entfernung von viereinhalb Seemeilen. Die Eisberge
scheinen nun zahlreicher auf, stets befinden sich zwei
bis drei, die wir aber alle in sicherem Abstand
passieren, in unserer Nähe. Bei guter Sicht sind
Eisberge völlig ungefährlich, wenn man sich ihnen in
langsamer Fahrt nähert und die Unterwasserverfärbung
rechtzeitig wahrnimmt. Plötzlich reißt die hartnäckige
Wolkendecke, die sich zäh über den Inseln gehalten hat,
auf und ein prächtiger Blick tut sich auf auf das
martialisch aus dem Meer aufsteigende Kap Wollaston mit
dem ca. 120 m hohen Tower Hill auf Trinity Island,
dessen höchste Erhebung in gleißendes Weiß getaucht ist.
Steuerbords rückt Hoseason Island näher, eine weitere
vorgelagerte Insel auf dem Palmer-Archipel, womit wir
die Bransfield-Straße endgültig überquert hätten und in
die Gerlach-Straße einlaufen. Bransfield war der erste,
der jemals antarktischen Boden betreten hat; von Gerlach
war ein belgischer Offizier im Rang eines Leutnants, der
die belgische Regierung von einer Antarktisexpedition
überzeugen konnte und 1897-98 die nach ihm benannte
Wasserstraße vermaß und kartographierte. Eisberge waren
in den Jahren, als die ersten Entdeckungen in der
Antarktis gemacht wurden, oft Ursache für vermeintliche,
in Wirklichkeit aber nicht existierende Inseln. Von
jener Schwierigkeit der Identifizierung werden wir im
Augenblick heimgesucht. Vor uns liegt ein riesiger
Eisberg, dessen Entfernung wir nur schwer schätzen
können und den wir daher mit der Insel Christiana
verwechseln. Der Irrtum klärt sich jedoch rasch auf.
Nachdem wir nun seit Verlassen des Beagle-Kanals auch
nicht die Spur von weiteren Schiffen entdeckt haben, die
sich das Seegebiet mit uns teilen würden, fällt unsere
erste Begegnung mit einem anderen Boot dann doch
überraschend aus. Recht voraus hält eine Jacht auf uns
zu, die den Namen »Le Sourire« führt und französischer
Nationalität ist. Sie gehört Hugh Delignières und Marie
Paul, die ebenso wie Wolf in Puerto Williams leben und
die uns jetzt über Funk grüßen. Offenbar ist man
neugierig geworden, wer sich in diesen Breiten sonst
noch aufhält. Während wir ganz aufs Fotografieren
fixiert sind, muß einer von uns mit Maschinenöl in
Berührung gekommen sein, denn seine Spuren lassen sich
durchs ganze Schiff verfolgen. Es stellt sich heraus,
daß unser kleiner Schelm Bernard die Ursache ist, der
aber gleich abwehrt, daß dies ein Komplott der Deutschen
gegen ihn sei. Mittlerweile gibt es an Bord, nachdem
noch nicht einmal die hälftige Reisezeit abgegolten ist,
kein frisches Obst mehr, und das Brot fängt bereits an
zu schimmeln. Ehe wir es uns versehen, fällt Nebel ein,
was die Navigation und das Eiswache gehen bedeutend
schwieriger macht. Größere Eisberge können leicht im
Radar ausgemacht werden, gefährlicher sind da die
kleineren Brocken, die einen ganz schönen Schlag
erzeugen, wenn man mit ihnen zusammenprallt.
Um
13.20 Uhr sichtet die Santa Maria Australis bei dichtem
Nebel den ersten Wal, auf 63° 46' südlicher Breite. In
gleichmäßig ruhiger Fahrt von 7 kn fahren wir die
Gerlach-Straße entlang, zur Rechten die Insel
Christiana, zur Linken die Davis-Küste, zwischen der und
Trinity Island die Orleansstraße einmündet. An die
Davis-Küste schließt die Danco-Küste an, einem unendlich
ausgedehnten Tafelberg gleichend. Kap Herschel, der uns
nächstgelegenen Landzunge gegenüber liegt die
Diamoneninsel. Vor dem Kap treibt ein gewaltiger
Eisberg, wir schätzen seine Höhe auf 20 m. Da die See
ruhig und windstill ist, nähern wir uns dem Eisriesen in
kaum merklicher Fahrt, so daß wir ihn fast anfassen
können. Einmal um ihn herum, wobei wir bewundern, wie
sehr sich sein Aussehen dabei ändert, nehmen wir,
nachdem wir noch frisches Eis für die Cocktails
abgehackt haben, wieder Fahrt auf, wenden uns neuen
Zielen zu. Immer noch entlang der unstrukturierten Küste
der antarktischen Halbinsel, setzen wir unseren Weg auf
der Gerlach-Straße fort. Bald taucht zur Rechten
Hummrock Island auf und im Hintergrund die Isle de
Liège, während auf der linken Seite sich die Hughes Bay
ausdehnt. Durch unsere photographischen Aktivitäten
durstig geworden, trinke ich heute ein Bier mehr als
sonst. Dabei beobachte ich, daß Helmut, Christian und
Bernard, die eigentlich keine Biertrinker sind, sich
auch jedesmal ein Bier aus dem Schapp holen, sobald sie
mich eines trinken sehen. Noch zu Beginn der Reise
hatten sie sich einstimmig dagegen ausgesprochen, daß
zusätzliches Bier gebunkert würde. Doch nicht nur Bier
findet regen Zuspruch. Durchs Nichtstun hungrig
geworden, genehmige ich mir angesichts der wenig
abwechslungsreichen Fahrt ein Stück Kuchen. Dabei halte
ich es ganz mit der Devise: kleine Geschenke erhalten
die Freundschaft, und biete allen meinen Mitseglern auch
ein Stück davon an. Helmut, stets von Futterneid
geplagt, fordert sofort auch ein Stück für sich. Nun
würde man als normal empfindender Mensch natürlich
erwarten, daß jeder der Reihe nach das oberste Stück
wegnimmt, aber unter Seglern wird man sich diesbezüglich
getäuscht sehen. Martina macht den Anfang, zieht, den
Kuchen zerpflückend, eines der unteren Stücke heraus, so
als wäre das oberste vergiftet. Helmut folgt ihrem
Beispiel, ihm kann kein Stück groß genug sein. Nur
Martin der Skipper besitzt Anstand und nimmt sich, wie
es sich gehört, das oberste und damit leider auch
kleinste Stück.
Was
hat sich inzwischen auf unserer Reise zugetragen?
Zeitweise im Nebel gefangen, sind wir ganz auf die Hilfe
des Radars angewiesen. Die Wolken hängen in der
Antarktis häufig sehr tief, liegen oft auf dem Meer auf,
während darüber meist strahlender Sonnenschein herrscht.
Eisige Cirren und vereinzelte Schäfchenwolken entziehen
dem Himmel die Aufmerksamkeit und richten diese ganz auf
die schneebedeckten Hänge, Traum eines jeden Skifahrers.
Sich mit angeschnallten Fellen den Aufstieg zu
verschaffen, weckt schlummernde Sehnsüchte aus
vergangenen Tagen, die sich zu erfüllen in den Alpen
immer seltener möglich ist. An Steuerbord zieht jetzt
die gewaltige Brabant-Insel an uns vorbei, die im Mount
Parry Höhen über 2000 m erreicht. Der Mackenzie- und der
Hippokrates-Gletscher kalben dort ins eisig-blaue Meer.
An Backbord rückt der Mount Zeppelin näher, der höchste
Berg, den wir vor Erreichen der Charlotte Bay passieren.
Unser Ziel jedoch, dem wir nun energisch zustreben, ist
die Insel Enterprise, wo wir über Nacht liegen werden,
aber nicht vor Anker, sondern festgemacht an einem alten
Wrack, einem Robben- oder Walfänger. Schon die Anfahrt
ist zunehmend aufregend, da der Ort ein ganz
unheimlicher ist, nicht nur, weil die ihn umgebenden
Berge bedeutend an Höhe gewonnen haben, sondern auch,
weil die Bucht, in der wir liegen, von meterdicken
Eisdecken eingeschlossen ist, vergleichbar nur einem
Hohlzylinder aus Eis. Es dauert eine ganze Weile, bis
wir das Wrack entdecken; erst als wir feststellen, daß
die angepeilte Insel nicht die gewünschte ist, weichen
wir auf die Nachbarinsel aus, in der wir dann
tatsächlich das alte Wrack finden. Das Einlaufen in den
Hohlkessel löst ein bemerkenswertes Gefühl aus Spannung
gemischt mit Staunen aus. Wir blicken fassungslos zu den
mächtigen, im Laufe von Jahrtausenden gepreßten
Eisplatten auf, die nur an den Steilabstürzen das nackte
Gestein zutage treten lassen. Auf der drüberen Seite des
Wracks hat bereits ein anderer Antarktisfahrer
festgemacht. So menschenleer die Weiten der
Antarktischen Halbinsel sonst auch sein mögen, man
trifft doch immer wieder auf seinesgleichen,
verhältnismäßig selten allerdings im Vergleich zu jedem
anderen Revier der Welt. Das Anlegen und Festmachen am
Wrack ist für Martin und Jochen fast reine Routinesache
und gestaltet sich angesichts der absoluten Ruhe des
Wassers ohne Nervosität. Nur die zwitschernden
Seeschwalben verursachen in dem Eiskessel einigen
Aufruhr.
