VEXIN
Lexikon des Mittelalters:
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Vexin
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Landschaft in Nord-Frankreich, hervorgegangen aus der dem Vorort
Rotomagus (Rouen) unterstehenden gallorömischen Civitas der
Veliocasses, deren östlicher Teil im 7. Jh. einen Komitat, den 'pagus
Vilcasinus', bildete. Dieses Gebiet liegt, in etwa gleicher
Entfernung
von Rouen und Paris, auf dem rechten Ufer der Seine zwischen den
Nebenflüssen Andelle und Oise. Durch den 'Vertrag' von
St-Clair-sur-Epte (911) wurde die territoriale Einheit des Vexin
zerschnitten; die von der Epte markierte Grenze zwischen dem
Herrschaftsbereich des Königs von West-Franken/Frankreich und dem
künftigen Herzogtum Normandie
ließ den Vexin, der
für beide
Seiten zur strategisch wichtigen Markenzone wurde, zur zweigeteilten
Region und zu einem Hauptschauplatz der großen
französisch-normannisch/englischen
Konflikte werden:
Für die Herzöge der Normandie bildete der westliche
Teil, der Vexin normand, ein das Seinetal
beherrschendes und Rouen
schützendes Glacis, für die KAPETINGER
war der östliche
Bereich, der Vexin français, ein
entscheidendes Sprungbrett ihres
Vordringens nach Westen. Im übrigen trugen die Verbindungen, die
zwischen den beiden Landschaftsteilen trotz der Konflikte
fortbestanden, zum
komplexen Charakter der Geschichte des Vexin
bei.
Der Vexin normand wurde in der Frühzeit
unmittelbar von den Herzögen
beherrscht; seit dem 2. Viertel des 11. Jh. vollzog sich hier jedoch
der Aufstieg mehrerer großer Aristokraten-Familien, deren
Verwandtschaftsbeziehungen und Grundbesitz sich häufig zu beiden
Seiten der Epte erstreckten, wodurch ihre Treue zum Herzog Schwankungen
unterlag. - Der Vexin français bildete eine als
Lehen der Abtei
St-Denis konstituierte Grafschaft, eng verbunden mit dem
Grafschaftskomplex
Amiens-Valois, dessen machtvolles Geschlecht (Valois) am Ende des 10.
Jh. ein feudales Fürstentum zu begründen suchte. Ein Teil der
Grafschaft wurde im ausgehenden 10. Jh. abgetrennt zugunsten des
Vicomte des
Vexin, der vor 1015 den
Titel des Grafen von Meulan annahm. Diese
mächtige Adels-Familie spielte eine bedeutende Rolle, da sie
große normannische (Beaumontle-Roger) und englische Seigneurien
erwarb und
bereitwillig zur herzoglichen Partei überwechselte. Auch andere
große Geschlechter (so die Chaumont) traten als Châtelains
(burgsässige Herren) hervor und eröffneten infolge ihrer
Besitzausstattung beiderseits der Epte ein undurchsichtiges und
riskantes Spiel von Lehnsbündnissen.
Die frühen normannischen Herzöge, die darauf bedacht waren,
den Vexin
français in ihre Machtsphäre zu ziehen,
förderten nach
Kräften die Bindungen der beiden Landschaftsteile untereinander
und unterhielten gute Beziehungen zu den Grafen. Nach einer
späten,
umstrittenen Episode (bei Ordericus
Vitalis) soll Herzog Robert, als
Preis für sein Bündnis mit Heinrich I. von
Frankreich, 1031
sogar die Suzeränität über den Vexin français
erhalten haben. Diese komplexen politisch-sozialen Interaktionen wurden
durch die kirchliche Situation weiter kompliziert. Der Vexin
unterstand
kirchlich zur Gänze dem Erzbischof von Rouen und wurde dadurch
seit dem 12.
Jh. in die Konflikte mit den KAPETINGERN
um so stärker verwickelt.
