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Reiseberichte.com

Durchquerung des Amazonasgebiets

25.9.-25.10.1992

 Besucherzaehler

Die folgende Beschreibung ist aus Tagebuchaufzeichnungen hervorgegangen, die während einer abenteuerlichen Reise gemacht worden sind, die uns von Venezuela quer durch das Amazonas-Tiefland nach Paraguay führt. Ausgangspunkt dieser Reise ist Caracas, die Hauptstadt Venezuelas. Wir erreichen zunächst bei Ciudad Bolívar den Orinoco, durchqueren die Gran Sabana, dringen weiter vor bis ins Bergland von Guayana, wo wir die Grenze zu Brasilien überschreiten, und gelangen dann durch die endlosen Weiten des Bundesstaates Roraima in den Bundesstaat Amazonas, bis wir schließlich bei Manaus auf den Zusammenfluß des Rio Solimões mit dem Rio Negro treffen. Weiter geht es durch die Bundesstaaten Rondônia, Mato Grosso und Mato Grosso do Sul ins Pantanal, den "Großen Sumpf", sowie durch den Gran Chaco nach Asunción, der Hauptstadt Paraguays. Mit einem Abstecher zu den Wasserfällen von Iguaçú, wo wir die Grenze zu Argentinien überschreiten, und einem Ausflug zum Staudamm von Itaipú endet diese Reise mit Zwischenstop in São Paulo in Rio de Janeiro.
    Die Zeiten Federmanns oder eines Alexander von Humboldt, wo man sich entweder hoch zu Roß oder auf dem Wasserwege mit Hilfe eines Kanus fortbewegen mußte, sind längst vorbei, so daß diese 6000 km lange Reise heutzutage, vorausgesetzt es herrscht Trockenzeit, nicht mehr als 4 Wochen in Anspruch nimmt. Mit modernen Großraumflugzeugen dauert die Anreise von Frankfurt kaum 13 Stunden, wenngleich man etwas zerknirscht ankommt und sich erst einmal richtig ausschlafen muß.
    Die erste Übernachtung in Caracas wäre gut überstanden, die Zeitverschiebung bereitet noch einige Probleme. Mehrmals in der Nacht bin ich schweißgebadet aufgewacht. Nur durch häufiges Duschen behält man ein Gefühl allgemeinen Wohlbefindens. Nachdem ich mich gegen vier Uhr früh nicht mehr entschließen kann, nochmals in mein Bett zurückzukehren, verbringe ich den Rest der Nacht unter freiem Himmel, unterm Sternenzelt. Obwohl man aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit in den Tropen eine gute Sicht nicht erwarten würde, ist der nächtliche Himmel dennoch außerordentlich klar. Nach einer kurzen Zeit des Morgengrauens beginnt ein Tag mit strahlendem Sonnenschein. Nach einem bescheidenen, wenngleich "kontinentalen," Frühstück fahren wir von unserem außerhalb der Stadt gelegenen Hotel mit unserer einheimischen Reiseleiterin, die uns für diesen einen Tag zugeteilt worden ist, ins Zentrum der Hauptstadt Venezuelas zu einer Stadtrundfahrt. An Sehenswertem hat Caracas nicht viel zu bieten. Da gibt es das Nationaldenkmal, die Plaza Bolívar als dem kulturellen Mittelpunkt der Stadt und das Mausoleum Bolívars, des großen Unabhängigkeitskämpfers. Eine Plaza Bolívar gibt es übrigens in fast jeder größeren Stadt Südamerikas, so sehr hat sich das Bewußtsein der erlangten Freiheit ins Gedächtnis der Menschen eingeprägt. Caracas verbirgt sich geographisch hinter einem etwa 1500 m hohen Gebirgszug eines Andenausläufers in einem Längstal, das parallel zum Meer verläuft und aufgrund seiner geschützten Lage mit einem äußerst milden und angenehmen Klima gesegnet ist. Überragt wird dieses Tal vom Hausberg von Caracas, der Silla, die eine Aussicht gewährt, die schon der große deutsche Lateinamerikaforscher Alexander von Humboldt als umfassend gerühmt hat. Leider ist die Seilbahn auf den Berg derzeit außer Betrieb, so daß uns dieses Erlebnis nicht vergönnt ist. Trotz seiner Höhenlage von ca. 920 m über dem Meeresspiegel können wir in Caracas um die Mittagszeit noch Temperaturen um die 35 °C messen.
    Der Flughafen von Caracas ist am Meer gelegen. Ausnehmend reizvoll ist der Landeanflug, wenn man sich dem Flugplatz von Osten kommend nähert und dabei den mit Regenwald gesäumten Küstenstreifen entlangfliegt, über dem sich die Bäume von den Höhen der Küstenkordillere bis hinab zum Meer erstrecken. Schöne Strände hat dieser Abschnitt der Karibikküste aufgrund des Steilabfalls der Gebirge nicht zu bieten. Diese scheinen wohl mehr in Richtung Isla de Margarita zu liegen.
    Neben den nur noch spärlich vertretenen spanischen Kolonialbauten sticht vor allem die moderne Wolkenkratzerarchitektur ins Auge. Besonders beeindruckend sind die Hochhaussiedlungen des Mittelstandes, der für venezolanische Verhältnisse durchaus schon der gehobenen Schicht angehört.
    Das Straßenbild wird geprägt von Fahrzeugen nahezu ausschließlich amerikanischer Herkunft, Straßenkreuzer von anno dazumal, die, durchweg verrostet, in den Venezolanern dankbare Abnehmer fanden. Die vielen Grünflächen der Stadt tragen dazu bei, daß der Abgasgeruch nicht so störend empfunden wird, wie wir dies von anderen Großstädten gewohnt sind. In den Einkaufsstraßen der Stadt wimmelt es nur so von Angehörigen der verschiedensten Rassen, einschließlich aller nur denkbaren Mischlinge, unter denen die Mulatten eindeutig dominieren. Straßendiebstähle, die wir auch am eigenen Leib zu verspüren bekommen, sind in der Innenstadt gang und gäbe. So gesehen ist es durchaus verständlich, daß sich die Besitzenden vor jeder Art von Kriminalität zu schützen suchen. Jedes Haus hat seinen eigenen Bewacher. Selbst die Zufahrtsstraßen zu bestimmten Wohnvierteln sind bewacht und werden gegen das Betreten Unbefugter abgesichert.
    Nach Darstellung unserer einheimischen Reiseleiterin sind die Venezolaner ein "faules" Volk. "Wer jedoch in diesem Land arbeiten will", so meint sie, "der kann es hier durchaus zu etwas bringen." Arm ist dieses Land aufgrund seiner reichen Bodenschätze und Erdölvorkommen jedenfalls nicht. Nur ist das Volk, wie so oft in lateinamerikanischen Ländern, aufgrund der Staatskorruption meistens nicht der Nutznießer seiner Ressourcen. So gesehen ist es nicht verwunderlich, daß die Slums wie Pilze aus dem Boden schießen.
    Nach einigen Pannen, die durch den Ausfall des Fahrzeugs bedingt sind, erreichen wir von Caracas aus mit drei Stunden Verspätung in gut zehnstündiger Fahrt, auf zum Teil sehr guten Straßen, Ciudad Bolívar am Río de Orinoco. Die Strecke, landschaftlich zwar kein besonderes Erlebnis, jedoch mit sehr viel Grün überall und hie und da einem Ausblick auf die Karibikküste, führt durch ein Gebiet, das im wesentlichen mit Sekundärwald bestanden ist. Hier in Ciudad Bolívar befindet sich die einzige Brücke über den Orinoco. Mich erinnert sie ein wenig an die Golden Gate Bridge, obwohl sie farblich ganz anders aussieht, nämlich weiß. Der Orinoco ist an dieser Stelle lediglich einen Kilometer breit, also ausgesprochen schmal, dafür um so tiefer.
    Nachdem heute unser eigentlicher Reiseleiter mit seinen einführenden Vorträgen begonnen hat, kommt bereits einiges über seine Persönlichkeit zum Vorschein, was einer eingehenden psychologischen Beleuchtung wert zu sein scheint: Der Mann ist politisch ein Rechter, seine Vorliebe für Hahnen- und Stierkämpfe verleiht ihm einen Hauch von Brutalität, seine abschätzende Beurteilung der einheimischen Bevölkerung entlarvt ihn als einen Rassisten. Die dreißig Jahre, die er sich in Südamerika "herumgetrieben" hat, und das harte Leben haben einiges in ihm zerstört. Er lebt allein mit seinen Äffchen, fernab der Zivilisation, in unmittelbarer Nachbarschaft von Indianern im tiefsten Urwald Brasiliens, in Iquitos, das völlig von der Außenwelt abgeschnitten ist und nur aus der Luft oder auf dem Wasserwege versorgt werden kann. Seine Schilderungen des Landes und seiner Bevölkerung mögen zutreffend sein, abgesehen von einigen phantastischen Abschweifungen, seine Erklärungen noch so überzeugend; immer wieder tritt in all seinen Äußerungen, die nur allzu deutlich die erlebten Selbstzweifel durchscheinen lassen, ein typisches Exemplar des Herrenmenschen in Erscheinung. Daß sich hinter dieser Verbitterung ein schweres Schicksal verbirgt, erfahre ich erst später, und erst dann gelingt es mir, für diesen Charakter ein wenig Verständnis aufzubringen.
    Das erste was wir erfahren ist, daß niemals vor uns eine Touristengruppe, weder eine europäische noch eine nordamerikanische noch eine australische, auf dieser Route, die wir gewählt haben, das Amazonastiefland durchquert hat.
    Nun sitze ich in der Abfertigungshalle des Flughafens von Ciudad Bolívar und warte auf unseren Flug nach Canaima, das im wohl größten Nationalpark Venezuelas gelegen ist. Die Abfertigung erfolgt in der zwanglos unbürokratischen Art, die man von Mittelamerika her gewohnt ist. Gerade noch habe ich das restaurierte Flugzeug des Jimmy Angel photographieren können, mit dem dieser 1937 die nach ihm benannten, 972 m hohen Wasserfälle entdeckt hat. Jimmy Angel und sein Begleiter machten damals eine Bruchlandung auf eben jenem Tafelberg, von dem der Angel Fall herabstürzt, blieben jedoch unverletzt. Sie schafften es, sich über die senkrechten Felswände in den Urwald abzuseilen und konnten sich auf diese Weise retten. Der Salto Angel ist der höchste Wasserfall der Erde.
    Einer meiner Reisebegleiter, ein gebürtiger Kanadier, läßt soeben eine weithin hörbare Bemerkung über das Verhalten der Deutschen im Urlaub fallen, ohne daß ihm jemand widersprechen würde: "Essen", sagt er, " hat auf die Deutschen die größte Anziehungskraft im Urlaub." "Da ist etwas Wahres dran", denke ich mir, "wenn ich die Leute so manchmal beim Furagieren beobachte."