Am
nächsten Morgen sieht die Welt ganz anders aus, zumal
der Sonne höchste Kraft direkt in unseren Eistrichter
prallt. In gleißendem Weiß zeigen sich die Berge
ringsum, einsame Riesen, die an Majestät und
Herrlichkeit ihresgleichen suchen. Von den Wänden des
Kessels tropft Wasser herab, das geeignet ist, unsere
verbrauchten Wasservorräte aufzufüllen. Jochen und ich
paddeln am nächsten Morgen mit dem Zodiac hinüber zu den
Eisüberhängen, um dort Wasser zu zapfen, das, kleinen
Sturzbächen gleich, aus den Spalten des Gletschers
rieselt. Das Eis schmilzt gewaltig zu dieser warmen
Jahreszeit, wir messen unglaubliche 5 °C
Wassertemperatur, und die Lufttemperatur ist gar so, daß
man sich im Freien mit blankem Oberkörper aufhalten
kann, ohne auch nur leise zu frösteln. Gewiß doch, die
Sonneneinstrahlung und die Reflexion des Eises tun ein
ihriges, um uns den Aufenthalt so angenehm wie möglich
zu machen. Jochen bringt uns mit dem Dingi auf eine der
beiden Inselchen, die in der Bucht von Enterprise Island
liegen. Dort stoßen wir auf hölzerne Überreste von Wal-
oder Robbenfängerbooten. Von wem sie wohl stammen mögen?
Sogleich nach dem Anlegen erklimme ich voller
Begeisterung den vergletscherten höchsten Punkt der
Insel, von wo sich ein überwältigender Blick auf die
dramatische Gletscherwelt ringsum auftut. Die
majestätischen Riesen liegen genau im Gegenlicht und
erfüllen mein Auge mit blendendem Glanz, verwandeln die
See in einen glitzernden Spiegel. Es ist, wie man sich
die Antarktis vorstellt, eines der letzten Paradiese auf
dieser Welt. Jedem, der noch nicht völlig abgestumpft
ist, muß diese atemberaubende Kulisse Ehrfurcht
einflößen; wir dürfen nicht zulassen, daß auch noch die
letzten Reservate unseres Planeten immer weiter zerstört
werden, denn alles, was das Leben lebenswert macht, kann
sich nur im Einklang mit der Natur vollziehen, niemals
gegen sie.
Die
Wasserstraßen, Inseln und Halbinseln um Enterprise
Island mit ihren Steilküsten, Buchten und Gletschern
sind an Großartigkeit durch nichts zu überbieten. In
gemächlicher Eisfahrt laufen wir zunächst durch die
Plata-Passage, vorbei am Daedalus und Ikarus Point,
rechterhand mit Blick auf die fantastische Nansen-Insel,
zur Linken auf den vom Mount Johnston herabfließenden
Leonardo-Gletscher, auf den der vom Mount Walker
herabströmende Blanchard-Gletscher folgt. Um Brooklyn
und Pelseneerl Island herum, wo sich uns mächtige
Treibeismassen in den Weg legen, schlängeln wir uns
durch die engen Durchfahrten, die die
Arctowski-Halbinsel im Osten begleiten, hinaus in die
Gerlachstraße, wo uns sogleich ein eisiger Wind ins
Gesicht bläst. Welch ein Gegensatz zu den geschützten
Buchten vor der Danco-Küste, die unter der Abdeckung des
Verbotenen Plateaus gegen alle Anfeindungen des Windes
geschützt sind! Wir müssen hinter einem Eisberg, der uns
wie ein Seeungeheuer mit zwei schrecklichen
Greifwerkzeugen anmutet, Zuflucht nehmen. Alle starren
wir wie gebannt auf dieses erstarrte Monster aus Eis,
das uns in seinen Schlund zu ziehen droht, werden
Spielball der Naturgewalten. Trotzdem haben wir keine
andere Wahl: eine Pumpe bereitet Probleme und muß auf
der Stelle repariert werden.
Zuweilen verirren sich Buckelwale in der
Wilhelmina-Bucht. Diese Meeressäuger sind zwar gut zu
beobachten, liefern aber meistens kein gutes Fotomotiv,
es sei denn, man hat das Glück, genau dann auf den
Auslöser zu drücken, wenn der Wal abtaucht und dabei
seine Schwanzflosse aus dem Wasser ragt. Als wir Kap
Anna umschiffen, wird der Blick frei auf den höchsten
Berg der Umgebung, den auf der Anvers-Insel gelegenen,
matterhornähnlichen, etwa 3100 m hohen Mont Français,
der als einziger der Gipfel des Trojanischen Gebirges
nicht nach einer der Sagengestalten aus der Ilias
benannt ist, wie etwa Mount Priamos, Mount Hektor, Mount
Agamemnon und Mount Helena. Dem Kartographen scheinen
allerdings die Namen ausgegangen zu sein, denn bei
weitem nicht alle Gipfel tragen eine Bezeichnung. Die
markante Zeiß-Nadel, die an den Zuckerhut in Rio
erinnert, weist uns den weiteren Weg nach Cuverville
Island, das zwischen der Île de Rongé und der Ostseite
der Arctowski-Halbinsel liegt. Diese Insel, bekannt für
ihre Pinguinkolonien, besitzt eine romantische
Ankerbucht zu Füßen des Mount Tennant. Nachdem wir in
der Cuverville Bay an Land festgemacht haben, erwacht
bei allen fast gleichzeitig der Heißhunger, da wir uns
den ganzen Tag aus lauter Faszination keine Zeit zum
Essen genommen haben. Wie die Wilden, raffgierig und
rücksichtslos, machen sich alle über das Essen her, so
als wäre schon morgen Schmalhans Küchenmeister. Jeder
reißt ein Brot an sich, wie er nur kann, bis der
Brotkorb vollständig geleert ist, wobei manche sich
schon ein zweites genommen haben, noch bevor andere ihr
erstes bekommen haben. Es ist, als täte Hunger
ungleichmäßig weh, dem einen mehr als dem andern. Wehe,
wenn unsere Vorräte sich erschöpfen sollten! Doch ich
halte still, sage nichts, obwohl es mir schwerfällt,
aber es ist vernünftiger, da wir uns in einer
Ausnahmesituation befinden, in der Geschlossenheit
gewahrt werden muß, solange es irgendwie geht.
Die
höchste Erhebung von Cuverville Island ist nur 280 m
hoch und schneebedeckt, das heißt verhältnismäßig leicht
zu besteigen. Es ist so warm an diesem Tag, daß durch
die Kraft der Sonne der ganze Gletscher wie Butter
schmilzt. Ohne größeres Risiko können wir daher, nachdem
wir die Santa Maria Australis wegen des schlechten
Ankergrundes mit zwei Leinen an den Felsen festgemacht
haben, den Anstieg wagen. Sowie ich mich als erster in
die Gipfelregion vorgewagt habe, folgt mir Skipper
Martin auf den Fersen, und noch einige andere versuchen
den Aufstieg, der jedoch kaum der Mühe lohnt, weil sich
von ganz oben nicht mehr Überblick bietet als auf halber
Höhe. Während meines Aufstiegs scheint sich der gesamte
Gletscher in Wasser aufzulösen, so daß ich immer wieder
einbreche. Wahre Sturzbäche ergießen sich ins Tal und
gestalten das weitere Vorankommen äußerst beschwerlich.
Gewisse Zweifel kommen auf, ob die Entscheidung, nur in
Stiefeln über den Gletscher zu laufen, richtig war. Doch
schließlich habe ich es geschafft: die Santa Maria
Australis sieht in der glitzernden Bucht zu Füßen der
majestätischen Bergkulisse ganz winzig aus. Vom Mount
Tennant gegenüber gehen immer wieder gewaltige Lawinen
zu Tal, die sich mit einem unheimlichen Donnern
bemerkbar machen. Alles ist wie in Auflösung begriffen.
Als
wir vom Berg abgestiegen sind, werden wir Zeugen, wie
ein Eisberg gerade auf unsere Festmacherleine zutreibt
und diese zu zerreißen droht. Der Skipper versucht in
einer Hochgeschwindigkeitsrettungsaktion mit dem Dingi,
die Leine über den Eisberg zu stülpen, um Spannung aus
dem laufenden Gut zu nehmen. Der Versuch gelingt. Ein
Tag mit unvergessenen Eindrücken geht zu Ende, der nicht
nur mit herrlichem Wetter gesegnet, sondern auch durch
atemberaubende Erlebnisse angehäuft war. Daß allerdings
den Pinguinen und den nistenden Vögeln durch unsere
Anwesenheit ein Schaden erwachsen sein könnte, daran
denkt keiner von uns. Nicht ohne Grund werde ich von
mehreren Raubmöwen, sogenannten Skuas, die mich
pausenlos wie Stukas anfliegen und mich dabei mit ihrem
ätzenden Kot bombardieren, angegriffen. Als ich mich der
aggressiven Vögel nicht mehr erwehren kann, gehe ich zum
Gegenangriff über und bewerfe die Skuas mit
Schneebällen, die ich immer dann zusammenballe, wenn sie
mir gerade einmal eine Verschnaufpause von wenigen
Sekunden gönnen. Als ich den ersten Volltreffer lande,
hagelt es zwar seitens der Skuas schreiende Proteste,
aber dafür ist es mit den Angriffen erst einmal vorbei.
