Baker Timothy: Seite 43-64
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"Die Plantagenet"
Als König
Stephan kinderlos starb, sicherte sich Heinrich
das gesamte Erbe seiner Mutter und nahm seinem jüngeren Bruder
ungerechtfertigterweise
Anjou und Maine ab. Demzufolge war er bereits mächtiger als alle
seine
Vorfahren, bevor er noch einen der großartigsten Schachzüge
der Geschichte durchführte und sich mit Eleonore
von Aquitanien nach ihrer Scheidung von Ludwig
VII. von Frankreich verehelichte. Mit einem Schlag
wechselte
Poitou und die Territorien südlich der Gascogne den Besitzer, und
Heinrichs
Regierungsgebiet
umfaßte den gesamten Westen Frankreichs. Die Bretagne kam
später
durch die Eheschließung eines seiner Söhne hinzu, die
keltischen
Stammeshäuptlinge von Wales und Irland wurden gezwungen, seine
Oberlehnsherrschaft
anzuerkennen. Auf diese Weise dehnte sich das Angevinische Reich
immer
mehr aus; es erstreckte sich von den Höhenzügen an der
schottischen
Grenze bis hin zu den Weinbergen am Fuße der Pyrenäen und
umfaßte
in Frankreich mehr Land als dessen eigener König besaß. Heinrich
II., der erste PLANTAGENET,
der England regierte, war der mächtigste Herrscher in Europa.
Keiner
seiner Nachfolger hatte eine solche Macht auf dem Festland. Niemand
konnte
seine Heldentaten vergessen.
Ein einziger Mann hielt dieses Reich zusammen, das
keine
nationale Basis besaß und weder sprachlich noch rechtlich eine
Einheit
bildete. An der Spitze Englands hatten seit der Eroberung durch die
Normannen
französisch sprechende Herrscher gestanden; während
französisch
sprechende Herrscher zur teutonischen Einflußsphäre
gehörte
und dort das Gewohnsrecht und die langue d'oil vorherrschten, wurden in
Aquitanien fast überall das Römische Recht und die langue
d'oc
praktiziert. Im Europa der Feudalzeit war eine solche
Unterschiedlichkeit
an der Tagesordnung, denn das Gebiet war unter verschiedenen Familien
aufgeteilt
und die Gesellschaft pyramidenförmig zusammengesetzt mit kleinen
Landeigentümern
als Vasallen größerer Herren, von denen die mächtigsten
ihre Ländereien vom König selbst als Lehen erhielten.
Eine gewisse Einmaligkeit war der Kirche zu
verdanken,
die die lateinische Sprache benutzte und an jeden christlichen
Herrscher
bestimmte Forderungen richtete. Die verhängnisvolle Schwäche
des Angevinischen Reiches lag
darin, dass es sich nicht reibungslos in
das feudale System eingliederte. Heinrich II.
war
nur in England Souverän. Obwohl er der mächtigste Mann
südlich
des Kanals war, war er dennoch theoretisch Kronvasall des
Königs
von Frankreich. Ein solcher Vasall, der England als Macht hinter
sich
hatte, stellte für das französische Königs-Haus eine
tödliche
Bedrohung dar. Daraus ergab sich ein ständiger Konfliktstoff, der
letztendlich nur durch einen Verzicht der englischen Könige auf
alle
Ansprüche auf dem Kontinent oder durch die Zerstörung der
französischen
Monarchie hätte beendet werden können. Der spätere
"Hundertjährige
Krieg" war lediglich eine Episode in der Geschichte einer langen
Auseinandersetzung,
die mit der Eroberung der englischen Krone durch einen Normannen
begonnen
hatte. Die Rivalität zwischen den PLANTAGENET
und
den KAPETINGERN, die durch viele
fruchtlose
Verträge unterbrochen wurden, führte West-Europa im
Mittelalter
ins Verderben.
"Bald in Irland, bald in England, bald in der
Normandie
sollte er eher fliegen, anstatt mit Schiff und Pferd zu reisen", rief
der
französische König aus, den die phänomenale Tatkraft Heinrichs
II. verwirrte. Aber auch Heinrich,
der ein turbulentes Leben führte, war darauf angewiesen, sich auf
jene zu stützen, die aus der Kontinuität des Reiches den
größten
Nutzen ziehen würden, nämlich seine eigenen Kinder. Es wurde
eine Art Familienbund gegründet, durch den Eleonore
und
später ihr zweiter Sohn Richard
Aquitanien, der älteste Sohn Heinrich
als
Verbündeter seines Vaters die Krone, der dritte Sohn Gottfried
die Bretagne und der jüngste, Johann,
die Grafschaft Irland erhalten sollten. Es war ein gewagtes Experiment,
vielleicht die einzig mögliche Lösung, die jedoch von ihrer
Loyalität
abhing. Das Reich war wie ein glitzerndes Schmuckstück, dessen
einzelne
Steine nur locker gefaßt waren. Die Nachbarn begehrten es, und
wenn
die Eigentümer selbst sich nicht darüber einig waren,
würden
sie es ihnen entreißen und die Juwelen gingen verloren.