    Schon auf dem Flug zeichnet sich ab, daß wir das Gebiet der Llanos verlassen haben und uns dem bewaldeten Bergland von Guayana nähern. Eigentlich hätte ich erwartet, mit einer kleinen Propellermaschine in den Nationalpark geflogen zu werden, allein, dies sollte sich als ein Irrtum erweisen. So verdanke ich denn meine erste Landung mitten im Dschungel einer uralten Boeing 727-100 der nationalen venezolanischen Fluggesellschaft Servivensa. Damit ist klar, daß das Rollfeld nur geteert sein kann und wir nicht, wie ich es mir in meiner naiven Vorstellung zurechtgelegt habe, auf einer staubigen Sandpiste landen würden. Eigentlich logisch, wenn man sich überlegt, daß der beträchtliche Tourismus in Canaima das ganze Jahr über stattfindet! Bereits der Landeanflug mit einem phantastischen Blick auf die tosenden Wasserfälle unter uns, inmitten einer bizarren Landschaft, läßt einem das Herz höher schlagen in Anbetracht dessen, was uns erwarten wird. Ich bin nun schon mit den seltsamsten Zubringern von Flughäfen abgeholt worden, aber noch niemals mit solch einem Gefährt, einem Traktor mit Anhänger. Das letzte Mal, soviel ich mich erinnern kann, bin ich damit auf meiner Abiturfeier gefahren. Unsere Agentin, von der wir abgeholt und ins Campamiento gebracht werden, ist eine blonde, blauäugige, gebrochen deutschsprechende Frau. Allein ihre Art, wie sie übermächtig am Geld interessiert ist und uns die Scheine förmlich aus der Hand reißt, mißfällt mir. Noch während des Essens kassiert sie ab, wo doch keiner von uns von hier fliehen könnte, jedenfalls nicht ohne Flugzeug, denn Straßen gibt es nach Canaima keine. Ihr Deutsch hat eine so ungewohnte, fast befremdende Sprachmelodie, die ich nie zuvor gehört habe und für die ich auch keinen Akzent wüßte, der mir bekannt vorkäme.
    Canaima ist der größte und wohl auch bekannteste Nationalpark Venezuelas. Die charakteristischen Tafelberge gehören geologisch zu den ältesten Gesteinsformationen der Erdkruste. Wenn man sie zum ersten Mal sieht, fühlt man sich in eine andere, außerirdische Welt versetzt.
    Nach einem Begrüßungstrunk werden die Zimmer vergeben. Ich habe eigentlich nichts anderes erwartet, als daß wir in Doppelzimmern untergebracht werden. Das Essen im Campamiento ist ebenfalls gut, so daß es uns an bescheidenem Komfort nicht mangelt. Zum Glück habe ich die ersten Sonnenstrahlen sofort dazu genutzt, Photos zu schießen, denn das Wetter sollte nicht so bleiben. Die Regenzeit ist dieses Jahr noch nicht zu Ende, obwohl es längst Zeit dafür wäre. Der gesamte Nationalpark mit seinen unzähligen Wasserfällen, den Tafelbergen, die mächtig aus dem Urwald herausragen, dem tropischen Regenwald, der von zahlreichen Flußläufen durchkreuzt wird, das Gewirr der Stimmen, all das kann nicht anders bezeichnet werden als großartig. Leider trübt die augenblicklich aufziehende Bewölkung ein wenig unser Hochgefühl, aber damit muß man in diesen Breiten ständig rechnen. Nichtsdestotrotz kehren wir alle trockenen Fußes von unserer ersten Unternehmung in den Urwald zurück, obwohl wir unseren Weg teils in Einbäumen, teils mit Jeeps und ein nicht unbedeutendes Stück auch zu Fuß zurückgelegt haben. Ziel unserer Wanderung ist der Salto de Sapo. Aufgrund seiner Überhänge ist es möglich, unter dem Wasserfall hindurchzugehen. Da wir trockenen Fußes nicht hindurchkommen, müssen wir unsere mitgebrachten Badesachen auspacken. Nachdem ich offenbar nicht allen entkleideten Damen die gebührende Aufmerksamkeit schenke, werde ich zur Strafe als "Tarzan" bespöttelt. Die Kameras und die Kleidung werden in wasserdichte Plastikbeutel verpackt. Im Grunde ist nur eine einzige Stelle unpassierbar, an der man sich nicht scheuen darf, in die herabstürzenden Wassermassen hineinzutreten. Der freie Fall wird jedoch durch mehrere Stufen soweit gemindert, daß der Druck in der kurzen Zeitspanne, die das Hindurchtreten erfordert, gerade noch auszuhalten ist. Nachdem wir nun so richtig von Kopf bis Fuß naß geworden sind, bietet sich ein Bad in den erfrischenden Fluten des Caroni-Flusses geradezu an. Die Wasser des Caroni, eines Nebenflusses des Orinoco, sind rostbraun. Der Fluß zählt somit zu den Schwarzwasserflüssen. Schwarzes Wasser kommt aus allen Leitungen, und es ist wegen des kalkfreien Urgesteins ziemlich weich. Man hat auch nach dem Händewaschen das Gefühl, als ob immer noch Seife an den Fingern ist. Selbst die weißen Schaumkronen der Wellen sind braun gefärbt, was den Flüssen ein unansehnliches Aussehen verleiht, gerade so, als befände man sich inmitten einer Kläranlage. Dies darf jedoch, zumal es dort anders riechen würde, nicht darüber hinwegtäuschen, daß man sich in einem der saubersten und reinsten Biotope der Erde befindet, wo weder chemische noch biologische Verunreinigungen die Wasserqualität beeinträchtigen.
    Das Klima ist erträglicher und angenehmer geworden, der Schweiß fließt nicht mehr so in Strömen wie noch die Tage zuvor. Dennoch ergibt die Messung eine Temperatur von 27 °C und eine relative Luftfeuchte von 76 %. Ich kann es einfach nicht glauben und vermute, daß das Meßgerät falsch anzeigt oder aber, daß ich mich mittlerweile an das Klima assimiliert habe und daher subjektiv anders empfinde.
    Abends sitzen wir nicht mehr allzulange beisammen, da sich die einmalige Gelegenheit bietet, das Schlafdefizit der vergangenen Tage auszugleichen. So bleibt es denn bei nur einem Cocktail, da der immense Flüssigkeitsbedarf der letzten Tage nicht mehr gegeben ist. Nach einem wohltuenden und erquickenden Schlaf machen wir heute unseren Flug zum Salto Angel, wiederum mit Servivensa, und zwar mit einer Propellermaschine vom Typ DC-3. Man gestattet uns, uns vorne im Cockpit aufzuhalten, so daß mir dabei einige ausgezeichnete Luftaufnahmen glücken. Wir fliegen zunächst den Caroni-Fluß hinauf, bis wir plötzlich zwischen den Tafelbergen den Angel Fall entdecken. Der gesamte Flußlauf ist von dichtem Urwald bestanden. Die Wolkendecke liegt so niedrig, daß selbst die Umrisse der Tafelberge von den Wolkenmassen verhüllt bleiben. Hätten wir anstelle des trüben Wetters schönes Wetter gehabt, wären die Flieger vermutlich deutlich höher geflogen, und der Rundflug wäre wohl weit weniger abenteuerlich geworden. Auf dem Rückflug ließen die Piloten die Maschine mehrmals so weit absacken und eine Schräglage einnehmen, daß ich einige Male geglaubt habe, das Flugzeug würde jeden Moment mit einer Tragfläche die Wasseroberfläche berühren. Auch mit der Wartung scheinen es die Piloten nicht so genau zu nehmen; auf der Tragfläche tropft Öl aus den Leitungsdichtungen. Glücklicherweise ist nichts passiert, sonst würde ich diese Zeilen wohl nicht schreiben. Ich finde ein solches Verhalten eines Piloten, auch wenn es sich um einen Schwarzen handelt, ausgesprochen verantwortungslos, wenngleich es bei dem einen oder anderen durchaus einen prickelnden Nervenkitzel ausgelöst haben mag, so knapp über den Baumwipfeln zu fliegen. Nicht auszudenken, was hätte passieren können, wenn außer dem üblichen Geschaukele größere Turbulenzen zu verzeichnen gewesen wären!
    Nach diesem Erlebnis sitzen wir alle ein bißchen abgespannt auf dem kleinen Flugplatz von Canaima, mitten im Busch des Berglandes von Guayana, und warten auf unseren Rückflug nach Ciudad Bolívar, der schon erheblich verspätet ist. Auf Pünktlichkeit kommt es jedoch angesichts dessen, was wir vorhaben - das Amazonastiefland sowie den halben südamerikanischen Subkontinent zu durchqueren - überhaupt nicht an, denn solche Eventualitäten müssen von vornherein einkalkuliert werden.
    Zwei Tage vergehen, an denen sich nichts Besonderes ereignet. Wir haben Ciudad Bolívar auf einer gut ausgebauten Autobahn verlassen und gelangen durch landschaftlich uninteressantes Gebiet, die sogenannten Llanos, nach Guasipati, wo wir übernachten wollen. Es erweist sich als ausgesprochen schwierig, in diesem Ort eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden. Nach längerem Suchen und Herumfragen empfiehlt man uns das "Hotel de la Reina", das an einer belebten und lauten Durchgangsstraße gelegen ist. Der Innenhof des Hotels ist zugeparkt, so daß wir unser Fahrzeug direkt an der Straße stehenlassen müssen, wo wir neugierigen Blicken und Zugriffen ausgesetzt sind. Ich bereue es nicht, trotz der ebenso lauten wie kaputten Klimaanlage ein Zimmer zu nehmen und die Hotelübernachtung einer Übernachtung im Fahrzeug vorzuziehen, nicht zuletzt, um den Auspuffgasen zu entgehen. Das Abendessen verläuft in freundlicher Atmosphäre und unter Begleitung von Gitarrenmusik. Das Frühstück am nächsten Morgen nehmen wir nicht mehr im Hotel ein, sondern außerhalb des Ortes, irgendwo in der "Pampa", wie unsere Insider sich auszudrücken pflegen. Über die Ansiedlung El Dorado, die ebenso trist wirkt wie die Menschen, die hier leben, verläuft unsere Route weiter in Richtung brasilianische Grenze, schwingt sich hinauf in Höhen bis zu 1300 m auf die Hochebene der Gran Sabana, einer Graslandschaft, in der Wald nur noch an den Flußläufen gedeiht. Unser Weg führt uns abermals durch den Nationalpark von Canaima, den wir noch gestern überflogen haben. In der Ferne erkennt man den das Landschaftsbild prägenden 2950 m hohen Tafelberg Auyantepuí, von dem der Angel Fall herabstürzt. Im Umkreis sieht man zahlreiche weitere Tafelberge, deren bekanntester der 2810 m hohe Monte Roraima ist, der am Länderdreieck von Venezuela, Brasilien und Guayana liegt. Die Gran Sabana im Hochland von Guayana bildet die Grenze zum brasilianischen Bundesstaat Roraima, der bereits zum Einzugsgebiet des Amazonas gehört.
    Nach den Berichten eines Einsiedlers, der hier im Bergland von Guayana lebt, soll es oben auf den Tafelbergen, die einem natürlichen Rückzugsgebiet für vom Aussterben bedrohte Tier- und Pflanzenarten gleichkommen, noch eine Gattung von Sauriern geben, die dieser gesehen haben will und von denen er sogar Zeichnungen angefertigt hat. Nach seiner Beschreibung sollen diese Tiere eine Höhe von eineinhalb Metern erreichen, womit sie eine Miniaturausgabe ihrer ausgestorbenen Vorfahren, der Dinosaurier, darstellen. Den letztendlichen Beweis für seine Behauptung ist der Mann jedoch bisher schuldig geblieben. Dies mag aber auch in der für Eremiten typischen Art von Gleichgültigkeit der Welt gegenüber begründet sein.