Wie ich später erfahre, erging es Helmut ähnlich. In
Unkenntnis der Folgen nehme ich anschließend meine
Gummistiefel zum besseren Austrocknen mit in die Kajüte,
so daß ich mich, als ich diese das nächste Mal betrete,
über den strengen und ätzenden Geruch wundere, bis ich
die Ursache herausfinde, daß das Problem vom Kot der
Pinguine, der sich an meiner Profilsohle festgesetzt
hat, herrührt.
Am
nächsten Morgen herrscht dichter Nebel, und es ist warm,
zu warm für die Jahreszeit. In wenigen Jahren werden die
Gletscher, die wir noch erleben durften, abgeschmolzen
sein, die Pinguine werden in neue Lebensräume ausweichen
müssen, wollen sie nicht zugrunde gehen. In mühsamer
Fahrt, zuweilen mit einem kurzen Blick durch die
Wolkendecke auf die über uns aufragenden Berge, motoren
wir durchs Treibeis, im Sog die gegen die Schiffswand
schlagenden Eisstücke. Es will sich keine rechte
Hochstimmung einstellen an diesem Tag, an dem der
Paradise Harbour unser Ziel ist, das Leben ist
ungerecht! Die meisten von uns sitzen im Salon und lesen
irgend etwas Belangloses oder geben sich trüben Gedanken
hin. Bernard, unser kleiner französischer Barbar,
schmiert mit Kugelschreiber in einem Buch aus der
Bordbibliothek herum, als wäre es sein eigenes.
Franzosen haben augenscheinlich eine andere,
sozialistischere Auffassung von Eigentum als wir
Deutschen, ähnlich wie sie in ihren Großstädten auch
keine Hemmung haben, in einer Parklücke andere Autos mit
der Stoßstange anzuschieben. Nur mit Hilfe des Radars
gelingt es uns an jenem Tag, uns aus der Cuverville Bay
hinauszutasten, zunächst in den Errera Channel, sodann,
Danco Island an Backbord liegen lassend, hinaus in die
Gerlachstraße, bis wir schließlich über die Andvord Bay
Kurs auf den Duthiers Point aufnehmen können. Die uns
umgebende Szenerie erschließt sich uns nicht, da wir bis
zu unserer Ankunft in der Forschungsstation Gabriel
Gonzalez Videla keine freie Sicht auf die Berge haben.
Nur ab und an lüftet sich der Schleier und gibt kurz den
Blick auf die Bergwelt frei. Wir steuern nun direkt auf
die enge Durchfahrt zwischen der Lemaire-Insel und dem
Festland zu, wo wir schon bald die rotbemalten Häuser
der chilenischen Antarktis-Station entdecken, die hier,
am Eingang zum Paradise Harbour, 1951 errichtet wurde.
Gegenüber, am anderen Ende des Paradise Harbour,
befindet sich die argentinische Antarktis-Station, die
jedoch in den Sommermonaten geschlossen ist.
Nachdem wir uns bei den Chilenen angemeldet haben,
werden wir eingeladen, an Land zu kommen, und aufs
herzlichste empfangen. Wer nun allerdings geglaubt hat,
er werde von einem Team eifriger Gelehrter empfangen,
die ihr Leben ganz der Wissenschaft verschrieben haben,
sieht sich getäuscht, denn wer uns hier erwartet sind
ausschließlich Militärs, die ängstlich darüber wachen,
daß ihnen niemand irgendwelche Gebietsansprüche streitig
macht. Es gibt zwar offiziell einen Antarktis-Vertrag,
der allerdings de facto wenig wert ist, sollte es einmal
dahin kommen, daß die Ölreserven, deren die Menschheit
so dringend bedarf, zur Neige gehen. Dann werden sich
die territoriale Ansprüche erhebenden Staaten um deren
Besitz die Köpfe einschlagen. So leben denn auf der
Gonzalez-Videla-Station insgesamt sechzehn Männer, zwölf
von der Luftwaffe und vier von der Marine, die jeweils
über einen eigenen Kommandeur verfügen. Welche
wissenschaftliche Tätigkeit, muß man sich fragen, kann
nur hier ausgeübt werden, und nicht ebensogut irgendwo
anders? Daß die Vorspiegelung gemeinnütziger Absichten
nur die wahren Interessen kaschiert, ist offensichtlich.
Dennoch sind die Soldaten sehr freundlich, freuen sich
über unseren Besuch und unterrichten uns auf englisch
über alles, was ihr Leben und Wohlergehen auf dieser
Station angeht. Sogar ein kleines Museum gibt es, mit
Fotos von Besuchern und Bewohnern und einem begrenzten
Angebot an Souvenirs, die hier zu Traumpreisen
feilgeboten werden. Die orangerot gestrichenen
Holzhäuser wurden inmitten einer Pinguinkolonie
errichtet, offenbar weil Pinguinen die Anwesenheit des
Menschen nichts auszumachen scheint. Pinguine erinnern
in ihrem sozialen Verhalten sehr an das des Menschen.
Wenn ein Pinguinbaby im Gedränge seine Mutter verliert,
wird es von allen anderen Pinguinmüttern mit den
Schnäbeln so heftig gebissen und gehackt, bis es vor
lauter Schmerzen nicht mehr weiß, wohin es sich wenden
soll. Die derart Ausgestoßenen sind wahrhaft arme
Teufel, die Natur zeigt sich hier in ihrer ganzen
Grausamkeit. Ansonsten wäre vielleicht noch
erwähnenswert, daß im Winter 1921 auf 22 zwei junge
Männer hier in einem Holzboot überwintert und sich in
dieser Zeit nur von Pinguin- und Robbenfleisch ernährt
haben, bis sie schließlich gerettet wurden. Die Reste
ihres Bootes kann man noch heute bestaunen, dem Ort gab
man zur Erinnerung an die denkwürdige Errettung den
Namen Waterboat Point.
Nachdem wir im Offizierskasino zu Kaffee und Kuchen
eingeladen worden sind, verabschieden wir uns und
bedanken uns für die freundliche Bewirtung.
Zwischenzeitlich ist auch die Sonne einmal kurz zum
Vorschein gekommen und läßt den Paradise Harbour in
seiner ganzen Pracht erstrahlen. Gegenüber auf Lemaire
Island ragt der majestätische Rojas Peak in den Himmel
und hinter uns der Mount Hoegh. Bei spiegelglatter See
gleiten wir in bedächtiger, fast lautloser Fahrt,
unserer Stimmung angemessen, über den Paradise Harbour,
vorbei am Bryde Channel und an Bryde Island, um die
schmale Ausfahrt durch den Ferguson-Kanal in die
Gerlach-Straße zu finden. Vor uns fließt der
Petzval-Gletscher vom Hanron Peak herab, und immer
wieder donnert es durch kalbende Gletscher in der Ferne.
Gewaltige Eismassen sind es, die sich auf diese Weise
ihren Weg hinaus ins Meer bahnen, bis sie in der fünf
Grad warmen See irgendwann ihr kurzes Leben ausgehaucht
haben. Giganten gleich, treiben vor uns die größten
Exemplare ihrer Art, die wir bislang gesichtet haben.
Draußen auf der Gerlach-Straße wird die Fahrt wieder
sorgloser, unser Blick fixiert Kap Willems, die
markanteste Berggestalt der Umgebung, zu unserer Linken,
während sich zur Rechten bald die Kette bestehend aus
Dayne Peak, Janssen Peak und Luigi Peak als wegweisend
herausstellt. Bei der flachen Bob-Insel endet die
Gerlach-Straße, stößt bei den Capston Rocks auf die
Flandres Bay. Zwischen Ménnier und Littlespace Island
und Kap Errera laufen wir in die Butler-Passage ein, die
ihre Fortsetzung im Lemaire-Kanal findet. Hier ist es
auf lange Sicht das auch unter dem Namen »Titties«
bekannte Kap Renard mit seinen fünf markanten Hörnern,
das uns den Weg weist, uns wie magisch in den
Lemaire-Kanal hineinzulocken scheint. Die letzte Crew
mußte hier aufgrund zu dicht gepackten Treibeises die
Weiterfahrt abbrechen und nach Port Lockroy ausweichen.
Noch wissen auch wir nicht, ob uns der Durchbruch durchs
Eis gelingen wird. Stets muß einer auf dem Vorderdeck
dem Steuermann die Richtung weisen, in die dieser
ausweichen muß, um nicht mit den im Wasser treibenden
Eisbrocken zu kollidieren. Geschickt Lücken ausspähend,
manövriert uns Martin durch die Eismassen, will keinen
außer sich Ruder gehen lassen, seiner Sorgfaltspflicht
genügend. Die bedrohlichen Humphries Heights rücken nun
näher, saugen uns wie Skylla und Charybdis in die
schmale, kaum dreihundert Meter breite Wasserstraße
zwischen Booth Isand und der Danco-Küste hinein,
begleitet vom Krachen der Eismassen. Risse und Rillen
ziehen sich vom Cléry und Wandel Peak bis zum Meer
herab, den schwarz-weiß gefleckten Fels auf der
Wasseroberfläche spiegelnd. In unserem Rücken erstrahlen
weiße Schneefelder in einem schmalen lichtblauen Band in
der durchscheinenden Sonne, wodurch die schluchtartige
Durchfahrt noch schauderlicher erscheint. Dieselben
spitzen Bergformen und die Ähnlichkeit des Gesteins
deuten sehr darauf hin, daß Feuerland, genauer gesagt
die Südspitze Amerikas, mit dem antarktischen Archipel
einstmals zusammenhing und erst, als die Erdteile
voneinander wegdrifteten, beide ihre heutigen Positionen
einnahmen.