Die einzigartige Stärke der PLANTAGENET,
die unter Stephan geschwächt
worden
war, lag in der englischen Krone. Die Krone machte sie vor Gott
für
Krieg und Gerechtigkeit verantwortlich. Sie setzte sie in die Lage, als
Gleichgestellte mit den französischen Königen zu verkehren,
und
in Paris waren sie ob ihrer Macht gefürchtet. In England
genoß
die Monarchie bereits ein einmaliges Ansehen, das die Dynastie sich
zunutze
machte und das niemals nachließ. Die vor der Eroberung
üblichen
Krönungsfeierlichkeiten, die bis heute im großen und ganzen
die gleichen geblieben sind, verpflichteten nicht nur den König
seinem
Volk, sondern verliehen ihm gleichzeitig eine von Gott gesegnete
Autorität.
Daraus ergab sich der alte, regelmäßig zur Schau gestellte
Anspruch,
der König könnte Skofulosekrankheiten durch Handauflegen
heilen.
Heinrich
II. sollte bald schon die Stellung seiner Familie noch
weiter
verstärken, indem er die Heiligsprechung
König
Eduards des Bekenners bewirkte, als dessen Erbe sich Wilhelm
der Eroberer angesehen hatte. Die KAPETINGER
mußten noch ein weiteres Jahrhundert warten, bis sie sich ihres
ersten
Heiligen,
Ludwig IX., rühmen konnten.
Wilhelm der Eroberer
hatte England ein einzigartiges Verwaltungssystem gegeben, das auf der
regelmäßigen Eintreibung von Steuern basierte, und hatte das
Land erfolgreich unter seinen Nachfolgern aufgeteilt, deren
Verpflichtung
gegenüber der Krone damit abgesichert war. Heinrich
I. hatte die Macht des Königs gestärkt, und Heinrichs
II. erste Aufgabe lag darin, sie zu festigen und auszubauen.
Die innere Ordnung wurde wiederhergestellt. Er war bald schon in der
Lage,
noch weiter zu gehen, denn er bot die Gewähr, dass die
königliche
Gerechtigkeit für alle freien Menschen gleichermaßen galt.
Trotz
des Widerstandes seitens des Klerus, aus dem sich die tragische
Auseinandersetzung
mit seinem ehemaligen Freund, dem
Erzbischof Becket,
entwickelte,
konnte sich Heinrich
durchsetzen. Das
von ihm geschaffene rechtliche Fundament wurde niemals zerstört.
Diese
Tatsache allein reicht schon aus, den ersten
PLANTAGENET-König,
der vielleicht der größte war, mit Wilhelm
dem Eroberer
zu den Begründern Englands zu zählen.
Für Heinrich
selbst war die Arbeit in England lediglich Mittel zum Zweck, denn er
war
mehr darauf aus, sein gesamtes Reich im Griff zu behalten und in Europa
Eindruck zu machen. Er war schließlich und endlich kein
Engländer,
obwohl Heinrich I. eine ehemalige
englische
Prinzessin geheiratet hatte und somit Mathilde
und
allen nachfolgenden Regenten das Blut der alten, auf die Sachsen im 6.
Jahrhundert zurückgehenden Königslinie übermittelt
hatte.
Heinrich
II. war französischer Abstammung und hatte eine aus
dem
Süden kommende Frau. Die beiden Söhne, die ihn ablösten,
waren wie die meisten ihrer Nachfolger in England geboren; es
mußten
jedoch nochmals 200 Jahre vergehen, bis am Hof englisch gesprochen
wurde.
Die PLANTAGENET
vermischten sich mit
den europäischen Königs-Häusern, denn die
Schwieger-Söhne
Heinrichs II. regierten in Sachsen, Sizilien und Kastilien.
Vor Richard
II. Ende des 14.
Jahrhunderts
hatte kein englischer König des Mittelalters eine einheimische
Mutter,
und bis in die letzten Jahre um 1460 gab es auch keine Königin,
die
von Geburt Engländerin war.