    Wie sich im Laufe seiner Erzählungen herausstellt, ist unser Reiseleiter ein persönlicher Bekannter des bekannten Bestsellerautors Erich von Däniken, nur teilt er dessen Theorien nicht ganz. Nach seiner Auffassung ist Amerika bereits im 6. Jahrhundert von bretonischen Mönchen entdeckt worden, die auch Frauen dabei gehabt haben müssen. Jene sollen in der Nähe des heutigen US-Bundesstaates Florida eine Ansiedlung gegründet haben. Zu ihnen stießen in späteren Zeiten einige verstreute Wikinger, die in der Sage der Indianer als die weißen Götter in Erscheinung treten. Die zahlreichen Verballhornungen skandinavischen Wortguts in der Inkasprache können kein reiner Zufall sein, so daß gewisse Theorien die Hochkultur der Indios auf diese frühen Einwanderer Amerikas zurückführen. Eine in Peru gefundene Vase, die einen afrikanischen Neger darstellt, einen Weißen und einen Sikh mit Turban, legt ebenfalls Zeugnis dafür ab, daß den Indianern lange vor Ankunft der Spanier das Aussehen von Europäern, Asiaten und Afrikanern nicht unbekannt gewesen sein kann. Das in der Kathedrale von Amiens verwendete Brasilholz aus dem 13. Jahrhundert, das nur in Brasilien vorkommt, ist ein weiterer Beweis dafür, daß Amerika bereits vor Christoph Kolumbus mit Europäern in Kontakt getreten sein muß. Möglicherweise war der Seeweg nach Amerika auch dem portugiesischen Königshof bekannt, nur hat man ihn dort, wohl aus politischen Gründen, geheimgehalten. Auf jeden Fall sind alle diese Beobachtungen äußerst interessant und geben Anlaß zu allerlei Spekulationen.
    Nach einer Übernachtung im Busch geht es am anderen Morgen sehr früh weiter. Gut, daß wir die Grenzformalitäten noch am gestrigen Tag hinter uns gebracht haben! Weil der Zöllner nicht auf seinem Posten ist und sich, wie sich später herausstellt, mit der Ausrede, er fühle sich nicht wohl, nach Hause abgesetzt hat, müssen wir den gesamten Weg zum Grenzort Santa Elena de Uairén noch einmal zurückfahren, um uns den Ausreisestempel geben zu lassen. Nachdem wir den Beamten ausfindig gemacht haben, erzählt der uns, daß ihm seine Frau davongelaufen sei und er endlich wieder einmal daheim aufräumen müsse. Die Fahrt geht weiter, durch die Gran Sabana, durch riesige Rodungsflächen und auf zunächst noch gut befahrbarer Piste bis Nuovo Paraiso, wo wir Quartier beziehen. Nur Lkws begegnen und auf dem beschwerlichen Weg durch den Urwald auf unserer Fahrt, die wir bis in die Nacht hinein fortsetzen, nur um Zeit zu gewinnen. Die Piste wird immer schlechter. Ein wegen einer Reifenpanne liegengebliebenes Fahrzeug verzögert unsere Weiterfahrt um eine gute Stunde. Neben uns verläuft die neue, zum Teil schon geteerte Straße, die allerdings am Rio Branco endet. Nachdem die Brücke über den Fluß niemals fertiggestellt worden ist, müssen wir mit der Fähre übersetzen. Von hier sind es noch ca. 500 km bis zur Hauptstadt Amazoniens, nach Manaus. Aufgrund der schlechten Straßenverhältnisse ist unsere Durchschnittsgeschwindigkeit geringer als 25 km/h. Links und rechts von der Fahrbahn ist der Regenwald auf einem 200 bis 300 m breiten, ins Hinterland reichenden Streifen völlig abgeholzt worden, wohl in der Absicht, Kulturland zu gewinnen. Außer daß wir einige Aasgeier zu Gesicht bekommen, haben wir heute keinerlei spektakuläre Erlebnisse.
    Das bisher Abenteuerlichste an der ganzen Reise sind die zahllosen Holzbrücken, bei denen man nie weiß, ob sie unter der Last unseres Fahrzeuges zusammenbrechen oder dem Gewicht standhalten. Diejenigen unter uns, die geglaubt haben, sie würden in einen üppigen tropischen Regenwald kommen, sehen sich bitter enttäuscht. Fast auf der gesamten Strecke von Boa Vista nach Manaus ist reiner Primärwald relativ selten geworden. An seine Stelle ist überwiegend Sekundärwald getreten. Diesen erkennt man vor allem daran, daß er weniger hoch ist als Primärwald und natürlich auch weniger artenreich. Letzteres vermag der Laie aber nicht zu beurteilen, zumal er ja gar nicht in der Lage ist, die einzelnen Arten voneinander zu unterscheiden. Wer jedoch einmal den überwältigenden Anblick eines Primärwaldes hat erleben dürfen, vermag auf ewig die Unterscheidung zu treffen, so gewaltig ist schon der sichtbare Unterschied. Zu beiden Seiten der Piste breiten sich häufig Überschwemmungslandschaften aus, in denen Palmen und Bäume im Wasser ertrinken. Ein trostloser Anblick, wie diese abgestorbenen, kahlen und entrindeten Baumruinen ihre nackten Äste, scheinbar hilfesuchend, dem Licht entgegenstrecken! Ein Friedhof, auf dem es keine Gräber gibt und trotzdem die Allgegenwart des Todes zu spüren ist!
    Zwei Tage hintereinander bestes Wetter mit wenig Bewölkung und strahlend blauem Himmel habe ich in dieser Gegend nicht erwartet. Wegen der fehlenden Hintergrundstrahlung ist auch der Anblick des nächtlichen Himmels überwältigend.
    An Unterkünften mit ein wenig Komfort fehlt es seit zwei Tagen völlig. Wir nächtigen meist an Tankstellen oder in Kasernen oder gänzlich in der Wildnis. Sofern Duschgelegenheiten vorhanden sind, machen wir regen Gebrauch davon. Meist kommt das Wasser jedoch nur spärlich aus den Leitungen, und dies, obwohl wir uns in einem der wasserreichsten Gebiete der Erde befinden.
    Nachdem wir gestern den Äquator überschritten haben, befinde ich mich nun das zweite Mal in meinem Leben auf der Südhalbkugel. Wir übernachten bei einer Pionierkaserne, wenn man diesen nur aus wenigen Mann bestehenden Vorposten im tiefsten Dschungel so bezeichnen will. Man spürt sogleich beim Betreten der Mission, daß alles erst im Aufbau begriffen ist. Zur Aufgabe der hier stationierten Soldaten gehört unter anderem auch der Schutz des angrenzenden Indianerreservats, das wir heute wegen des nächtlichen Durchfahrtsverbots nicht mehr passieren können. Zu sehr hat uns die Reifenpanne aufgehalten. Auf dem Kasernenhof gibt es nur eine einzige Dusche, die auch für die Einheimischen und die Trucker, die hier nächtigen müssen, zur Verfügung steht. Trinkwasser muß mit dem Eimer aus einem Tiefbrunnen geschöpft werden. Rings um diesen tummeln sich Hühner und Schweine, die frei herumlaufen dürfen. Übernachtet wird im Freien in der Hängematte, was zwar nicht vor Moskitos schützt, aber jedem Quartier in einem geschlossenen Raum vorzuziehen ist. Stechmücken habe ich zwar nicht viele bemerkt, nichtsdestotrotz weisen meine Beine zahlreiche Einstiche auf.
    Die heutige Etappe führt zunächst durch Indianergebiet. Als die Straße im Jahre 1977 angelegt wurde, kam es während der Arbeiten immer wieder zu Überfällen durch die Indianer, bei denen zahlreiche Tote zu beklagen waren. Ein Denkmal in der Nähe listet die Namen der Getöteten auf. Im Unterschied zum gewohnten Kahlschlag rechts und links der Piste ist auf der durch das Indianerreservat verlaufenden Strecke der Primärwald nicht gerodet worden und tritt bis an den Straßenrand heran. Das letzte Wegstück vor Manaus, das über hügeliges Gelände verläuft, ist schnurgerade durch den Urwald getrieben worden, wobei man ganze Berge hat durchschneiden müssen. Die Teerstraße erreichen wir erst wieder kurz vor der Stadt. Nachdem am morgigen Tage, dem 4.10.1992, in Brasilien gewählt wird und die Weigerung, zur Wahl zu gehen, unter Strafe gestellt ist, ist damit zu rechnen, daß so gut wie alle öffentlichen Verkehrsmittel lahmgelegt sind. Demnach werden auch keine Fähren auf dem Amazonas verkehren. Unser Fahrzeug kann daher frühestens in zwei Tagen verfrachtet werden. Damit wir den dadurch bedingten Verzug wieder aufholen können, müssen wir versuchen, daß zwei Schlepper eingesetzt werden, wenn unser Fahrzeug pünktlich in Porto Velho ankommen soll.
    Manaus, trotz des Charakters einer Millionenstadt eine verträumt im Urwald gelegene, fast vollkommen von der Außenwelt abgeschnittene brasilianische Metropole oberhalb der Mündung des Rio Negro in den Amazonas, die ehemalige Residenz der Kautschukbarone, ist heute eine Industriestadt mit Freihandelszone. Man kann die Stadt auf dem Landwege nur über die Piste von Boa Vista aus erreichen. Ansonsten stehen als Verkehrsmittel nur das Flugzeug und die Schiffsverbindungen auf dem Amazonas zur Verfügung. Erreicht man diese Oase der Zivilisation von Norden kommend auf großzügig angelegten Autobahnen, so möchte man die Abgeschiedenheit der Stadt kaum vermuten. Wer da glaubt, er würde hier einen Hafen mit festummauerten Kais vorfinden, sieht sich ebenfalls getäuscht. Die starken Wasserstandsschwankungen des Amazonas verbieten die Errichtung fester Hafenanlagen. So bleibt die Stadt dem Besucher aufgrund der zur Gänze fehlenden Attraktionen und der häufigen Regenfälle nur in düsterer Erinnerung. Relikte aus der Kautschukzeit sind das Amazonastheater, für dessen verschwenderischen Prunk die teuersten Materialien und das Beste, was gut genug war, aus Europa eingeführt werden mußten, sowie die Markthallen, ein Nachbau des Forums von "Les Halles" in Paris. Interessant sind das Indio-Museum, das einen kurzen Einblick in die Lebensweise der Indianer gibt, und das Fischmuseum, in dem die wichtigsten im Amazonas vorkommenden Arten ausgestellt sind und das darüber hinaus über eine ansehnliche Schmetterlings- und Käfersammlung verfügt. Die Museen von Manaus erteilen auch Auskunft über die Gefährlichkeit bestimmter Tierarten am Amazonas sowie über die von den Indianern gewonnenen Pflanzengifte. Die Bisse von Giftschlangen und Skorpionen sind zwar gefährlich, tödlich sind sie jedoch nur für Kleinkinder bzw. ältere Menschen mit labilem Kreislauf. Der Biß der Vogelspinne ist recht schmerzhaft, aber ebenfalls nicht tödlich. Viel schlimmer ist, wenn man von der sogenannten "24-Stunden"-Ameise gebissen wird. Diese trägt ihren Namen deshalb, weil der Betroffene 24 Stunden lang teilweise gelähmt ist und in dieser Zeit qualvolle Schmerzen ertragen muß.