Ein
Seeleopard, der hier sein Unwesen treibt, scheint mit
unserem Boot spielen zu wollen. Äußerst aufgeweckt,
taucht er immer wieder aus den Fluten auf, reckt seinen
Kopf weit aus dem Wasser, beobachtet uns neugierig, ehe
er sich wie das Ungeheuer von Loch Ness wieder zum
Abtauchen anschickt. Manche dieser Seeungeheuer liegen,
von uns Menschen völlig unbeeindruckt, träge auf den
Eisschollen, als würden sie keinerlei Nahrungserwerb
nachgehen, so daß wir sie beinah anfassen könnten.
Seeleoparden, von denen es in der Antarktis insgesamt
nur etwa 200.000 gibt, können dem Menschen gefährlich
werden, so daß es sich nicht empfiehlt, mit ihnen in
Berührung zu kommen. Während wir fröstelnd an Deck
stehen, um das Naturschauspiel aufmerksam zu verfolgen,
hegt unser kleiner Franzose den Wunsch, sich in den
Mastkorb hochziehen zu lassen, um das Geschehen an Deck
besser filmen zu können. In seiner dicken Pelzmütze und
mit seinem dunklen Vollbart wie ein Russe aussehend,
lassen wir ihn im Masttop solange baumeln, bis er völlig
durchgefroren ist. Er filmt einfach alles, was ihm vor
die Linse kommt, hat die ganzen drei Wochen
fotographisch festgehalten, und wann immer eine
Situation etwas kritischer aussieht, drängt er sich wie
ein Paparazzi nach vorn oder dazwischen. Als wir den
Lemaire-Kanal etwa zur Hälfte passiert haben, ist es an
der Zeit, einen Liegeplatz für die Nacht aufzusuchen.
Weder Schiffsführer noch Bootsmann sind je zuvor
hiergewesen, eine handgezeichnete Skizze ist alles, was
wir als Hilfestellung zur Verfügung haben. Auf langen
Umwegen müssen wir uns in der einbrechenden Dunkelheit,
die nur durch ein unter der Wolkendecke durchscheinendes
Abendrot ein wenig erhellt wird, unseren Weg durch eine
dichter werdende Masse von Treibeis vermischt mit
Eisbergen bahnen. Immer wieder kommt es zu
Eisberührungen, die die Bordwand unserer Stahljacht mit
dumpfen Schlägen erfüllen. Plötzlich erleben wir, wie
nach einem besonders lauten Schlag Treibstoff austritt
und die Wasseroberfläche rasch mit einem Ölteppich
überzieht, der längere Zeit hinter uns her treibt.
Angsterfüllt blicken wir uns gegenseitig an, fragen nach
der Ursache des Lecks. Sind wir wo möglich
leckgeschlagen? Ein unbehagliches Gefühl macht sich
breit, zumal wir zugleich auch die Orientierung verloren
haben, hilflos nach dem beschriebenen Liegeplatz
Ausschau haltend. Nun wird auch der Skipper langsam
nervös, da wir die Bucht immer noch nicht gefunden haben
und die Untiefen in dem unkartografierten Gebiet uns
Sorge bereiten. Was würden wir tun, wenn Nebel oder
Südwestwind uns behindern würden? Es wäre dann
unmöglich, den anzusteuernden Platz auszumachen. Mit dem
Dingi schicken wir Jochen und Walter los, die Einfahrt
zu finden, fahren selbst dem Schlauchboot langsam
hinterher. Und wirklich steht plötzlich definitiv fest,
daß wir an dem gesuchten Ort sind: zwei flache Eilande,
Florence und Hovgaard, die eine schmale Durchfahrt von
15 m freilassen. Hier können wir die Santa Maria
Australis bei jedem Wetter sicher mit Schwimmleinen an
Land festmachen. Das Abendessen, Schweinsbratwürste mit
Sauerkraut, nehmen wir an diesem Abend sehr spät ein,
erst nach Mitternacht. Das Bier ist zur Neige gegangen;
ich war es, der die letzte Dose getrunken hat, ohne zu
wissen, daß keines mehr da ist. Nun müssen wir über eine
Woche lang ohne den köstlichen Gerstensaft auskommen.
An
dieser Stelle ist es vielleicht noch einmal angebracht,
ein Wort über meine Mitsegler zu verlieren. Bernard ist
trotz seines Reichtums ein ganz ungehobelter Kerl. Er
läßt absichtlich und ohne sich zu genieren, laut hörbar,
Winde fahren und rülpst demonstrativ in Anwesenheit
anderer, wobei er noch glaubt, daß er uns dadurch
vielleicht erheitert. Als ich ihm einmal meinen
Standpunkt klarmache und ihm erkläre, warum ich der
Meinung bin, daß Elsaß-Lothringen zu Deutschland gehört,
beschimpft er mich wüst mit den Worten: »Il est un
Nationaliste.« Noch heute ist also bei der Mehrheit der
älteren Franzosen ein gewisser Revanchismus spürbar, den
dieses Volk offenbar nicht ablegen kann. Was mich an
Philippe stört, ist, daß ihm stets, wenn er sich zu
Tisch begibt, die Nase läuft und er nichts dagegen
unternimmt, wenn ihm das Sekret wie einem kleinen Jungen
in den Mund rinnt und seine Oberlippe, die ohnehin schon
ausgeprägt genug ist, noch deutlicher hervortreten läßt.
Kaum jemand an Bord wäscht sich die Hände, einige lassen
ihr Wasser wie vor hundert Jahren über die Reling und
scheuen sich nicht, anschließend das Essen anzufassen.
Auch eine Liebesgeschichte hat sich zugetragen. Sie
beginnt damit, daß Jochen eines schönen Tages allein
oben an Deck sitzt und verloren aufs Meer hinausschaut.
Von mir darauf angesprochen, ob es ihm gut gehe,
antwortet er nur, daß er allein sein wolle. Nach einigem
Nachdenken komme ich schließlich dahinter, was dafür die
Ursache ist. Unsere Australierin, kaum etwas genesen,
hatte sich offenbar frisch in den sechs Jahre jüngeren
Bootsmann verliebt, ging schon nach wenigen Tagen an
Bord ein Verhältnis mit ihm ein, so daß uns nachträglich
auch klar wird, warum unser Aufenthalt abends im Salon
unerwünscht ist. In regelmäßigen Abständen verschwinden
die beiden unbemerkt von der Bildfläche, bis sie ihre
Liebesbeziehung irgendwann nicht mehr vor der
Öffentlichkeit verbergen können und auch dem
unaufmerksamsten Beobachter klar wird, was die beiden
miteinander haben. Ob aus dieser Romanze allerdings eine
feste Beziehung werden wird, daran haben wir anderen an
Bord berechtigte Zweifel, denn neben dem zu großen
Altersunterschied ist es hauptsächlich der Umstand, daß
Tarryn Seereisen generell nicht verträgt und Jochen als
Seemann wohl kaum jemals zu Hause sein dürfte. Solange
er aber seine Pflicht als Bootsmann nicht verletzt, kann
uns die Sache auch egal sein. Vollkommen glücklich
wirken die beiden während der ganzen Reise ohnehin
nicht.
Am
nächsten Morgen führt unser Bordarzt, Christian, ein
ernstes Gespräch mit mir. Er meint, ich müsse mich
stärker einbringen und am sozialen Leben an Bord
engagierter teilhaben, und zwar, wenn es darum gehe, den
Tisch zu decken, abzuräumen, zu spülen oder abzuwaschen.
Ich würde wohl meinen, wirft er mir vor, irgendeiner
würde das schon machen, wenn ich es nicht tue. Damit
kein Unfrieden entsteht, füge ich mich in mein
Schicksal, zaubere ein frisches Geschirrtuch hervor und
ernte am Ende sogar noch Applaus. Als wir gegen Mittag
auslaufen, haben es sich auf einigen der uns die
Ausfahrt versperrenden Eisberge Seelöwen gemütlich
gemacht. Diese im Wasser so überaus wendigen Tiere
lieben es offenbar, faul und träge, ganz unbeweglich auf
Eisschollen herumzuliegen, wenn sie nicht die Sorge ums
Überleben zum Fische fangen ins Wasser treibt.
Es
ist auch bezeichnend für jene Gegend um Pléneau Island,
daß das Eis, das diese Inseln überzieht, durch Algen rot
eingefärbt ist. Dies ergibt ein ganz ungewohntes Bild,
und man muß sich von der Vorstellung, daß Schnee nur
weiß sein kann, in der Antarktis trennen. Seit Tagen ist
der Luftdruck immer weiter abgesunken, so daß für die
nächsten Tage schlechteres Wetter zu erwarten ist.