1077 wurde ein entscheidender Schritt vollzogen: Nach Eintritt des
Grafen von Vexin ins
Kloster annektierte König
Philipp I. von Frankreich
die
Grafschaft
in der Form einer Wiederbelehnung durch St-Denis. Das Herzogtum
Normandie
(bzw. das anglonormannische England)
und die französische Krondomäne hatten von
nun an eine gemeinsame Grenze; dies führte zur fortschreitenden
Militarisierung der Grenzzone und zur wechselseitigen Ausnutzung der
schwankenden Parteinahmen der Aristokraten-Familien, namentlich die
KAPETINGER
zogen Nutzen aus den dynastischen Krisen in der Normandie. Zur
Sprache der Waffen trat die Diplomatie hinzu: Herrschertreffen (Gisors)
sowie kurzlebige Abkommen, aber auch Ehebündnisse rhythmisierten
den Konflikt. In einer ersten Periode des Konflikts suchten die
offensiven Herzöge auch den Vexin français zu erobern. Wilhelm der
Eroberer führte 1087 den für ihn
verhängnisvollen
Feldzug bis Mantes durch; Wilhelm II. Rufus
setzte zwei erfolglose
Annexionsversuche ins Werk (1097-1098). Unter diesen
Herzögen/Königen wurde
entlang der Epte eine auf Néaufles und besonders Gisors
abgestützte Verteidigungslinie aufgebaut, was auf
französischer Seite mit
der Errichtung von Burgen wie Mantes, Pontoise und Chaumont beantwortet
wurde.
Die Herzöge wurden im 12. Jh. von den KAPETINGERN
zunehmend in die
Defensive gedrängt: Bereits Ludwig
VI. von
Frankreich
»instrumentalisierte« zeitweilig die inneren
Schwierigkeiten Heinrichs I. von England,
erreichte aber noch keinen
wirklichenErfolg (französische Niederlage bei Brémule,
1119). Heinrich
I.
nahm seinerseits ein echtes Burgenprogramm in Angriff, zog die
unmittelbare Kontrolle der bedeutendsten, bis dahin von Vasallen
gehaltenen Burgen wie Gisors an sich, baute ihre Befestigungsanlagen
aus und errichtete im Hinterland einen zweiten Burgengürtel. Doch
führten die Thronkämpfe nach dem Tode Heinrichs I.
zu einer
Schwächung der anglonormannischen Position. Geoffroy
Plantagenêt gab
Gisors 1144 an Ludwig
VI. preis; Heinrich II. trat den Vexin
1151 an den
KAPETINGER
ab, um seine Investitur als Herzog von Normandie zu erreichen,
und gewann erst 1160 diese Schlüsselregion zurück: Der Vexin
war
Teil der 'Dos' der Margarete, Tochter Ludwigs VII.,
verlobt mit dem
Thronerben Heinrich dem Jüngeren (†
jedoch bereits 1183). Der Aufstand der
Barone gegen Heinrich II.
(1173-1174) ermöglichte dem KAPETINGER
gleichwohl ein neues Vorschieben seiner Position. Die Offensive
intensivierte sich mit Philipp
II. Augustus. Der König besetzte 1191
Vernon und verstärkte 1193 den Druck, indem er sich unter
Ausnutzung der Abwesenheit von Richard 'Löwenherz' mit
Johann
'Ohneland', der ihm den Vexin
abtrat, verband. Philipp Augustus
drang von
Osten in die Normandie ein und nahm Gisors ein. Richard
führte nach
seiner Rückkehr zwar eine Gegenoffensive durch, doch wurde im
Vertrag von Gaillon (1196) der kapetingische
Besitz des Vexin normand
festgeschrieben. Der PLANTAGENET errichtete
daraufhin das
mächtige Château-Gaillard zum Schutz des seines Glacis
beraubten Rouen. Die Wiedereroberung des Vexin
durch Richard
(1198) zwang
Philipp
nochmals zum Rückzug auf Gisors, doch wurde im
Vertrag von Le Goulet (1200) dem KAPETINGER
der Besitz des Vexin, mit
Ausnahme von Château-Gaillard und seinem Umland, bestätigt.
1204 beendeten der Fall von Château-Gaillard und die kapetingische
Annexion der Normandie die Rolle der Epte als Grenzfluß. Der
westliche Vexin
gehörte weiterhin zum (nun kapetingisch
beherrschten) Herzogtum
Normandie, und es wurde das Bailliage
von Gisors bis Mantes ausgedehnt,
der Vexin français in kirchlicher und
fiskalischer Hinsicht der Normandie
integriert. Die Bewohner der beiden Teile des Vexin
bewahrten aber die
Erinnerung an ihre ursprüngliche Zugehörigkeit, auch nahmen
die
Verwaltungsinstitutionen der Normandie Bezug auf die alte Grenze an der
Epte.
A. Renoux