    Noch größere Gefahren lauern im Wasser. Da gibt es zum Beispiel einen Süßwasserrochen, der einen Stromschlag von 400 V austeilt, und dies bei entsprechender Stromstärke, was selbst für den stärksten Mann tödlich enden kann. Piranhas sind angeblich harmlos. Gefährlicher ist ein Fisch, der, solange er klein ist, das Bestreben hat, durch Körperöffnungen einzudringen, und den Betroffenen innerlich "auffrißt". Er kann nur durch komplizierte Eingriffe operativ entfernt werden. Ein anderer Fisch ist ebenfalls höchst gefährlich, wenn man etwa auf ihn tritt oder von ihm gestochen wird. Das durch den Stachel in den Körper gelangende Gift verursacht ein Anschwellen desselben auf sein doppeltes Volumen. Der Betreffende muß unter qualvollen Schmerzen sterben, weil es kein Serum gibt, welches als Gegengift dienen könnte. Schließlich ist auch die Anophelesfliege, die Überträgerin der Malaria, für den Menschen gefährlich. Kaimane haben aufgrund der Hebelwirkung ihres Unterkiefers eine Zubeißkraft von bis zu 325 kg/cm2. Curare ist ein lähmendes Pflanzengift, dessen Wirkung von der Dosis abhängt und nach einiger Zeit wieder nachläßt. Man kann es sogar essen, es darf nur nicht in die Blutbahn gelangen.
    Wegen der hohen Luftfeuchtigkeit, die ständig zwischen 85 und 90 Prozent schwankt, bleibt die Stadt einem an gemäßigtes Klima gewöhnten Europäer ein ewiges Greuel. Unsere für morgen geplante Bootsfahrt wird uns ca. 80 km den Rio Negro stromaufwärts führen. Wegen des mineralienarmen und stark säurehaltigen schwarzen Wassers des Rio Negro bleibt uns wenigstens die Mückenplage erspart, da die Mücken dieses Wasser nicht mögen. Zu einer unmittelbaren Berührung mit Indianern wird es nicht kommen, da die am Flusse lebenden Indios weitgehend mit der modernen Zivilisation in Berührung gekommen sind und ihre ursprüngliche Lebensweise längst aufgegeben haben. So wird es im wesentlichen bei einer landläufigen Ausflugsfahrt bleiben. Als Nahrungsmittel wird uns hauptsächlich selbst gefangener Fisch dienen, den man übrigens auch in den einheimischen Restaurants gut essen kann. Nur darf man sich nicht wundern, wenn man auf das Essen zwei Stunden warten muß, so wie es uns ergangen ist.
    Manaus ist Ausgangspunkt für Touren und Unternehmungen in den Regenwald. Man kann von hier aus Ausflüge auf dem Rio Negro oder dem Amazonas machen, den die Brasilianer stromaufwärts Rio Solimões nennen. Unser Schiff, die Dilson Pontes, die wir für unsere dreitägige Bootstour auf dem Rio Negro gechartert haben, hat außer uns und der Besatzung einschließlich Koch keine weiteren Gäste an Bord, was im Hinblick auf Diebstähle etc. sehr angenehm ist, da man alle seine Sachen unbeaufsichtigt liegen lassen kann. Die Vorstellung von einer Bootstour mit Übernachtung an Bord in der Hängematte, mit zwei Toiletten und ebenso wenigen Waschgelegenheiten für eine Unzahl von Passagieren, wie es für die hiesigen Linienschiffe üblich ist, hat uns schon vorab erschaudern lassen. Somit bleibt uns dieser Alptraum eines dichten Gedränges im Massenlager, wo buchstäblich jeder seinem Nachbarn in die Hängematte fassen kann, Gott sei Dank erspart, obwohl es für den einen oder anderen durchaus hätte reizvoll sein können, die Gemeinschaft mit Einheimischen, im wahrsten Sinne des Wortes hautnah, zu erleben. Es hängt eben immer davon ab, zwischen wem man hängt.
    Die Dilson Pontes bringt uns zunächst ein Stück stromabwärts an die Einmündung des Rio Negro in den Rio Amazonas. Das Flußsystem ist an dieser Stelle mehrere Kilometer breit. Daß sich die immensen Wassermassen der beiden Flüsse nicht sofort miteinander vermischen, sondern erst noch auf einer Länge von ca. 100 km nebeneinander herfließen, kann man an den unterschiedlichen Farbtönen erkennen, den rostbraun bis schwarz gefärbten Wassern des Rio Negro und den lehmig braunen Fluten des Rio Amazonas. Am Zusammenfluß beider Flüsse machen wir kehrt und fahren nun den Rio Negro stromaufwärts, kommen erneut vorbei an Manaus, bis wir nach ca. 80 km in gut 6-stündiger Fahrt, bereits nach Einbruch der Dunkelheit, eine Lodge erreichen, die in einem Seitenarm des Flusses liegt. Im Schlepptau unseres Schiffes haben wir drei kleine, mit Außenbordern ausgerüstete Kähne mitgenommen, die für Exkursionen in die für größere Schiffe unpassierbaren Nebenzweige des Rio Negro gedacht sind.
    Während der gesamten Fahrt ist es sonnig und heiß. Man spürt die Hitze jedoch kaum wegen des beständig wehenden Fahrtwindes. Verursacht durch die hohe Sonneneinstrahlung zeichnet sich bei einigen bereits eine deutliche Rotfärbung der Haut ab, die jedoch bei den meisten am nächsten Tag ebenso schnell wieder vergeht, wie sie gekommen ist.
    Die Fahrt verläuft entlang von landschaftlich uninteressanten, höchst langweiligen Flußabschnitten. Aufgrund gefährlicher Untiefen fährt das Boot zumeist in Flußmitte. Wegen der erheblichen Breite im Unterlauf des Rio Negro von ca. 2 km verwischt sich der Eindruck eines mit hohem Baumbestand gesäumten Flußufers rasch, der Urwald wirkt aus der Ferne auf den Betrachter wie niedriges Buschwerk. Aufgrund der stark schwankenden Wasserhöhe des Flusses - wir haben Niedrigwasser um diese Jahreszeit - treten die lehmigen Flußufer deutlich hervor und zeigen sich während der gesamten Fahrt als weißer Saum längs der Wasserlinie. Die Ufer als solche sind flach, sumpfige Auen fehlen gänzlich. Der Boden ist überall begehbar und trocken, sofern es nicht gerade regnet; das Ufergehölz ist wenig dicht. Im Fluß befinden sich zahlreiche Inseln mit Untiefen, die der Schiffahrt zuweilen Probleme bereiten können.
    Ober- und unterhalb von Manaus sieht man allerorts Spuren der Besiedlung. Erdölförderanlagen und Sägewerke künden von industrieller Erschließung. Fast alle Schiffe, denen wir begegnen, verlieren Öl, was zu einer erheblichen Verunreinigung des Flusses führt. Ein Umweltbewußtsein, wie es sich beispielsweise in Deutschland entwickelt hat, ist hierzulande noch nicht einmal ansatzweise vorhanden. Davon legt auch die leider immer noch weit verbreitete Verwendung von Einwegverpackung Zeugnis ab. Was einmal benutzt war, wirft man ganz einfach in den Fluß, der als schier unerschöpfliches Reservoir eine ideale Mülldeponie darstellt.
    Nach Sonnenuntergang, der hier in der Wildnis ausgesprochen romantisch empfunden wird, geht es noch vor der Quartiernahme auf Kaimanjagd. Erstmals kommen nun unsere mitgeschleppten Boote zum Einsatz. Lautlos rudernd pirschen wir uns an die Plätze heran, wo sich die Tiere üblicherweise aufhalten. Unsere einheimischen Begleiter fangen die Kaimane mit der bloßen Hand. Der Jäger muß sich dazu allerdings ins Wasser wagen, ein Unterfangen, bei dem es mir kalt über den Rücken läuft. Sofort nachdem die Tiere am Nacken aus dem Wasser gezogen werden, wird ihnen zunächst das Maul zugebunden, damit wir sie ohne Gefahr für Leib und Leben und in aller Ruhe betrachten können. Dabei ist es vorgekommen, daß sich ein Tier losgerissen hat und plötzlich und mit einem Riesensatz zwischen unseren Beinen hindurchgeschlüpft ist, um sich zu verstecken. Bis es gelingt, das Tier wieder einzufangen, verstreicht eine geraume Zeit des Unbehagens, die wir mit angezogenen Beinen überbrücken müssen. Es wäre nicht auszudenken gewesen, wenn einer von uns gebissen worden wäre. Natürlich wird keines der Tiere getötet, sondern es werden alle an Land wieder freigelassen. Pro Boot fangen wir etwa zwei kleine bis mittelgroße Kaimane. Auf mich wirkt das ganze Unternehmen relativ gespenstisch, da ich mich von der Ungefährlichkeit dieses Unterfangens bei Tageslicht nicht überzeugen kann. Kaimane scheinen noch die gefährlichsten Tiere zu sein, denen wir begegnen. Insekten mögen das Wasser des Rio Negro ohnehin nicht besonders, so daß von einer Mückenplage nicht die Rede sein kann. Zwar finden einige von uns in ihren Zimmern größere Spinnen und sogar Skorpione vor, jedoch wird während unseres gesamten Aufenthalts in der Lodge niemand gebissen oder gestochen.
    Am Tag unserer Ankunft gibt es weder Licht noch fließend Wasser. Um den Stimmen des Urwaldes lauschen zu können, hat man sich beim Anlegen der Lodge entschlossen, auf Strom, der durch einen lautstarken Generator hätte erzeugt werden müssen, zu verzichten. Statt dessen werden in den Hütten und quasi als Straßenbeleuchtung Petroleumlampen verwendet, die wiederum eine Geruchsbelästigung darstellen. Die nach Art von Indianerhütten errichteten "Hotelzimmer" verfügen nur über Doppelbetten, so daß ich mir vom Veranstalter ein eigenes Lager erbitten muß, denn zu zweit möchte ich das Nachtlager nicht teilen. Schweißgebadet und benommen erwache ich am nächsten Morgen, da die Luftfeuchtigkeit in der Nacht auf weit über 90 % angestiegen ist. Zu allem Unglück fällt auch noch meine Videokamera aus, was meine Stimmung in den Keller treibt. Nach einem üppigen Frühstück, das aus allerlei tropischen Früchten besteht, die unsere Küchenmannschaft selbst hat mitbringen müssen, geht es hinaus in den Urwald auf eine längere Buschexpedition. Auf angelegten Pfaden gelangen wir mühelos durch das Dickicht, nicht ohne einigen Schweißverlust natürlich, und erreichen schon bald Plantagen, die von der Nähe des Menschen künden. Tatsächlich stoßen wir kurz darauf auf eine Ansiedlung akkulturierter Indios, die nur aus wenigen Hütten besteht. Ein Blick ins Innere bestätigt die Erwartungen von der Primitivität solcher Unterkünfte. Nachdem unsere "Träger" uns mit kühlen Getränken zur Löschung des Durstes auf den Wasserwegen entgegengeeilt sind, geht es mit den Booten zurück in die Malokas, wie die Behausungen der Indianer in der Sprache der Einheimischen genannt werden. Nach einer mit Fischgerichten gesegneten Mittagsmahlzeit schicken wir uns an, in die undurchdringlichen Seitenarme des Rio Negro vorzudringen. Das Typische an dieser Landschaft sind die abgestorbenen Baumstümpfe, die überaus zahlreich in Erscheinung treten, sowie die aus dem Wasser ragenden Äste, die ein weiteres Vordringen mit unseren Kähnen alsbald zunichte machen. Bizarr ragen Baumstümpfe und sogar ganze Bäume aus dem Wasser, so, als wären sie eben erst in den Fluten versunken. Außer einigen Sing- und Greifvögeln treffen wir keine Tiere an, obwohl die Stimmen der Nacht die Existenz mannigfacher Arten unbestreitbar machen. Der Bestand an wirklichen Baumriesen ist sehr reduziert, niedriges Gehölz macht den größten Teil des Baumbestandes aus, wie wir es von Sekundärwald nicht anders gewohnt sind. Dennoch sind einige Riesen bestimmter Edelhölzer darunter, die weit über ihre Nachbarn hinausragen. Lianen und Luftwurzeln hängen bis zum Wasser herab. Es wimmelt nur so von Schmetterlingen in den buntesten Farben, die sich jedoch zu meinem allergrößten Verdruß nicht photographieren lassen. Unvermutet bleiben wir mit unserem Kahn in einem Fischernetz hängen. Als wir den gleichen Weg wieder zurückkehren, ist der Schaden auch schon entdeckt. Vergeblich bemüht sich der arme Indio um eine kleine Entschädigung, jedoch will keiner unserer Führer etwas geben. Er sei selbst daran schuld, sagt man ihm wohl, warum mußte er sein Netz gerade dort auslegen, wo wir vorbeikommen. Die Gesetze des Dschungels sind hart!