Nachdem wir an der Ostseite der Hovgaard-Insel entlang
gefahren sind, nähern wir uns Peterman Island. Peterman
war ein deutscher Vermessungsingenieur, der sich um die
Kartografierung der antarktischen Halbinsel verdient
gemacht hat. Hier auf der Peterman-Insel wird eine
kleine britische Forschungsstation betrieben, auf der
der Zusammenhang zwischen dem Rückgang der
Pinguin-Populationen und dem Rückzug des Eises
untersucht wird. Der Leiter des dreiköpfigen
Forschungsteams, bestehend aus einem Mann und zwei
Frauen, begrüßt uns beim Anlegen und zeigt uns die
Stellen, wo wir die seltenen Adélie-Pinguine beobachten
können. Auf bestehende Probleme angesprochen, gibt mir
der bärtige Biologe bereitwillig Auskunft. Es sei das
Ziel ihrer Forschungen, meint er, an der
Veröffentlichung eines Artikels zu arbeiten, der
demnächst in einer renommierten Fachzeitschrift
erscheinen wird und die Öffentlichkeit auf die Probleme
einer sich schnell wandelnden Antarktis aufmerksam
machen soll. Auf die Frage, ob er sich davon eine
Besserung der weltweiten Klimasituation verspreche, gibt
er zur Antwort, daß das Bewußtsein der Menschen in bezug
auf ihr Energieverhalten, in kleinen Schritten zwar,
langfristig beeinflußt oder sogar geändert werden könne:
eine blauäugige Meinung zwar, aber immerhin eine, die
man gelten lassen muß. Die Temperatur auf der
Antarktischen Halbinsel habe sich in den vergangenen
dreißig Jahren um bis zu fünf Grad erhöht, meint unser
bärtiger Brite weiter, und die gesamte Fläche rund um
die Forschungsstation sei früher eisbedeckt gewesen.
Manche Pinguin-Populationen seien seitdem
zurückgegangen, andere wiederum hätten zugenommen. Im
Anschluß daran begegnet mir auf halbem Weg zur
Pinguin-Kolonie eine junge Britin, die ebenfalls zum
Forschungsteam gehört. Sie grüßt mich sehr freundlich,
und ich interessiere mich sogleich für ihre Tätigkeit.
Schon bei ihren ersten Worten fällt mir auf, daß sie
sehr gelbe Zähne hat, und noch ehe wir unser Gespräch zu
Ende gebracht haben, kommt bereits ein Anruf von ihrem
Kollegen, der sie zur Arbeit ruft. Scheinbar will man
sich bei Anwesenheit von Gästen nicht dem Vorwurf
aussetzen, daß ein solcher Forschungsaufenthalt
hauptsächlich aus Nichtstun besteht. Ob nun die Ankunft
von immer mehr Touristen in der Antarktis auch zur
Freude von Naturschützern gereicht, daran müssen
allerdings ernsthafte Zweifel angemeldet werden.
Von
Peterman Island ist die ukrainische Forschungsstation
Vernadsky gerade einmal fünf Seemeilen entfernt. An
Backbord begleiten uns auf dem Weg dorthin, welcher
durch die Penola-Straße führt, abwechselnd
beeindruckende Berge oder Gletscher: der Mount Scott,
der Wiggins-Gletscher, der Mount Mill, der
Bussey-Gletscher, der Lumière Peak, der Trooz-Gletscher.
Sie bilden die majestätische Kulisse zu den grau
getünchten Häusern der Vernadsky-Station, die mit ihren
weitläufigen Radioantennen in dieser Idylle eher stört.
Hinter halbhohen, geschützten, fast eisfreien und
nackten Inseln legen wir in einer nicht weit entfernten
Bucht neben der unter belgischer Flagge fahrenden Ketch
»Vaihere« längsseits an und bringen Landleinen aus. Als
ihm das Belegen der Klampe mit der Achterleine befohlen
wird, verliert Christian, als er sich in Bedrängnis
geraten sieht, weil ich ihm widerspreche,
erwartungsgemäß, wie schon öfters in unüberschaubaren
Situationen, völlig die Beherrschung, obwohl wir noch
nicht einmal in Reichweite des fremden Schiffes sind.
Maßlos in seinen Äußerungen, schreit er mich an, als
wäre ich die Ursache seines Problems, benimmt sich, als
wäre er hier der Kapitän, und bleibt in seiner
Ausdrucksweise allgemein weit hinter dem zurück, was man
von einem Mann seines Standes eigentlich erwarten würde.
Er ist dann auch der erste, der später, als es ans
eingemachte geht, die Nerven verliert. Auch bei anderen
ist die anfangs geheuchelte Freundlichkeit einer Art
Gleichgültigkeit gewichen, alles Anzeichen dafür, daß es
langsam Zeit wird, daß unser Törn zu Ende geht. Doch wir
müssen leider noch eine Woche miteinander auskommen, und
weil der Klügere nachgibt, bewahre ich Ruhe, solange es
nur irgendwie geht.
Abends sind wir auf der Vernadsky-Station eingeladen.
Als Gastgeschenk bringen wir drei Flaschen unseres
besten Rotweins mit, der aber von den Ukrainern gar
nicht besonders geschätzt wird, da diese bekanntlich
Wodka bevorzugen. Wir werden zwar sehr herzlich
empfangen, doch sprechen nur wenige der dort lebenden
Wissenschaftler überhaupt Englisch. Ein junger,
verheirateter Ukrainer, der sich nach eigenen Angaben
diesen Arbeitsplatz selbst ausgesucht hat, um überhaupt
einmal im Leben in den Genuß zu kommen, die Antarktis zu
sehen, übernimmt unsere Führung. Sein Englisch ist
durchaus brauchbar, während der Kommandant sich derart
wortkarg zeigt, daß man meinen könnte, wir seien
eigentlich gar nicht erwünscht. Vermutlich ist es aber
reine Unbeholfenheit oder ein für jemanden in seiner
Position erstaunlicher Mangel an Umgangsformen. Wir
werden der Reihe nach durch die gesamten
Forschungslabors geführt, wo uns jeder der Spezialisten,
sofern er dazu in der Lage ist, die Art seiner Tätigkeit
beschreibt. Nach allem, was ich sehe, möchte ich
allerdings so meine Zweifel anmelden, ob eines der hier
verwendeten Geräte überhaupt in der Lage ist, ein
präzises Meßergebnis zu liefern. Ich verkneife mir daher
die Frage, wann diese Geräte zum letzten Mal kalibriert
wurden. Gemessen werden hier vor allem seismische
Erschütterungen, die Dicke der Ozonschicht sowie
meteorologische Einflußgrößen. Auch in die Wasch- und
Aufenthaltsräume gestattet man uns Einblick zu nehmen
und somit in den persönlichen Bereich der hier
Lebenden. Insgesamt jedoch ist die ganze Führung recht
schnell abgeschlossen, und wir nähern uns dem Kernpunkt
dessen, wozu wir hierhergekommen sind, nämlich der Bar.
Dieser sehr intim eingerichtete Raum – an den Wänden
hängen jede Menge Büstenhalter in verschiedenen Größen,
die von mitleidigen Kreuzfahrttouristinnen
zurückgelassen wurden – läßt auf reine Männerwirtschaft
schließen. Nach Auskunft des uns Führenden werden Frauen
auf der Station nicht gern gesehen, weil es
verständlicherweise unter den Männern immer wieder zu
den gefürchteten Eifersuchtshandlungen kommt, und diese
sind in dieser doch sehr entlegenen Region nicht gerade
wünschenswert. Ab und zu, meint unser Führer, kämen aber
die amerikanischen Wissenschaftlerinnen von der
Palmer-Station zu Besuch, doch sähe er das auch noch mit
recht gemischten Gefühlen. Schließlich wird uns auf der
Station noch ein Stempel in den Paß eingetragen, den wir
uns aber gerne geben lassen, ja sogar ausdrücklich darum
bitten. Sodann sprechen wir alle reichlich dem Wodka zu.
Ich bin mir nicht mehr sicher, wieviel ich davon
getrunken habe, aber ich glaube, daß es an diesem Abend
insgesamt fünf Doppelte gewesen sind. Dafür schlafe ich
diese Nacht tief durch und bin bereits wieder munter und
frisch, als die anderen noch in ihren Kojen liegen.
Wodka verträgt sich nämlich bestens, und man hat am
nächsten Tag weder einen schweren Kopf noch sonstige
Beschwerden.
Als
wir am nächsten Morgen aus unseren Kojen krabbeln, liegt
neben uns noch ein dritter Segler längsseits. Es sind
Iren, die sich da in diese Gegenden vorwagen, harte,
bärtige Gesichter, denen man ihre keltische Abstammung
förmlich ansieht. Diese rauhen Gesellen waren einst
gefürchtete Krieger, die auf ihrer Wanderschaft bis nach
Kleinasien vordrangen; allein in arktische Gewässer
hätten auch sie sich nicht gewagt. Kurz nach dem
Auslaufen, nachdem wir noch einmal Wasser gebunkert und
unsere Leinen entwirrt haben, entdecken wir draußen vor
der Vernadsky-Station Buckelwale. Man darf aber nicht
erwarten, daß man von diesen Tieren gute Aufnahmen
bekommt, denn sie befinden sich bis auf die Rückenflosse
zum größten Teil unter Wasser.