Die Probleme Heinrichs
II.,
die sich daraus ergaben, dass er England unter Kontrolle halten und
gleichzeitig
seine Stellung auf dem Kontinent festigen wollte, übertrugen sich
auf alle seine Erben. Seine Tugenden und Fehler prägten zum Teil
auch
wieder deren Leben, und seine Prioritäten wurden allgemein, aber
mit
unterschiedlichem Erfolg, weiterverfolgt. Es liegt eine gewisse Ironie
in der Tatsache, dass die PLANTAGENET
hauptsächlich wegen ihrer
Funktion
beim Aufbau der englischen Regierung und des Inselstaates selbst
geschätzt
werden, obgleich doch so viele von ihnen ihr Herz eigentlich jenseits
des
Kanals verloren hatten.
Die Persönlichkeit Heinrichs
II. steht klarer vor uns als
die
anderen PLANTAGENET. Sein Aussehen
war nicht so angenehm wie das der meisten Familien-Mitglieder; er war
untersetzt,
von mittlerer Größe,
rothaarig, hatte Sommersprossen und
harte,
graue Augen, die bei
Wutanfällen blutunterlaufen waren. Es
muß
sein energiegeladenes Temperament gewesen sein, das ihn zu "einer
Person,
die die Menschen 1.000 mal anstarrten", machte. Er trug sein Haar kurz,
schritt in einem kurzen Umhang einher, dem er seinen Beinamen "Kurzmantel"
verdankt, erledigte sehr viel im Stehen, ruhte sich hauptsächlich
während der Jagd aus und redete im Gottesdienst, wo er auch wegen
nervöser Zappelei auffiel. Mit seinem Wissensdurst, hartem
Geschäftssinn,
erstklassigem Gedächtnis und seiner klugen Menschenkenntnis war Heinrich
einer der befähigsten Männer für das Königsamt.
Seinem
Hof, der viel unterwegs war, machte er das Leben schwer.
Die schöne und heißblütige
Eleonore
von Aquitanien, die nach ihrer im Einverständnis mit
dem
als Mönch lebenden König
Ludwig vollzogenen Scheidung Heinrichs
Vermögen vermehrte, war ebenfalls eine dominierende
Persönlichkeit.
Mit seinem Alter von 19 Jahren war Heinrich
ebenfalls jünger als seine Braut, aber schon früh mit den
Amtsgeschäften
betraut.
Eleonore war - wie ihr neuer
Gatte auch - gebildet, ungestüm und unfähig, eine
Kränkung
hinzunehmen. Mit ihren Kapriolen hatte sie Ludwig
in
Abenteuer gestürzt; sie hatte ihn auf einem Kreuzzug begleitet und
ihn durch ihr schlechtes Betragen verärgert. Man kann annehmen,
dass
sie Heinrich, dem sie 8 Kinder
schenkte, zu Anfang liebte; sie konnte es ihm jedoch nicht verzeihen,
dass
er ihr nicht treu war. Die Königin lebte dann zurückgezogen
in
Poitou, wo sie sich der Literatur und der Minne widmete. Sie stellte
für
den überaus empfindlichen Adel eine große Herausforderung
dar
und bediente sich ihrer Söhne, um gegen Heinrich
zu arbeiten. Eine solche Frau konnte jeden Hoffnungsfunken auf
Einigkeit
in der Familie auslöschen.
Eigensinn und hitziges Temperament waren
das Verderben
Heinrichs
II. In England büßte er nach dem Mord an Becket,
der von vier Rittern, die einen Wutausbruch ihres Herrn gegen den
Erzbischof
mitbekommen hatten, ausgeführt worden war, fast den Thron ein. Als
seine Söhne erwachsen wurden, lebte er sehr bald schon in stetiger
Unruhe, da er nie sicher sein konnte, ob nicht der eine oder andere mit
Unterstützung der Mutter und des darauf lauernden
französischen
Königs einen Aufstand gegen ihn anzetteln würde.
Heinrich,
der lieber Titel als wirkliche Macht verlieh, forderte sie geradezu
heraus
und zog ihren Haß auf sich. Vergeblich versuchte er, Rebellionen
niederzuschlagen und die Königin gefangenzunehmen. Das
Intrigenspiel
wurde von Paris aus immer wieder neu gesponnen. Als scharfen Kritiker
der
Kirche wurde ihm von den Chronikschreibern nur wenig entgegengebracht:
Eleonore
war
mit seinem Oberlehnsherrn verheiratet gewesen, und sie erachtete es als
richtig, dass nun der habgierige Vater von seiner eigenen
Nachkommenschaft
bestraft wurde. Da sich seine Familie aus Undankbarkeit und
Kurzsichtigkeit
gegen ihn stellte, war er schließlich gezwungen, beim französischen
König Philipp August
Schutz
zu suchen. Er starb in Le Mans und bot noch ein klassisches und
mitleiderregenden
Beispiel für gebrochenen Stolz, indem er ausrief: "Schande
über
einen eroberten König!"