    Der Wind hat inzwischen etwas aufgefrischt. Düstere Wolkenfetzen jagen über den Urwald hinweg, so daß die Gischt bereits Schaumkronen bildet. Es sieht nach Sturm aus. Wir haben zwar Schwimmwesten an Bord, aber der Gedanke, was passieren mag, wenn wir kentern, flößt nicht gerade Vertrauen ein. Dennoch gelangen wir heil ins Camp zurück. Auf dem Rückweg kommen wir an einem Schiffswrack vorbei, das mich an den Film "Fitzcarraldo" von Werner Herzog, mit Klaus Kinski in der Hauptrolle, erinnert.
    An unserem dritten und letzten Tag im Urwald fahren wir nochmals auf den Rio Negro hinaus, um als krönenden Abschluß Piranhas zu angeln. Traurigerweise gehöre ich zu denen, die überhaupt nichts fangen. Andere haben mehr Glück, manche sogar mehrfach. Nun ja, das läßt sich noch am ehesten verschmerzen!
    Nachmittags reisen wir ab. Wie die Hinreise, so dauert auch die Rückfahrt ca. 5 Stunden. Leider regnet es, so daß auf dem Schiff keine besondere Gemütlichkeit aufkommt. Wieder in Manaus angelangt, bleibt uns nur wenig Zeit zum Kofferpacken, und schon geht es ab zum Flughafen. Die Strecke von Manaus bis Porto Velho kann man nämlich nur mit dem Flugzeug zurücklegen, da die Nord-Süd-Verbindung durch das Amazonasgebiet vom Militär gesperrt wird und niemand für die Benutzung dieser Strecke eine Ausnahmegenehmigung erhält. Der Flug von Manaus nach Porto Velho findet nachts statt, so daß man vom Urwald nichts sehen kann, was sehr zu bedauern ist.
    Die letzten zwei Tage in Manaus sind noch ein wenig erlebnisreich. Eine Bekanntschaft der besonderen Art mache ich in der Banco do Brazil. Während ich in der Warteschlange stehe, um Dollars einzutauschen, werde ich seit geraumer Zeit von einem Mädchen anvisiert, das mir fortwährend seine Blicke zuwirft. Ich erwidere die Blicke der jungen Dame, und wir müssen uns dabei tiefer in die Augen gesehen haben als üblich. Nachdem ich mein Geld getauscht habe und die Reihe wieder verlassen will, folgt sie mir unerwartet, kommt auf mich zu und fällt mir förmlich um den Hals. Sie gibt mir deutlich zu verstehen, daß sie zu mehr bereit ist, wobei das Peinliche an der Sache ist, daß sie mir vor allen Leuten mehrmals unter die Hose faßt. Mir wird zusehends heißer, da dies über einen gewöhnlichen Flirt bei weitem hinausgeht und ich nicht weiß, wie ich mich aus der Affäre ziehen soll. Die umstehende Menge verfolgt den Vorgang argwöhnisch, und aus der Nähe betrachtet finde ich das Mädchen plötzlich gar nicht mehr so hübsch, wohl auch, weil ich mich geniere. So bleibt mir denn nichts anderes übrig, als mich dumm zu stellen, indem ich vorgebe, Verständigungsschwierigkeiten zu haben. Auf die Frage der jungen Dame, woher ich komme, antworte ich: "Alemania, Germany!" Darauf zückt sie ihr Portemonnaie und zeigt mir eine Visitenkarte, aus der ich ersehen kann, daß selbst Deutsche in einer so entlegenen Stadt wie Manaus kein unbeschriebenes Blatt sind, obwohl der Ort, zumindest was die Prostitution angeht, einen im großen und ganzen noch unverdorbenen Eindruck macht. Als ich ihr in einem letzten Akt der Befreiung zu verstehen gebe, daß sie auf dem Bild, das sie mir in einem Anflug von weiblicher Eitelkeit, offenbar zu ihrer Ehrenrettung, schnell noch zeigt, richtig gut aussieht, küßt sie mich zum Abschied und entfernt sich, nicht überstürzt aber bestimmt. Nachdem es mit der Konversation nicht so recht geklappt hat, muß sie wohl ein wenig enttäuscht von mir gewesen sein.
    Inzwischen sind wir in Porto Velho angelangt. Unser Fahrzeug, das wir mit der Fähre eingeschifft haben, ist leider noch nicht angekommen. Wir erfahren, daß es erst morgen bzw. übermorgen ankommen wird. Somit sitzen wir hier fest. Zwar können wir im Hotel übernachten, aber dies ist kein Trost für die verlorenen Tage, denn man kann in diesem Ort so gut wie nichts anfangen. Unten am Rio Madeira liegen zwar einige Schiffe am Kai, aber man kann nicht in Erfahrung bringen, ob man damit Ausflugsfahrten unternehmen kann. Porto Velho ist die Endstation einer Eisenbahnlinie, die einstmals dazu dienen sollte, den Kautschuk nach Bolivien zu befördern. Der Bau hat unzähligen Menschen das Leben gekostet. Heute sind noch 7 km der einstmals 375 km langen Strecke in Betrieb, was aber mehr der Attraktion dienen soll als dem Nutzen. Einige uralte Dampflokomotiven stehen ausrangiert herum, während an ihnen der Zahn der Zeit nagt.
    Nachdem unser Fahrer heute morgen im Hotel aufgetaucht ist, bin ich wieder zuversichtlich, daß wir die Reise fortsetzen können. Die Tage der Ungewißheit und des Müßiggangs sind vorüber. Auch die heutige Tagesetappe verläuft ohne irgend etwas Aufsehenerregendes. Wir befinden uns noch immer im Regenwaldgebiet, obwohl nun schon häufiger Spuren der Besiedlung auftauchen. Auch die Straße ist nun wieder geteert, droht jedoch erneut zu verfallen, noch ehe sie fertiggestellt ist.
    Heute ist Montag, der 12. Oktober 1992, der 500. Jahrestag der Entdeckung Amerikas. Ich gehöre damit zu den wenigen Europäern, die dieses großen Tages in der Geschichte in der Neuen Welt gedenken dürfen, jenes Kontinents, dessen Bewohner sich am heutigen Tag besonders glücklich schätzen dürfen, daß es sie gibt. Wir, ein Grüppchen Deutscher (die noch nicht einmal zur Entdeckernation gehören), begehen diesen Tag in Rondônia, einer Provinz im Herzen Brasiliens, irgendwo an einer Tankstelle an der BR 364 südlich von Ji-Paraná, in einer romantischen Vollmondnacht, ohne große Anteilnahme. Ich habe nicht den Eindruck, daß die Bedeutung dieses Tages irgend jemandem in dieser Gegend, geschweige denn in unserer kleinen Reisegruppe, bewußt sein dürfte. Man weiß entweder gar nichts darüber, und wenn man etwas wüßte, würde man es vermutlich als nichts Besonderes einstufen. Das Phlegma der Brasilianer ist typisch für Menschen eines Entwicklungslandes. Kaum irgendwo auf der Welt sind mir gleichgültigere und desinteressiertere Menschen begegnet als hier, vor allem unter der mestizisierten Bevölkerung. Einem Hellhäutigen bringt man, anders als in Afrika, keinerlei Interesse entgegen, so gewohnt ist dieser Anblick. Ich schließe daraus, daß das Fernsehen mittlerweile selbst in die entlegensten Dörfer vorgedrungen ist. Lediglich unser Fahrzeug zieht manchmal das Interesse einzelner auf sich.
    Eines jener Rätsel, die mich besonders faszinierten, war die Geschichte des Tatunca Nara. Tatunca Nara, ein weißer Mestize, der, nebenbei bemerkt, gebrochen deutsch spricht, sei, so behauptet er es zumindest von sich selbst, der Sproß eines Indianerkönigs. Sein Dasein verbringt er hier am Amazonas im brasilianisch-peruanischen Grenzgebiet, wo er unter anderem als Reiseleiter tätig ist. Man kennt ihn auch in Manaus, wo er viel mit Touristen unterwegs ist. Es gab sogar schon eine Sendung im Deutschen Fernsehen über ihn. Seine Existenz erregte insofern Aufsehen, als die Personen, die mit ihm unterwegs waren, allesamt in kürzester Zeit umgebracht wurden. Darüber befragt, schweigt er sich jedoch aus. Auch an unseren Reiseleiter soll er angeblich schon herangetreten sein in der Absicht, ihm etwas zeigen zu wollen, was kein anderer jemals zuvor gesehen habe. Zu seinem Glück hat dieser aus irgendeinem Grund nicht auf sein Angebot eingehen können, sonst würde er möglicherweise nicht mehr unter den Lebenden weilen.
    Es gab seinerzeit einen ARD-Korrespondenten für Südamerika, namens Karl Brugger, der einer von denen war, die diesen Tatunca Nara in den Urwald begleiteten. Brugger hat einen phantastischen Bericht über dieses Unternehmen in Form eines Buches verfaßt, die "Chronik von Akakor". Das Buch ist übrigens sehr empfehlenswert zu lesen. Danach soll es in der besagten Region unterirdische Wohnstätten geben, kilometerlange Geheimgänge, von deren Existenz bisher niemand wußte und die bis nach Cusco, der alten Reichshauptstadt der Inkas, führten. In diesen unterirdischen Labyrinthen sollen sich wie von Außerirdischen geschaffene fremdartige Maschinen befinden, die einstmals, wie in der Chronik zu lesen steht, für die Energieversorgung der Flugscheiben der Götter bestimmt waren.
    Karl Brugger ist im Jahre 1982 vor dem Hotel Meridien in Rio de Janeiro von zwei gut gekleideten Unbekannten, die ihm in einer schwarzen Limousine gefolgt sind, mit Maschinenpistolen erschossen worden. Tatunca Nara konnte im Zusammenhang mit dem Verschwinden hochgestellter Persönlichkeiten nie etwas nachgewiesen werden, da sämtliche Fälle unaufgeklärt blieben oder von der brasilianischen Regierung verschwiegen wurden.