Der
Luftdruck scheint sich nun auf seinem Tiefstwert
eingependelt zu haben, zumindest fällt er nicht weiter
ab. Es regnet und es ist im Vergleich zu früheren Jahren
ausgesprochen warm, so daß man weder eine Mütze noch
Handschuhe benötigt. Wir fahren nun den gleichen Weg,
den wir gekommen sind, wieder zurück, durch die
Penola-Straße und den Lemaire-Kanal, nehmen die
Butler-Passage, überqueren die Bismarck-Straße und
laufen zwischen Doumer und Anvers Island in den
Neumayer-Kanal ein, der bei Kap Lancaster beginnt. Unser
heutiger Liegeplatz wird Port Lockroy auf der
Wiencke-Insel sein. Schon von weitem weht uns der
charakteristische Pinguin-Geruch entgegen. Gleichzeitig
mit uns läuft das Kreuzfahrtschiff Dolphin Port Lockroy
an. Kaum, daß wir an Land gegangen sind, werden auch
schon die Reisegäste ausgebootet und fallen wie
Heuschreckenschwärme über die Insel her, so daß es uns
vorkommt wie die Invasion in der Normandie, mit dem
Unterschied, daß es sich mehrheitlich um Deutsche
handelt, die sich hier ein Stelldichein geben. Die
Illusion, auch nur irgendwo die einzigen zu sein, wird
uns mithin zum dritten Male geraubt. Wegen der Touristen
hat man auf der Wiencke-Insel, die zu erkunden wir uns,
nachdem unser Schiff fest vertaut ist, alsbald
anschicken, ein Walskelett von einem Exemplar, das dort
gestrandet ist, zusammengesetzt, um den Besuchern einen
Eindruck von den Maßen dieser größten Meeressäuger zu
vermitteln. Während wir uns ganz ungeniert zwischen den
Pinguinen aufhalten, ist den Kreuzfahrttouristen
hingegen selbiges streng untersagt, da sich die Tiere,
die normalerweise nicht scheu sind, angesichts solcher
Menschenmassen durchaus gestört fühlen könnten.
Als
wir am nächsten Morgen nach einem kurzen Abstecher zur
Antarktis-Station Port Lock-roy, die von nur drei Leuten
besetzt ist – die ihre Hauptaufgabe darin sehen, den
Kreuzfahrttouristen Souvenirs zu verkaufen –, auslaufen,
stehen bereits zwei weitere Ozeanriesen in der Bucht
Schlange. Es sind die Endeauvour und die Explorer II.
Eine Reise auf Schiffen wie diesen kann allerdings wegen
der mit dem Besuch einer Pinguin-Kolonie und dem Kauf
von Souvenirs verbundenen Wartezeiten nicht besonders
empfohlen werden, denn die Gäste an Bord müssen oft
stundenlang ausharren, bis sie an der Reihe kommen.
Außerdem werden solchen Schiffen, was das Betreten der
Inseln anbelangt, beachtliche Auflagen gemacht. So
dürfen beispielsweise mit Schlauchbooten nie mehr als
hundert Personen auf einmal an Land gebracht werden. Auf
einigen Schiffen werden Kajakausflüge angeboten; wer
jedoch die Eskimotierrolle nicht beherrscht, für den
kann das Kentern in dem kalten Wasser schnell
lebensbedrohlich werden. Es sind überwiegend
übersättigte, stinkreiche Leute, die sich den Luxus
einer mehrwöchigen Kreuzfahrt leisten können, und es
sind so gut wie keine Idealisten darunter. Eifersüchtig
und neidisch verfolgen und beargwöhnen sie unser allzu
freies Treiben. Mich würde es langweilen, mich in dieser
Gesellschaft auch nur zu bewegen, auch wäre mir die
Zeit, in der man so gut wie nichts Aufregendes erlebt
und sie mit irgendwelchen stumpfsinnigen Beschäftigungen
totschlagen muß, zu schade. Zudem verlaufen die
Diskussionen solcher Passagiere in der Regel relativ
flach, und irgendwann könnte man ihre immer gleichen
Witze nicht mehr ertragen.
Unsere letzte Etappe auf der Antarktischen Halbinsel
verläuft durch den Neumayer-Kanal, zwischen der
Wiencke-Insel – benannt nach einem Matrosen, der der
erste Tote in der Antarktis war – und der Île d'Anvers
hinaus in die Gerlach-Straße, um die Parker-Halbinsel
herum und durch den Schollaert-Kanal in Richtung
Melchior-Inseln. Die Berge ringsum sind in dichte und
tiefliegende Wolken getaucht, zeitweilig erschwert Nebel
die Weiterfahrt. Im Neumayer-Kanal behindert uns dichtes
Treibeis, wieder und wieder kommt es zu Kollisionen mit
kleineren Eisbrocken, so daß der Skipper immer wieder
ängstlich nachschaut, ob nicht irgendwo ein
Wassereinbruch erfolgt ist. Durch den einsetzenden Regen
erscheinen uns die Außentemperaturen kühler als an den
Vortagen, und überhaupt macht sich bei vielen leichter
Unmut breit. Von insgesamt sieben Tagen waren nur zwei
wirklich schön, und so traumhaft die Antarktis bei
idealen Witterungsbedingungen sein kann, so trist nimmt
sie sich bei Schlechtwetter aus. Durch den ausgefallenen
Winter in Deutschland bedingt sehnte ich mich nach ein
wenig Kälte und Schnee, jetzt aber brauche ich wieder
etwas mehr Sonne.
Die
sechzehn Melchior-Inseln sind nach den Buchstaben des
griechischen Alphabets geordnet, wir für unseren Teil
liegen geschützt zwischen Omega und Eta Island, den zwei
größten der Melchior-Inseln. Gegenüber auf der Eta-Insel
verhindern überhängende Gletscher das Festmachen der
Leinen, zu groß ist unsere Angst, daß uns abgehende
Eismassen erschlagen könnten. Martin und Jochen fordern
ihr Schicksal zum Abschluß noch einmal heraus und
versuchen einen beinah senkrechten Gletscher
hinaufzusteigen. Bernard versucht es auch, rutscht aber
mehrmals ab und landet im Tiefschnee. Die Aussicht von
dort oben ist aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse
nicht besonders gut, so daß dieses Unternehmen
fotografisch rein gar nichts bringt. Am letzten Tag vor
der Überfahrt zurück über die Drake-Straße wird noch
einmal so richtig dem Alkohol zugesprochen, teils aus
Freude über den gelungenen Törn, teils aus Furcht vor
dem, was jetzt auf uns zukommt. Zumindest ahnen einige
ihre Seekrankheit voraus, andere haben schlichtweg Angst
vor dem bevorstehenden Sturm. Nachts um drei wache ich
auf, weil Helmut in seinem Delirium wieder einmal laut
redet. Angesprochen, das Reden einzustellen, antwortet
er, schweigt kurz, redet danach aber hurtig weiter. Ich
denke, er hat ein Alkoholproblem, denn mir ist im Leben
niemand begegnet, der wie er die ganze Nacht
Selbstgespräche führt. Auch tagsüber gehört er zu
denjenigen, die lauthals über die geringste Kleinigkeit
lachen können. Ich freue mich schon, wenn er seine Wache
antritt, wo mir dann wenigstens zwei Stunden Ruhe
vergönnt sind. Vor dem Ablegen stattet uns der Skipper
eines in derselben Bucht liegenden Bootes einen Besuch
ab, um sich von uns den aktuellen Wetterbericht geben zu
lassen, weil sein Inmarsat-Empfänger angeblich defekt
ist. Ihm komme es primär nicht darauf an, sofort
zurückzukehren, meint jener Skipper, der eine Schweizer
Gruppe an Bord hat, denn sie würden noch mehr als eine
Woche Zeit haben, um zurückzukehren. In etwa zwei Tagen
ist Starkwind angesagt, für uns ist daher Eile geboten,
dieser Zone zu entrinnen. Nachdem die letzten
Vorbereitungen getroffen wurden, machen wir uns los,
sagen der Antarktis Lebewohl. Einige von uns werden sie
in ihrem Leben wohl nie mehr wiedersehen, andere
empfinden beim Abschied leise Wehmut. Ein leichtes
Nieseln, eine Meerwassertemperatur von mehr als sechs
Grad und erneut fallender Luftdruck machen einigen den
Abschied nicht schwer. Ein breites, anhaltendes und
hartnäckiges Tiefdruckgebiet läßt auf längere Sicht
keine Besserung erwarten. Was mich aber schmerzt ist,
daß die Aussicht, die Antarktis so, wie wir sie jetzt
erlebt haben, noch einmal wiederzusehen, gleich null
ist. Wenn der eine oder andere von uns in einigen Jahren
wieder hierherkommen sollte, wird sich ihm diese
Landschaft nicht mehr so zeigen, wie sie jetzt ist, denn
das Abschmelzen der Polkappen schreitet zügig voran.
Dies ist das wirklich Tragische, daß beinah alles, was
der Mensch anfaßt, von ihm zerstört wird, nichts seinem
Zugriff entgeht und er sich anschickt, sich selbst von
diesem Planeten zu entfernen. Hier in der Antarktis
erleben wir es mit eigenen Augen. Wir, die wir hierher
kamen, um uns zu überzeugen, wie es um sie steht, sind
vielleicht unter den letzten gewesen, die noch halbwegs
gute Bedingungen vorgefunden haben, andere, die nach uns
kommen werden, werden zweifellos nicht mehr dieselben
Eindrücke mit nach Hause nehmen.
Unseren ersten Tag auf der Heimreise motoren wir, um
zügig voranzukommen und dem Starkwind, der uns
irgendwann einholen wird, zu entgehen. Wir überschreiten
den 64. Breitengrad, wir überschreiten den 63., draußen
wogt die See in langen flachen Wellen, in ewig tristem
Grau. Richtig seekrank ist noch niemand, aber den beiden
Frauen an Bord ist schon wieder unwohl. In unserer
Kajüte riecht es immer noch nach Pinguinkot, so daß ich
eine Aversion verspüre, mich schlafen zu legen. Die
Bücher im Schapp habe ich, soweit sie mich
interessierten, schon zum dritten Male gelesen. Wir alle
sind wortkarg geworden, reden kaum noch miteinander,
einer überträgt seine Stimmung auf den anderen. Kaum
einer versteht es mehr, noch etwas, womit sich
Erwartungen verbinden, von sich zu geben. Haben wir uns
anfangs noch interessiert ausgehorcht, öden wir uns
jetzt nur mehr an. Während meiner nächsten Wache
überqueren wir den 62. Breitengrad, durch Tatenlosigkeit
zieht sich die Zeit unendlich hin. Über das weitere
Vorgehen herrscht weitgehend Uneinigkeit. Manchmal
drängt sich mir der Eindruck auf, daß auf diesem Schiff
nicht einer entscheidet, sondern demokratisch von allen
entschieden wird. Jeder weiß etwas, gibt etwas zum
Besten. Lauter erfahrene Segler, die Angst vor dem Wind
haben! Helmut macht den unsinnigen Vorschlag, mitten auf
der Drake-Straße liegenzubleiben und zwei Tage
abzuwarten, bis das Sturmtief durchgezogen ist. Wozu,
frage ich mich nämlich, haben wir versucht, das maximale
Etmal herauszuholen oder sind in der Hoffnung auf
besseres Wetter nicht gleich zwei Tage länger in der
Antarktis geblieben, wenn unser Durchhaltevermögen
mitten auf dem Meer plötzlich erlischt? Martin
allerdings läßt weiterfahren, trotz aller Unkenrufe. Ein
übertechnisiertes Boot, ein ständiges Ablaufen unter
Maschine, und das nennt sich nun Segeltörn! Wenn wir
weiterhin so gut vorankommen, werden wir zwei Tage zu
früh auf Kap Horn sein, um dort die noch verbleibende
Zeit abzuliegen. Mich dürstet indes nach Taten, nicht
nach Herumliegen!
Stunden stoischer Ruhe vergehen, der Luftdruck sinkt
kontinuierlich immer weiter ab, das kann nur in
Starkwind münden. Bald werden wir den 60. Breitengrad
erreichen, Grund eigentlich zum Feiern, denn nun haben
wir den südlichen Ozean verlassen, doch es sind immer
noch ganze 5° bis Kap Horn. Unsere Australierin liegt in
ihrer Koje und weint, sei es aus Liebeskummer oder weil
sie die Reise zu dem einzigen Zweck gemacht hat, um zu
leiden. Selbst Bernard, sonst für jeden Spaß zu haben,
redet nur mehr wenig. Ganze drei Flaschen Wein sind uns
noch geblieben, frisches Obst ist ein Begriff, den wir
nicht mehr kennen, ja nicht einmal die Lust auf etwas
Süßes können wir stillen, denn Schokolade, ein wichtiges
Grundnahrungsmittel, wurde schlichtweg vergessen, Milch
gibt es nur noch in pulverisierter Form. Ein scharfes
Nudelgericht ist alles, was uns am Abend bei Laune hält.
Alles liegt um 20 Uhr bereits in der Koje, schläft vor
für die Nachtwache.
Als
ich meine Mitternachtswache antrete, ist es draußen
stockdunkel, man merkt wieder die Unterschiede zwischen
Tag und Nacht. Mit neuneinhalb Knoten unter Maschine
machen wir einen richtig guten Schnitt. Zwei
Breitengrade haben wir mittlerweile abgefahren, der 60.
wäre eigentlich ein Grund zum Feiern gewesen, doch
niemandem war danach. Das Schiff krängt auf dem Rückweg
nach der anderen Seite, so daß ich aus der Koje
jedenfalls nicht mehr fallen kann. Dafür werde ich jetzt
außenbords gedrückt, was auch nicht wesentlich
angenehmer ist. Als ich am nächsten Morgen aufwache, hat
die Maschine ein Problem: Überhitzung! Rauch steigt auf.
Der Wind hat nun soweit aufgefrischt, daß wir unter
Segeln weiterfahren können. Am 58. Breitengrad wendet
sich das Blatt, der Luftdruck steigt steil an, die
Bewölkung lockert auf, der Wind wird auffrischen. Helmut
sucht Streit, seine Belastbarkeit hat ihre Grenzen
erreicht. Er interpretiert böswillig jede meiner Fragen
so, als müßte ich sie mir selbst beantworten können.
Erst durch eine verbale Attacke gelingt es mir, ihn von
seiner Marotte abzubringen.
Als
Alain und ich um 10 Uhr unsere Wache antreten, gibt es
erneut ein Problem mit der Maschine, einer der beiden
Auspuffe qualmt. Der nicht näher einzugrenzende Schaden
kann jedoch nach einem Filterwechsel behoben werden.
Außerdem sind die Segelbedingungen jetzt so gut, daß wir
die Maschine abstellen können. Bei Wellen von drei bis
vier Metern Höhe steuern wir nördlichen Kurs, erreichen
in Spitzen über zehn Knoten. Das Rudergehen erfordert
jede Menge Krafteinsatz, denn das Schiff reagiert nicht
sofort, sondern erst relativ spät auf Änderungen der
Ruderlage. Nach einer Stunde harter Arbeit bin ich
ermattet und übergebe das Ruder an den seglerisch
unbedarften und der deutschen Sprache nicht mächtigen
Alain, mit den Worten: »Steer a mean course of 330° at
the compass, do not leave the track and try to hold zero
rudder position.« Alain, der weniger geübt ist als die
anderen, kann den Kurs nicht halten, und auch ich kann
ihn nicht immer beaufsichtigen wie ein Kind. Immer
höhere Wellenberge lassen das Schiff alsbald aus dem
Ruder laufen, und dann kommt sie, die unvermeidliche
Patenthalse! Mit einem Krachen fliegt der Großbaum auf
die andere Seite, eine Leiste wird herausgerissen.
Walter und ich müssen nach vorne, um den Schaden zu
reparieren. Jener war einst selbst Schiffseigner,
erlebte allerdings das Malheur, im Sturme
durchzukentern. Dabei büßte er sein Schiff ein, doch
haben er und seine Frau den Seeunfall überlebt. Die
Versicherung hat den Schaden jedoch nicht übernommen,
weil Walter gegen die Vorschrift verstieß, das Schiff
mit mindestens drei Personen zu bemannen. Jahrelang
hatte er auf diese Anschaffung gespart und alles
verloren, geblieben ist ihm lediglich das nackte Leben
und das seiner Frau. Auf Halbwindkurs nähern wir uns
schließlich Kap Horn, auf etwa 57° südlicher Breite, der
Luftdruck ist immer noch stark im Ansteigen. Nach
unserer Nachtschicht, zwischen 20 bis 22 Uhr, lege ich
mich aufs Ohr, in der Hoffnung, daß wir unser Ziel
erreicht haben werden, wenn ich aufwache.
Es
soll jedoch ganz anders kommen. An den Bewegungen des
Schiffes merke ich, daß der Wind an Stärke zugenommen
hat, an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Das Ende der
Drake-Straße ist erreicht. Innerhalb von einer Stunde
dreht der Wind von Nord auf West und frischt gewaltig
auf. Das Barometer fällt beinahe senkrecht und gibt
Warntöne von sich. Plötzlich Wassereinbruch! Durch das
Kajütenfenster dringt Seewasser ein, überschüttet mich,
einem wahren Sturzbach gleich. Mein Schlafsack, mein
Bett, alle meine Sachen sind auf einen Schlag durchnäßt.
Vergeblich versuche ich in der dunklen Kammer das Licht
anzumachen, finde es lange Zeit nicht, und als ich die
Hand dann doch irgendwann auf dem Schalter habe,
funktioniert es nicht. Im dunkeln tappe ich nach meiner
Hose, zwänge mich in meine feuchten Gummistiefel, lege
hastig die Schwimmweste an und stürze hinaus.
Unbeherrscht fahre ich meine Mitsegler an: »Was macht
ihr Idioten da?« In der Offiziersmesse sitzt Christian,
ganz alleine, über einer Karte brütend. Seine kappe
Antwort lautet, völlig apathisch: »Hier segelt schon
lange keiner mehr.« Ohne weiter zu fragen, klettere ich
hinauf ins Cockpit und melde Jochen den Schaden. »Sind
die Luken dicht?« meint dieser. »Ja, natürlich!« lautet
meine Antwort. Jochen will sich persönlich davon
überzeugen. Schnell ist die Ursache gefunden: nur einer
der beiden Verschlüsse war wirklich fest genug
angezogen, der andere nur lose befestigt, und diese war
auch der Grund, warum beim Eintauchen Wasser hereinkam.
Ich entschuldige mich, nehme alles zurück, die Nerven
reagieren entspannter. Dann gibt es erneut Grund zur
Besorgnis. Eine der beiden Maschinen arbeitet nicht,
dichter und dichter gelangen wir unter Land. Die
Situation gleicht der eines Legerwalls, doch wir können
nichts dagegen tun. »Halte stärker Backbord«, meint
Martin zu Helmut, der schon länger als zwei Stunden am
Ruder steht. Er wolle das zu Ende bringen, meint Helmut
auf mein Angebot, ihn abzulösen. Mühsam kämpft sich das
Schiff durch die Wellen, der Wind hat mittlerweile
Orkanstärke erreicht, wir messen Windstärken von acht
bis zehn Beaufort, in Böen zwölf. Der Regen peitscht
senkrecht übers Deck. Die Vorsegel wurden nicht richtig
aufgezurrt; Jochen muß aufs Vorschiff, um die Laschen festzubändseln. Fast zu kippen droht der Wind das
Schiff, Rudergehen wird zum reinsten Kraftakt. In dem
peitschenden Regen versuchen wir uns in die kleine
Caleta Martial zu retten, laufen dazu die Henschel-Insel
an, wo wir den Anker ausbringen. Der Anker ruckt kurz
ein und er hält, schon beim ersten Versuch. Auch wenn
der Wind weiterhin über unsere Köpfe hinwegfegt, hier
liegen wir erst einmal sicher, auf gutem Ankergrund.