    Der Staat, den wir gerade hinter uns gelassen haben, nämlich Rondônia, kann innerhalb Brasiliens einige Superlative aufweisen. So liegt hier der Ort mit der höchsten Kriminalstatistik Brasiliens, Ariquemes, die Stadt der Mörder. Zudem ist diese Gegend Zentrum des Kokainanbaus, eines Haupterwerbszweiges der Bevölkerung. Mehr als die Hälfte der in Rondônia arbeitenden Menschen lebt vom Rauschgifthandel. Über Bolivien gelangt das Rauschgift in die Vereinigten Staaten und von dort auf die internationalen Märkte, als Schmugglerware versteht sich. Die darin Verwickelten kommen aus nahezu allen Schichten, selbst hohe und höchste Beamte, ja sogar Bürgermeister sind in dieses schmutzige Geschäft verwickelt, verdienen sich goldene Nasen, allein die Regierung ist machtlos. Der Rio Madeira ist Schürfstätte für Goldsucher aus aller Welt, Abenteurer, Hasardeure und Glücksritter, gescheiterte Existenzen aus aller Herren Länder, die hier ein schnelles Glück zu machen suchen. Der Goldstaub muß in mühevoller Arbeit aus dem Sand vom Grund der Flüsse gewaschen werden. Es ist sozusagen an der Tagesordnung, daß sich Goldgräber gegenseitig umbringen, beispielsweise, indem den Tauchern unter Wasser die Luftschläuche durchgeschnitten werden oder die an Bord der Schiffe Befindlichen ihren unter Wasser arbeitenden Kollegen ganz einfach den Kompressor und damit die Luftzufuhr abdrehen. So mancher Taucher ist auf diese Weise nie mehr aufgetaucht. In der systematischen Goldgewinnung haben sich besonders die Japaner hervorgetan, die mit ihren Baggerschiffen förmlich den Grund absaugen. Damit sind die Japaner allerdings auch führend in der Verseuchung der Gewässer durch Quecksilber, das als Trennmittel beim Goldwaschen in großem Stile in die Flüsse gelangt.
    Mit Mato Grosso erreichen wir heute den vierten Bundesstaat auf dieser Reise, nach Roraima, Amazonas und Rondônia. In kaum einem der bisherigen Bundesstaaten hat die Waldzerstörung so große Ausmaße angenommen wie in Mato Grosso. Unübersehbare Rodungsflächen vermitteln einen nur noch skeletthaften Eindruck von einer noch in den Sechziger Jahren vollkommen intakten Urwaldflora.
    Die Lkw-Fahrer, denen wir begegnen, sind allesamt schwerstens bewaffnet; sie wissen warum. Es empfiehlt sich nicht, hier in freier Natur zu übernachten. So suchen auch wir stets die Nähe von Tankstellen auf, die Anlaufstellen für all jene sind, die sich keiner größeren Gefahr aussetzen wollen. Meist sind diese Tankstellen zugleich Motels, verfügen über Waschgelegenheiten und Einkaufsmöglichkeiten. Im weiten Umkreis ist Urwald, und außer Fernfahrern kommt selten jemand in diese gottverlassenen Gegenden. Je mehr wir uns dem Pantanal nähern, desto größer wird die Mückenplage. Dies Ungeziefer ist wirklich unerträglich. Wir befinden uns unmittelbar in einer Malaria- bzw. Gelbfiebergegend, nicht zuletzt künstlich hervorgerufen durch großangelegte Staudammprojekte.
    Es hat genau am heutigen Tage sein sollen, als uns die andere Gruppe begegnet, die die Reise von Rio aus in umgekehrter Richtung durchführt. Es kommt zu einem ausgiebigen Erfahrungsaustausch. Dabei treffe ich zwei Bekannte wieder, mit denen ich bereits die Saharadurchquerung gemacht habe. Sie berichten, daß sie bisher keine besonders aufregenden Erlebnisse gehabt haben und eher enttäuscht sind von dem, was ihnen geboten worden ist. Auch sie haben bisher keine Ausfälle zu beklagen. Was meine eigene Gesundheit angeht, so leide ich etwas an Darmträgheit, hervorgerufen durch die hohe Verdunstung, sowie jener katarrhähnlichen Erkrankung, die seinerzeit schon Alexander von Humboldt treffend diagnostiziert hat.
    Ein weiteres Ereignis des Tages ist das Erreichen der Wasserscheide zwischen Amazonas und Río de la Plata. Eigentlich handelt es sich in seinem Oberlauf um den Paraguayfluß, der zusammen mit dem Paraná erst im Mündungsgebiet den Namen Río de la Plata trägt. Letzterer mündet zwischen Buenos Aires und Montevideo in den Atlantik. Im Mündungsgebiet des Rio de la Plata liegt das Wrack des berühmten deutschen Panzerkreuzers "Graf Spee" aus dem zweiten Weltkrieg, die Kapitän Hans Langsdorff hier, nachdem er Montevideo angelaufen hatte, das er aus Gründen der Neutralität Uruguays wieder verlassen mußte, selbst versenkt hat. Langsdorff endete am Tag nach dieser Tat durch Selbstmord mit Kopfschuß, nachdem er vom Führer als Feigling bezeichnet und des Verrats bezichtigt worden war. Bis dahin hatte die Besatzung der Graf Spee einen heldenhaften Kampf durchfochten und mehrere feindliche Schiffe der alliierten Flotte versenkt bzw. schwer beschädigt, darunter die englischen Kreuzer Exeter, Ajax und Achilles. Angehörige der Besatzung leben noch heute in Argentinien, in der Nähe von Buenos Aires.
    Noch gestern haben wir das Pantanal erreicht, den "Großen Sumpf" im Bundesstaat Mato Grosso. Die Zufahrt in dieses Sumpfgebiet ist über den Ort Poconé möglich, von dem aus man auf der sogenannten Transpantaneira, der geplanten Durchgangsstraße, bis in die Mitte des Pantanals hineinfahren kann. Eine Fertigstellung dieser Stichstraße scheiterte am entschiedenen Widerstand umweltschützerischer Verbände sowie weltweiter ökologischer Proteste. Während der Regenzeit verwandelt sich das Pantanal aus einem Weideland in eine Überschwemmungslandschaft. Das Pantanal ist kein Nationalpark wohlgemerkt, sondern ein Naturschutzgebiet, das die landwirtschaftliche Nutzung nicht ausdrücklich verbietet. Ich wüßte keine andere Region der Erde zu nennen, mit Ausnahme vielleicht von Ostafrika, die mir durch ein derart zahlreiches Auftreten freilebender Wildtiere in Erinnerung wäre. Unzählige Alligatoren, Affen, Wasserschweine, Reiher und Störche sowie viele andere Vogelarten bevölkern in Scharen, wie man sie sonst wohl nirgends mehr auf der Welt antrifft, diese noch weitgehend unberührte Landschaft.
    Mit einiger Mißstimmung müssen wir vernehmen, daß keine Boote mehr frei sind, die uns gleich noch heute eine Ausflugsfahrt stromauf- bzw. abwärts auf diesem Nebenfluß des Paraguay ermöglicht hätten. Spontan mache ich meinen engeren Vertrauten unter den Mitreisenden den Vorschlag, das einzige noch freie Boot zu mieten und damit eine einstündige Tour zu unternehmen. Kaum ist der Vorschlag in die Tat umgesetzt, zieht ein Gewitter auf und ein tropischer Regenguß prasselt auf uns herab, der nicht aufhören will, bevor unsere Exkursion endet. Dennoch wird der Ausflug zu einem sehr stimmungsvollen und beeindruckenden Erlebnis. Eine annähernd gleiche Anzahl von Tieren bekommen wir am nächsten Tag, als wir die Fahrt mit offizieller Führung unternehmen, nicht mehr zu sehen. Der Zufall will es, daß wir dabei sogar eine Anaconda entdecken, die uns jedoch nicht den Gefallen tun will, aus ihrem Schlupfloch herauszukriechen. Als wir zurückkommen, hat der Sturm einigen Schaden an unserem Fahrzeug angerichtet; etliche der Koffer sind vom Regenguß völlig durchnäßt.
    Nachts stolpert einer von uns, der hinausgehen will, um Wasser zu lassen, über ein Krokodil. Schreiend kommt er ins Haus gelaufen, um uns seine Entdeckung mitzuteilen. Dabei hat er gar nicht gewußt, in welcher Gefahr er sich befunden hat; Krokodile können nämlich an Land ganz schön schnell laufen.
    Insgesamt hinterläßt unser wenngleich nicht ganz planmäßiger Aufenthalt im Pantanal bei jedem den Eindruck, daß der Abstecher die langwierige Anfahrt gelohnt hat. Die unzähligen Brücken, von denen einige in sehr schlechtem Zustand sind, haben die Ankunft erheblich verzögert. Einmal sind wir sogar eingebrochen. Mehrmals haben wir allesamt aussteigen müssen, um beim Überqueren das Gewicht zu reduzieren. Trotzdem ist alles glimpflich verlaufen, lediglich die extreme Hitze und die Feuchtigkeit haben uns allen sehr zugesetzt. Mithin bleibt das Pantanal durchaus einer der Höhepunkte einer Brasilienreise.
    Früher hat ein Lkw für die Entfernung Campo Grande Porto Velho 38 Tagesreisen benötigt, heute wird diese Strecke in wenigen Tagen zurückgelegt. Die Strecke zwischen Cuiabá und Campo Grande, der Hauptstadt von Mato Grosso do Sul, ist durchgängig gut ausgebaut und weitgehend frei von Schlaglöchern, so daß man zügig vorankommt, sofern der Verkehr dies zuläßt. Leider ist das Verkehrsaufkommen auf dieser einzigen Verbindungsstraße zwischen beiden Bundesstaaten beträchtlich, so daß man viel Zeit verliert und ständig gezwungen ist zu überholen. Die einzige Übernachtungsmöglichkeit für Fernfahrer bieten die zahlreichen Tankstellen, die alle miteinander konkurrieren. Sie sind weit mehr als bloße Raststätten. Jede wetteifert mit der anderen in puncto Sauberkeit, Service und Kinderfreundlichkeit. Für den Fernfahrer, der häufig seine ganze Familie bei sich hat, einschließlich Kleinkindern und Säuglingen, spielt sich fast das gesamte Leben im Lkw oder an den Tankstellen ab. Hier treffen sich die Fernfahrer aus dem Norden mit jenen aus dem Süden. Es ist gewiß ein hartes Leben, welches sie führen, aber vielleicht immer noch besser als das eines Plantagenarbeiters, der zeitlebens Mais oder Zuckerrohr schlagen, also schwerste körperliche Arbeit verrichten muß.
    Mato Grosso do Sul ist, mehr noch als Mato Grosso, fast vollständig abgeholzt. Ausgedehnte Fazendas säumen die Hauptstraße zu beiden Seiten. Soweit das Auge reicht, erblickt man lediglich noch vereinzelt einige Waldinseln oder isoliert stehende Baumruinen, zusammenhängende Waldstücke gibt es längst nicht mehr. Auf den Rodungsflächen wird Soja angebaut, eines der Hauptexportgüter Brasiliens, aber auch Mais und Zuckerrohr. Wer sich als Landloser auf den Großfarmen verdingt, bekommt alles, was er zum täglichen Leben braucht, von seinem Gutsherren gestellt, Unterkunft, Verpflegung, ja sogar die Arztkosten werden bezahlt, und es wird nicht nur für den Arbeiter selbst, sondern für dessen ganze Familie gesorgt.