Während wir erbarmungslos hin und her geworfen werden,
sich einige von uns einen Scherz daraus machen, den
»Wind« zu fotografieren, rieche ich plötzlich
Brandgeruch. Martin ist an Deck eingeschlafen; als ich
ihn wecke und ihm den Vorfall melde, springt er
panikartig auf, reißt den Feuerlöscher heraus und sieht
nach dem Brandherd. Seit zwei Stunden schon warte ich
darauf, daß endlich die Heizung repariert wird, denn
alle meine Sachen sind immer noch klatschnaß und können
nicht trocknen; dem Skipper aber sind andere Dinge
wichtiger, die Heizung interessiert ihn nur am Rande.
Wie es der Zufall will, stellt sich aber genau die
defekte Heizung als die Ursache des Kabelbrandes heraus.
Da unser Schicksal unbestimmt und die Lage gefährlich
ist, müssen wir Ankerwache gehen. Jeder Törnteilnehmer
muß jeweils für die Dauer einer Dreiviertelstunde die
Position des Schiffes auf dem GPS verfolgen und jede
Änderung sofort dem Schiffsführer melden. Draußen tobt
das Meer. Weiße Gischt hält die blaue Farbe des Wassers
unter einem Mantel aus Schaum verborgen. Horizontal
schießt das Wasser pfeilschnell über die kurzen Wellen,
als könnte es diese noch einholen. Nie zuvor habe ich
einen solchen Sturm erlebt, er übersteigt nahezu alles,
was man an Vorstellungskraft aufbieten kann. Der Wind
zerfetzt alles, was nicht niet- und nagelfest ist, zerrt
an unserem Schiff und läßt die Ankerkette in kurzen
Abständen erzittern, im Gleichtakt zum Schlagen der
Wanten. In unserem Windschatten hat schwimmend eine Möwe
Zuflucht gesucht. Unsere Wasservorräte sind mittlerweile
so knapp, daß uns vom Skipper das Duschen untersagt
wird. Auch bei stärksten Winden bleibt das Schiff aber
fest in seiner Verankerung. Meine Ankerwache, die sich
über Mitternacht erstreckt, währt nur eine dreiviertel
Stunde. Anschließend wecke ich Bernard und ziehe mich
dann in meine nasse Koje zurück, die Kleidung lege ich
gar nicht erst ab. Durch die viele Feuchtigkeit hat sich
reichlich Kondenswasser angesammelt, nichts ist merklich
getrocknet, weil die Luken nicht geöffnet werden
konnten. Am nächsten Morgen komme ich wie immer gut
ausgeruht als erster aus den Federn hervor, meine
Mitsegler hingegen brauchen alle deutlich mehr Schlaf.
Der Wind hat jetzt wie vorhergesagt deutlich
nachgelassen, erreicht aber in Böen immer noch mehr als
vierzig Knoten.
An
unserem vorletzten Segeltag zeigt sich sogar ein wenig
die Sonne. Ich habe mit dem Skipper abgesprochen, daß
ich heute gerne ans Ruder gehen würde, und er stimmt zu.
Nur mit der Fock getakelt, segeln wir durch den
Bravo-Kanal zwischen der Freycinet- und der
Wollaston-Insel hindurch, um Kap Scourfield herum und
dann über die Bahia Hartley bis Middle Island, wo wir
auf Kurs 350° gehen, um anschließend die Bahia Nassau zu
überqueren. Unser Ziel ist die Meeresstraße Paso Goree
zwischen der Insel Navarino und der Insel Lennox, wo wir
vor drei Wochen unseren Ausgang nahmen. Hier, am
schrecklichsten Ende der Welt, ragen bizarre Bergspitzen
hoch in den Himmel, ihrer Geologie nach ganz den Gipfeln
auf Feuerland ähnlich, mit grünem Bewuchs bis in die
Gipfelregionen. Die Bäume dieser Gegend haben eine ganz
eigenartige Form entwickelt, unter dem Einfluß des stets
vorherrschenden westlichen Windes demütig nach Osten
gebeugt, von einseitig krummem Wuchs. Das Meer scheint
heute Frieden mit uns geschlossen zu haben, nur mit
einem nicht. Als ich am Navigationstisch sitzend mir den
Weg in den Karten abstecke, kommt plötzlich hinter mir
wie ein Geschoß Bernard im Sturzflug vorbeigeflogen und
donnert gegen die Achtertüre, wobei er sich ernste
Verletzungen zuzieht. Ungeübte rechnen oft nicht damit,
wie sich die Schiffsbewegung auf ihr Gleichgewicht
auswirken kann, so auch Bernard. Wir müssen ihn in seine
Koje legen und können ihm, außer daß ihm wir ihm ein
Schmerzmittel verabreichen, nicht weiter helfen. Er
hatte sich während der gesamten Reise schlecht benommen,
dennoch tut er mir in diesem Moment leid. Noch wagt
keiner unserer Ärzte an Bord eine Diagnose zu stellen,
aber er wird sich etwas gebrochen haben. Auf eigenen
Wunsch möchte er so schnell wie möglich in ein
Krankenhaus gebracht werden.
In
der Bahia Nassau geht es noch einmal richtig zur Sache.
Meterhohe Wellen müssen abgeritten werden, die Brecher
schwappen übers Deck, so daß ich gezwungen bin, ein
letztes Mal in mein Ölzeug zu schlüpfen. Am Achterdeck
sitzend, genießen wir noch einmal die Urgewalten der
See, und wir geraten darüber in Hochstimmung, die uns
bis zum Einlaufen begleitet. Am 2. Februar 2007 legt die
Santa Maria Australis unter dem Jubel der Menge im Hafen
von Puerto Williams an, wo sie vor drei Wochen ihren
Ausgang nahm. Gut ein Dutzend Delphine haben uns auf dem
Beagle-Kanal ein letztes ehrenvolles Geleit gegeben. Bei
schwachen Winden setzen wir wie bei einem Triumphzug
sämtliche Segel, gleiten bei voll ausgereffter Takelage
unter den majestätischen Bergen Feuerlands sanft durchs
Wasser, was wir in den vergangenen drei Wochen nicht ein
einziges Mal erlebt haben. Zu stark waren stets die
Winde, als daß es uns gestattet gewesen wäre, mehr als
ein Vorsegel und ein gerefftes Groß aufzuziehen. Abends
in der Bar sprechen wir alle dem Alkohol zu, feiern
unsere glorreiche Rückkehr. Das sündhaft teure Elexier,
welches man hier in sich hineinschüttet, nennt sich
Pisco Sour, gemixt aus Zitronensaft und einem
traubenhaltigen Weinbrand. An der Bar begrüßt uns ein
britischer Forscher, den dieser Trunk schon halb um den
Verstand gebracht zu haben scheint, behauptet er doch
felsenfest, daß das, was wir ihm als mit eigenen Augen
gesehen berichten, nicht stimme, denn die Eisschilde der
Antarktis seien stabil. Ich halte ihn dieser korrupten
Aussage wegen für einen von jenen, die sich sehenden
Auges an ihren Meßergebnissen ergötzen, anstatt zu
warnen, und die deshalb die Schuld trifft, daß dieses
erfrorene Paradies nun für immer verlorengeht.
Und
als wir am nächsten Tag in Ushuaia einlaufen, dünkt es
uns ein Wunder, daß wir diese abenteuerliche Fahrt ohne
größere Zwischenfälle unbeschadet überstanden haben.
Gewiß, es gab Probleme! Eines jedoch hat sich uns ganz
tief eingeprägt: die endlosen Weiten der Drake, die
eisbedeckten Berggestalten der antarktischen Halbinsel
mit ihren kalbenden Gletschern, die tosenden, alles
zerfetzenden Winde, das kältestarrende Eis, die
einzigartige Klarheit der Luft, aber auch der
charakteristische, von den Pinguinkolonien ausgehende
Geruch, die donnernden Eisbrüche und die Enge des mit
Treibeis gefüllten Lemaire-Kanals, die spiegelglatte See
des Paradise Harbour und die Herzlichkeit der Menschen
in den Antarktisstationen. Die Schätze, die wir wie von
einem Eroberungsfeldzug heimkehrend mit uns führen, sind
nicht greifbar, sie glänzen in unseren Herzen, es sind
Reichtümer von unschätzbarem Wert, die niemand rauben,
an denen niemand sich vergreifen kann. Als wir am
Vorabend unserer Abreise das Abschiedsessen einnehmen,
steht der alles erhellende Mond in voller Pracht über
den gespenstischen Bergspitzen, und über uns leuchtet
das Kreuz des Südens. Am nächsten Morgen liegt frischer
Schnee auf den Bergen Ushuaias, die Sonne geht gerade
auf und alles erstrahlt wie in Gold getaucht in jenem
einzigartigen patagonischen Lichte wie zu einem
fröhlichen Farbenzauber.