    Während der Fahrt in der sengenden Mittagshitze entdecken wir plötzlich einige südamerikanische Strauße, die hierzulande Emus heißen. Ansonsten gibt die Landschaft außer endlos trostlosen und kahlen Weiten nicht viel her. Als eine der landesüblichen Spezialitäten probieren wir heute einmal zum Mittagessen, das wir in einer typischen Churrascaria zu uns nehmen, einen sogenannten "laufenden Spieß", ein Gericht, bei dem man essen kann, soviel und solange man will. Es werden immer wieder aufs neue Spieße gereicht, die sich auch ständig in den Fleischsorten abwechseln. Dieser hier war noch nicht einmal berühmt; in Rio wird dieses "Rodisio" genannte Gericht mit noch wesentlich mehr Abwechslung angeboten, wozu unter anderem auch Geflügel und Innereien gehören.
    Als wir am späten Nachmittag Campo Grande erreichen, bleibt nur mehr wenig Zeit, um das interessante Museo do l'Indio zu besichtigen, das von den Salesianern unterhalten wird, die hier einen wahren Schatz aus Natur- und einheimischen Kulturfunden zusammengetragen haben. Die größten bisher gefundenen Exemplare an Schnecken, Piranhas und Süßwasserrochen aus dem Pantanal werden u.a. hier ausgestellt.
    Entgegen unserem Vorhaben, noch heute die paraguayanische Grenze zu überschreiten, sind wir aufgrund starker Regenfälle gezwungen, umzudisponieren. Die Straße durch den Gran Chaco ist nicht asphaltiert, so daß die paraguayanischen Behörden die Strecke befristet gesperrt haben. Um termingerecht nach Asunción zu gelangen, müssen wir den Paraná-Fluß überqueren, der den Bundesstaat Mato Grosso do Sul vom Bundesstaat Paraná trennt. In Guaira führt eine Fähre über den Fluß. Dieser bildet nach dem Zusammenfluß mit dem Paraguay und dem Uruguay den Río de la Plata, den zweitgrößten Strom Südamerikas nach dem Amazonenstrom. Damit haben wir binnen dreier Wochen alle drei großen Wassersysteme des südamerikanischen Subkontinents überquert, den Río de Orinoco, den Amazonas und den Río de la Plata, sprich Paraná.
    Der Bundesstaat Paraná gehört neben Santa Catarina und Rio Grande do Sul zu den südlichsten Staaten Brasiliens. Hier leben besonders viele Deutschstämmige, was man anhand der Namengebungen sowie am Erscheinungsbild der Menschen leicht erkennen kann. Allerdings scheint die Zeit für die in Europa lebenden Deutschen rascher fortgeschritten zu sein als für ihre in Brasilien lebenden Landsleute, die einen noch recht bäuerlichen Eindruck machen, als fleißige und bescheidene Menschen zwar geschätzt sind, nur etwas rückständig. Man glaubt sich in eine mitteleuropäische Agrarlandschaft versetzt, nicht zuletzt, weil auch die Bauweise der Häuser der unsrigen recht ähnlich ist. Lediglich der Wald trägt immer noch den Charakter des Regenwaldes, und die Böden weisen alle Merkmale des Laterits auf, wenngleich eine etwas dickere Humusschicht als in Äquatornähe vorhanden ist.
    Unweit von Foz do Iguaçú machen wir aufgrund der hereinbrechenden Nacht halt. Es war heute ein ungemein langer Fahrtag, der bei einigen spürbare Verstimmung hervorgerufen hat. Wie immer, wenn eine Gruppenreise zu Ende geht, lassen sich die Leute zunehmend gehen und geraten in Streit. Jedoch lassen die sich daraus ergebenden Diskussionen hoffen, daß sich die Situation alsbald wieder entspannen wird.
    Mit einem Tag Verspätung wollen wir heute aus Brasilien aus- und nach Paraguay einreisen. Die Grenzformalitäten verlaufen erstaunlich reibungslos. Wenn man die Beamten hier kennt - es sind immer die gleichen - genügt allein die Bekanntschaft für eine rasches Weiterkommen. Welch einen Kontrast stellt der Staat Paraguay dar zu dem Staat Paraná, den wir soeben verlassen haben! Der Grenzübergang Iguaçú, die Anlaufstelle für sämtliche Touren nach Argentinien und Peru - hier müssen quasi alle durch - ist Umschlagplatz für Schmugglerware aller Art. Kokain wird ganz freizügig gehandelt, so, als handele es sich überhaupt nicht um verbotene Ware. Kein Wunder, wenn ein Großteil der Bevölkerung in diesem Handel sozusagen seinen Erwerbszweig findet! Aus berufener Quelle erfahre ich, daß der Staat Paraguay in der Nachfolge der Stroessner-Ära einen merklichen Niedergang erfahren hat, ein Land, dessen tragendes Gerüst das Militär war und immer noch ist. Viele hohe Militärs und Polizeibeamte, die unter General Stroessner, einem deutschstämmigen, in Hof gebürtigen Bayern ein gutes Auskommen gehabt haben, haben über Nacht ihre angestammten Privilegien verloren und sind heute zunehmend in Rauschgifthandel und Autoschiebereien verwickelt. Stroessner hat das Land zwischen 1954 und 1982 mit eiserner Hand regiert, kommunistische Gruppierungen waren in seinem Staat nie zugelassen. Aus der besonderen Sympathie des Staatsoberhauptes seinen Landsleuten gegenüber leitet sich auch die bevorzugte Behandlung der zahlreichen im Lande lebenden Deutschen ab, wofür die enormen Karrieren einzelner den Beweis liefern. Wir stehen nicht zufällig heute nacht an einem Gasthof, der einem Deutschen gehört, worauf wenigstens der Name hindeutet, "Westfalia", und wo deutsche Gemütlichkeit und Gastlichkeit dafür sorgen, daß selbst im fernen Ausland die gewohnten Speisen und Getränke nicht entbehrt werden müssen. Der rege Zustrom an Gästen mit noch halbwegs erkennbaren deutschen Zügen legt Zeugnis dafür ab, daß sich deutsches Brauchtum und deutsche Kultur auch im fernen Paraguay erhalten haben. Die Bildnisse von König Ludwig und Kaiser Wilhelm mögen bei unsereinem schon leichte Wehmut auslösen. Wie so etwas auf die hier Ansässigen wirkt, vermag ich nicht zu beurteilen, weil keine Kontakte zwischen den überwiegend spanischsprechenden Deutschen, die ihre Muttersprache weitgehend verlernt haben, und uns zustande kommen.
    Auf der Weiterfahrt nach Asunción kommen wir durch einen Ort namens San Bernardino, den der, der vor Jahren den gleichnamigen Schlager gesungen hat, nämlich Roland Kaiser, nicht einmal mit dem Finger auf der Landkarte finden würde.
    Die Rundfahrt durch das Prominentenviertel von Asunción vermag einen ungefähren Eindruck zu vermitteln, wie viele Reiche und Neureiche es in einem so kleinen Lande wie Paraguay geben muß, so viele nämlich, wie man es eigentlich gar nicht vermutet hätte. Hier reiht sich Villa an Villa, und eine ist schöner als die andere. Irgendwo zwischen den Häusern stoßen wir auch auf den Wohnsitz des als "schöner Konsul" in die Schlagzeilen geratenen Konsuls Weyer, der sich damals nach Paraguay abgesetzt hat, um einer Verurteilung wegen Steuerhinterziehung zu entgehen. Nachdem sein Fall verjährt war, kehrte er mit einem Flugzeug voller hübscher Brasilianerinnen nach Deutschland zurück.
    Paraguay ist die Heimat der Guaraní-Indianer, die in historischer Zeit die Erzfeinde der Inkas waren und die damals wie heute als ein musikalisch hochbegabtes Volk gelten. Einige Popmusiker bzw. Folklore-Gruppen, darunter die berühmten Los Paraguayos, von denen übrigens kein einziger aus Paraguay stammt, haben sich diesen Umstand zunutze gemacht und den Liederreichtum der Guaraní-Indianer durch Plagiate geschickt ausgenutzt und vermarktet. Unter diesen Liedern findet sich auch der Welthit von Simon und Garfunkel, "El Condor Pasa", eine Ballade, die auf eine uralte indianische Überlieferung zurückgeht. Simon und Garfunkel sind wohl dereinst auf die Idee gekommen, mit einem tragbaren Kassettenrecorder durch Südamerika zu pilgern und, wo immer sie einheimische Weisen hören konnten, diese mitzuschneiden und anschließend, in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, ins Englische zu übersetzen, um ihre Version davon zum besten zu geben. Der alte Indianer, der dieses Lied komponiert und dereinst auf den Straßen von Asunción gespielt hat und dem unser Reiseleiter angeblich diese Aufnahme, die zu einem Welterfolg wurde, vorgespielt hat, hat nicht einen Dollar aus dem Millionenerlös zu Gesicht bekommen.
    Nachdem wir gestern aus Paraguay ausgereist sind, befinden wir uns wieder in Brasilien. Der heutige Tag ist voll und ganz der Besichtigung einer der bekanntesten Natursehenswürdigkeiten Südamerikas gewidmet, den Wasserfällen von Iguaçú. Auf einer Länge von fast 4 km stürzen die Wassermassen des Iguaçú über insgesamt 275 kleinere und größere Fälle aus einer Höhe zwischen 55 und 73 m in die Tiefe. Noch vor der eigentlichen Besichtigungstour überfliegen wir die Fälle mit dem Helikopter. Wir haben Glück und sind nur zu dritt, obwohl insgesamt vier Personen in der Kabine Platz hätten. Ich sitze mit meiner Videokamera ganz vorne direkt neben dem Piloten, von wo aus ich die beste Aussicht habe. Leider ist das Wetter nicht ganz so, wie man es sich wünschen würde. Da ständig Wolken durch den Cañon ziehen, kann der Pilot nicht so riskante Manöver fliegen wie sonst. Trotzdem sind die Eindrücke überwältigend. Nach gut zehn Minuten ist das Vergnügen schon wieder zu Ende, aber es war ein wirklich schönes Erlebnis.
    Gleich dort, wo der Rundgang beginnt, werden wir von Nasenbären begrüßt, die uns stürmisch anspringen und um Futter betteln. Leider läßt sich die Unsitte, die Tiere mit nährstoffarmen Keksen zu füttern, nicht abstellen. Als Gegenleistung erhoffen sich die Leute ein nettes Urlaubsphoto. Besonders possierlich sind die Tiere, wenn sie mit ihrer Nase wie ein Maulwurf in der Erde schnüffeln, ohne auch nur ein einziges Mal hochzublicken. Der Panoramaweg führt hinunter bis an den Fluß. Einen Teil des Wegs kann man auch mit dem Aufzug überwinden. Schließlich kann man die Fälle noch mit dem Boot besichtigen, jedoch gelingt es aufgrund der starken Gischt nicht, besonders nah an die herabstürzenden Wassermassen heranzukommen. Für den Panoramaweg benötigt man kaum mehr als eine halbe Stunde, in der man interessante Ausblicke erhascht, wenn die Sicht es gerade zuläßt. Jedenfalls können sich die Iguaçú-Fälle darin durchaus mit den nordamerikanischen Niagarafällen vergleichen und sind meiner Meinung nach sogar noch imposanter.
    Direkt über den Fällen steht das im portugiesischen Kolonialstil erbaute Katarakt-Hotel, wo zahlreiche Reisebusse zu Hunderten Besucher herankarren, die ebenso schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen sind - bezeichnend für das ausdauernde Interesse der Brasilianer.
    "Dort, wo der sich der Eingang in den Nationalpark befindet, gibt es eine Möglichkeit, Schokolade zu kaufen", sagt man uns. Wir denken fälschlicherweise, es sei Schokolade zum Trinken, die wir dann, nach einigen Verständigungsschwierigkeiten, auch serviert bekommen, zu unserer großen Überraschung jedoch kalt. Das Mädchen, das uns bedient, frägt mich, woher wir kommen und was wir bisher gesehen haben. "Aus Deutschland", antworte ich, worauf sie mich weiter frägt, wie uns Brasilien gefalle. "Gut", sage ich. Sie jedoch stellt meine Antwort in Abrede, da sie schließlich genau wisse, was Europäer über dieses Land denken: daß es unsauber sei, die Menschen korrupt und die Lebensqualität gleich Null. Leider habe ich keine Möglichkeit mehr, das Gespräch fortzusetzen, um etwas zu unserer Rechtfertigung zu sagen, denn die anderen warten schon auf uns. Es war dies das erste Mal auf der gesamten Reise, daß ich jemanden außerhalb eines Hotels habe englisch sprechen hören. Ich weiß nicht, woher dieses Mädchen seine Kenntnisse der englischen Sprache hatte, denn englisch spricht in Brasilien fast niemand, nicht einmal die Damen des horizontalen Gewerbes.
    Wir stehen hier in Iguaçú auf einem Campingplatz, der in familiärer Atmosphäre geführt wird. Selbst ein Swimmingpool steht zur Verfügung, der idyllisch in eine subtropische Palmenflora eingebettet ist. Um die Mittagszeit kommen ganze Schulklassen hierher zum Baden. In den Baumwipfeln tummeln sich Vögel in den buntesten Farben, und die Lüfte sind erfüllt von durchdringendem Stimmengewirr.
    Die Fälle von Iguaçú sind nicht nur von brasilianischer Seite aus eine Besichtigung wert, sondern auch von der argentinischen, die wir uns heute vornehmen wollen. Im Gegensatz zu gestern ist das Wetter bestechend schön bei strahlend blauem Himmel, der nicht von einer einzigen Wolke getrübt wird. Es ist jammerschade, daß wir den Helikopterflug bereits gestern gemacht haben, wobei einige der Aufnahmen wegen des Gegenlichts heute wahrscheinlich gar nicht möglich gewesen wären. Mir persönlich gefällt die brasilianische Seite besser, wobei man natürlich einräumen muß, daß der Vergleich nicht so einfach ist, denn man bräuchte für einen objektiven Vergleich auch gleiche Verhältnisse. Dennoch hat sicherlich auch die argentinische Seite ihre Reize, insbesondere kann man bis ganz zum Fluß hinuntersteigen oder sich in den weitläufigen Spazierwegen der Zuflüsse verlieren. Zahlreiche Stege ermöglichen ein sicheres Überqueren ohne naß zu werden. Mannigfaltig sind Flora und Fauna: Nasenbären, Papageien, Tukane und Schmetterlinge bevölkern in großer Zahl die subtropischen Uferwälder.
    Unser Reiseleiter erzählt wieder phantastische Geschichten über unerklärliche Phänomene der vorkolumbianischen Geschichte. Er hat hier in einem der Motelzimmer vier ca. 2000 Jahre alte peruanische Holzstatuen eingelagert, für die er seit Monaten keine Gelegenheit gefunden hat, wie er sie nach Deutschland bringen könnte, wo eine Statue auf dem Schwarzmarkt, an Sammler verkauft, einen Erlös von umgerechnet 100000 DM einbringt. Ich versuche eine der versteinerten Holzfiguren hochzuheben und muß zugeben, daß sie nicht gerade leicht ist. Das Diebesgut liegt seit der Zeit, in der sich unser Reiseleiter im Hochland von Peru zuletzt als Grabräuber betätigt hat, hier herum und wartet auf den Export. Die Ausfuhr solcher Fundstücke ist strengstens verboten. Dennoch brauchen sich diejenigen, die einen solchen Kunstgegenstand erwerben, keine Gewissensbisse zu machen, denn die peruanische Regierung würde ihn ohnehin verrotten lassen; in den Händen von Sammlern wird er hingegen entsprechend gepflegt und bleibt der Nachwelt besser erhalten als in jedem Museum. Tausende solcher ungeöffneter Gräber soll es im Hochland von Peru geben, die noch ihrer Entdeckung harren. Es dürfte in der Tat so sein, daß diejenigen, die sich wie unser Führer in diesen Gegenden herumtreiben, oftmals besser Bescheid wissen als die Archäologen.
    Eine andere interessante Geschichte handelt vom Fund einer Mumie, in deren Achselhöhle ein Projektil steckte, das aus einem Metall, das man im Peru jener Zeit gar nicht gekannt hat, gewesen sein soll. Erich von Däniken, dem man von diesem Fund berichtete, hat den Fall so interpretiert, daß der tote Indianer von Außerirdischen erschossen wurde und man vergessen hat, das Projektil zu entfernen, um die Spuren zu verwischen. Die beiden, die den Fund untersuchen hätten sollen, sind beide kurz nacheinander gestorben. Vom "Beweismittel" fehlt seitdem jede Spur. Offenbar sind die Außerirdischen sehr darauf bedacht, ihre Existenz auf Erden geheimzuhalten und jeden Beweis für ihre Anwesenheit zu vereiteln. Warum sie aber Erich von Däniken, der ihnen schon lange auf den Fersen ist, bisher nicht liquidiert haben, bleibt eine offene Frage.
    Auf brasilianischer Seite gibt es noch den gewaltigen Staudamm von Itaipú zu besichtigen, der zu den imposantesten technischen Leistungen unseres Jahrhunderts zählt. Acht Kilometer lang ist die Brücke über den aufgestauten Paraná-Fluß, 1350 qkm groß die überschwemmte Fläche und bis zu 12,6 GW Leistung teilen sich die Länder Brasilien, Paraguay und Uruguay. Hauptabnehmer des Stroms ist die größte Stadt Südamerikas, São Paulo.
    Kaum von der Visite zurückgekehrt, wartet auch schon die Linienmaschine der Varig auf uns, die uns mit Zwischenstop in São Paulo nach Rio de Janeiro bringt, wo uns ein riesiges Wolkenmeer einen schlechten Empfang bereitet. Vom ersten abendlichen Spaziergang an der Copacabana bin ich ziemlich enttäuscht. Der erwartete Trubel und die lebensfrohe Stimmung sind nicht anzutreffen. Unser Hotel "Olinda" an der Avenida Atlântica bietet tags darauf einen lebhafteren Blick auf die Copacabana, am Abend jedoch herrscht wenig Verkehr, und es sind wenig Leute sind auf der Straße, weil es vermutlich vielen aufgrund des gestrigen Regens zu kühl ist.
    Am nächsten Morgen beginnt die organisierte Stadtrundfahrt mit Besichtigung des Zuckerhuts, einem Abstecher nach Niterói über die 14 km lange und 70 m hohe Costa-e-Silva-Brücke und einem Ausflug auf den Corcovado, den höchsten Morro von Rio. Einzigartig ist der Blick auf die Stadt, den Zuckerhut, die Lagoa Rodrigo de Freitas sowie die Stände von Ipanema und Copacabana. Leider ist die Statue des segnenden Christus fast den ganzen Tag über in Wolken gehüllt, so daß wir uns glücklich schätzen können, diesen einzigartigen Ausblick, der den vom Zuckerhut noch übertrifft, für einen Moment genießen zu können. Abends wird uns eine ganz auf Touristen zugeschnittene geschlossene Veranstaltung in der Sambaschule "Platforma 1" dargeboten. So bunt die Faschingskostüme auch sein mögen und so aufwendig deren Herstellung ist, so wenig finde ich die stereotypen Rhythmen der afro-brasilianischen Kulte geeignet, die Lebensfreude auszudrücken, die angeblich für den Karneval in Rio typisch ist. Auch die vielzitierte Schönheit der Menschen ist ein bißchen in Zweifel zu ziehen, da die Bewohner Rios, die sogenannten Cariocas, im Durchschnitt sehr klein sind. Gewiß, einige der Damen mögen recht gut gebaut sein, die Frauen Venezuelas sind jedoch schöner. Die erotisierende Wirkung der Tänze geht nicht so sehr von der Samba aus, sondern mehr vom Lambada, einem wahrhaft umwerfenden Tanz, der in Lateinamerika - mit Ausnahme des Tangos - nicht seinesgleichen hat.
    Der letzte Urlaubstag in Rio beginnt mit einem Hoffnungsschimmer auf besseres Wetter. Zumindest am Vormittag herrscht zeitweise blauer Himmel, der sich jedoch im Lauf des Tages schnell wieder eintrübt und am Nachmittag in starke Bewölkung übergeht. Wenigstens zwei Stunden verbleiben somit für ungetrübten Badegenuß an der Copacabana. Die Copacabana ist jedoch bei weitem nicht das, was ich mir in meiner naiven Vorstellung eingebildet habe. Da wäre zunächst einmal das Publikum. Gut die Hälfte aller Brasilianer ist jünger als fünfundzwanzig. Die gilt jedoch nicht für Rio, zumindest nicht für jenen Stadtteil, zu dem die Copacabana gehört. Anstatt jüngerer Menschen tummeln sich hier vornehmlich die älteren, um nicht zu sagen, die ältesten, die ich auf der ganzen Reise gesehen habe. Freilich sind sie alle sehr sportlich, es wird viel gejoggt, geradelt und Gymnastik getrieben. Man hält sich fit und jung. Die überwiegend teueren Wohnungen an jenem bekanntesten aller Strände Rios und neben Acapulco und Waikiki dem wohl berühmtesten Strand der Welt sind jenen vorbehalten, die es sich leisten können, und dies sind überwiegend die renommierte Gesellschaft mit Leuten von Welt, die Millionäre und die Hautevolée, die hier ihren Lebensabend verbringen. Die jungen Girls mit den knackigen Pos sind nur Klischee. Natürlich trifft man auch sie vereinzelt an, in der Masse gehen sie jedoch unter. Abends ist die Avenida Atlântica hauptsächlich von den Damen des horizontalen Gewerbes dominiert. Vielen sieht man ihre Herkunft bereits an. Sie kommen aus den Favelas, den Elendsvierteln, die auf den Müllhalden außerhalb der Stadt errichtet sind. Diesen Beruf üben sie nur deshalb aus, weil sie ihre Familie damit ernähren müssen. Es ist in diesem Milieu schon ein großes Unglück für so manche Eltern, nur Söhne zu haben, denn sie drohen zu verhungern.
    So verläßt der Tourist Rio mit gemischten Gefühlen. Da sind einerseits die Raubüberfälle sowie die zahlreichen Diebstähle. Nicht einmal in den Hotels sind Wertsachen sicher. Ohne Safe kommt man selbst in den besten Hotels nicht aus. Zwei meiner Mitreisenden sind von einem ca. 14jährigen Schwarzen überfallen und mit dem Messer bedroht worden. Man hat ihnen alles abgenommen. Zum Glück haben sie nicht viel Bares bei sich gehabt.
    Trotz aller Widrigkeiten bleibt Rio dem Reisenden für ewig unvergessen. Die einzigartige Lage der Stadt, eingebettet in eine Kette von Morros, die Strände von Copacabana und Ipanema und die einzigartige und zuweilen atemberaubende Aussicht vom Zuckerhut und vom Corcovado machen Rio zu einer der schönsten Städte der Welt.

 

 

 

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