GUYENNE (GUIENNE)
Lexikon des Mittelalters:
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Guyenne (Guienne)
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im Spät-Mittealter Herzogtum in Südwest-Frankreich,
hervorgegangen aus den Wandlungen, denen das alte Fürstentum
Aquitanien unterlag.
I. Das Herzogtum Guyenne als französisches Kronlehen der
Könige von England (1259-1337):
Im späten Mittelalter wurden die Besitzungen der Könige von
England, der sogennnten »König-Herzöge
(rois-ducs)«, in Südwest-Frankreich (Angevinisches Reich)
bezeichnet als:
Vasconia (Gascogne), Aquitania und Guyenne; letztere
Benennung, volkssprachliche Form von 'Aquitania', erscheint 1258 im Vertrag von Paris und
begegnet im 14. Jh. als gängigster Landesname. Von 1259 bis 1337
befand sich die Guyenne in
einer stabilen rechtlichen Ausgangslage: Aufgrund des Vertrags von
Paris (1258) hatte sie der König-Herzog als ligisches Lehen des
Königs von Frankreich inne. Den territorialen Kern der Guyenne
bildeten die im wesentlichen zur Gascogne gehörigen Regionen
Bordelais (Bordeaux), Bazadais (Bazas), Landes, Labourd und Soule.
Durch den Vertrag von Paris gewann der König-Herzog die Rechte des
französischen Königs in den Diözesen von Limoges,
Périgueux und Cahors sowie die Anwartschaft auf das Agenais
hinzu - eine heterogene Ländermasse. Die Inbesitznahme der
erstgenannten Territorien vollzog sich rasch, führte aber
feudalrechtlich zu einer verworrenen Lage. Erst 1279, im Vertrag von
Amiens, fand sich König Philipp III. bereit, das Agenais und die
südliche Saintonge an König
Eduard I. abzutreten. 1293
nahm König Philipp IV. einen
Seezwischenfall zum Vorwand, um das Herzogtum zu konfiszieren; die
französische Besetzung (1294-1303) scheiterte letztlich an der
Gegnerschaft von Bordeaux, das auf seine englischen Absatzmärkte
angewiesen war. Die sich zuspitzende politische Situation wurde
überlagert von einem starken Wirtschafts- und
Bevölkerungswachstum, das in der Guyenne
bis ca. 1320 anhielt: So beruhte der Massenexport
»gascognischer« Weine nach England
maßgeblich auf den Weinbauregionen des »Haut pays«,
die aber unter französischer Herrschaft standen. Die Gründung
von Bastides erfolgte mit besonderer Dichte beiderseits der heftig
umkämpften Grenzen, vor allem im Agenais. Der Konflikt, der um
eine dieser Bastides, St-Sardos, entbrannte, führte 1324 eine
erneute Konfiskation durch den französischen Lehnsherrn herbei.
Das Herzogtum wurde 1326 den Königen-Herzögen
zurückerstattet, allerdings ohne das Agenais. Die immer
häufigeren Appellationen aus der Guyenne
an das Parlement von Paris untergruben die Autorität der
Könige-Herzöge. Eine dieser Appellationen, 1337, rief
wiederum eine französische Konfiskation hervor, König Eduard III. von England sah
kein anderes Mittel als den Krieg, um sein Herzogtum vor dem Zugriff
der französischen Monarchie, die ihr Vorgehen mit einem zwischen
souveränen Monarchen obsolet gewordenen Feudalrecht legitimierte,
zu sichern: 1337 kündigte er seinen Lehnseid gegenüber den VALOIS auf
und proklamierte sich am 6. Februar 1340, gestützt auf die von
seiner Mutter ererbten Rechte, selbst als König von Frankreich.
Der
dynastische Erbfolgestreit verschmolz so mit dem feudalen Konflikt; der
Hundertjährige Krieg
begann.
II. Die »englische Guyenne« im Hundertjährigen Krieg
(1337-1453):
Die Proklamation von 1340 veränderte radikal den Status des
Herzogtums Guyenne,
über das der König von England nun als Souverän gebot.
Trotz ihrer Bedeutung als kriegsauslösendes Moment blieb die Guyenne
als Kriegsschauplatz lange zweitrangig; erst 1345 begannen hier
größere Kampfhandlungen. 1348-1349 wütete der Schwarze
Tod, dem bis 1423 weitere Pestwellen folgten. 1355 brachte das
Erscheinen Eduards, des »Schwarzen Prinzen«,
auf dem
Kontinent abrupt die militärische Wende:
Infolge des Sieges von
Poitiers
(1356) konnte England die französische Monarchie zum
Abschluß des Friedens
von Brétigny-Calais nötigen, der König Eduard III. die
souveräne Herrschaft über ein stark erweitertes Aquitanien
brachte; es umfaßte neben den gascognischen Kernterritorien nun
auch Poitou, Aunis, Saintonge, Angoumois (Angoulême),
Périgord, Limousin (Limoges), Quercy, Rouergue, Agenais und
Bigorre. Die englische Inbesitznahme erfolgte langsam und oft gegen
passiven Wiederstand der Bewohner. Am 19. Juli 1362 erhob König Eduard III. das Herzogtum
Guyenne zum souveränen
Fürstentum zugunsten des Schwarzen
Prinzen,
der seinem Vater den ligischen Lehnseid leistete. Für ein
Jahrzehnt erhielt die Guyenne
nun das Gepräge eines echten Staates, unter anderem mit eigenen
Goldmünzen, großem Siegel, Appellationsgerichtsbarkeit,
Ansätze zur Hauptstadtbildung in Bordeaux usw. Die
Steuerforderungen, die der Schwarze
Prinz
dem Land zur Finanzierung seiner Ambitionen in Kastilien
aufbürdete, lösten eine Aufstandsbewegung aus; 1368
appellierten zwei der großen Vasallen, der Graf von Armagnac und
der Herr von Albret, an Karl V. von
Frankreich. Von der hierdurch ausgelösten
französischen Offensive auf ein gascognisches Rest-Territorium
zurückgeworfen, zog sich der erkrankte Prinz 1372 nach England
zurück. Nach der 1379 erfolgten Unterbrechung der allgemeinen
Kriegshandlungen kam es für ein halbes Jahrhundert in der Guyenne
nurmehr zu punktuellen, aber oft verheerenden militärischen
Aktionen (Kämpfe der gegnerischen Söldnerscharen unter dem
proenglischen André de
Ribes
und dem profranzösischen Rodrigo
von Villandrando, 1429-1432). Die französische Monarchie,
die ihren Anspruch auf die Guyenne
auch in ihrer Schwächeperiode zu Anfang des 15. Jh. nie aufgegeben
hatte, begann 1438 mit der unter großem Heeresaufgebot
durchgeführten Eroberung, gegen den Widerstand der proenglischen
Bevölkerung, namentlich in Bordeaux. Mit der erfolgreichen Abwehr
des letzten englischen Gegenangriffs (Castillon, 17. Juli 1453) wurde
die Guyenne zum dauerhaften
Bestandteil Frankreichs.
III. Die Anfänge der französischen Herrschaft (seit 1453):
Die Guyenne war durch
Kriegsverwüstungen und die Unterbrechung der Handelsbeziehungen
mit England ernsthaft geschädigt, erlebte aber dank der insgesamt
freizügigen Politik Ludwigs
XI.
einen erneuten Aufschwung des Handels, auch in den Agrarregionen setzte
vielfach durch Zuwanderer eine rasche wirtschaftl. Erholung ein. 1462
wurde in Bordeaux ein Parlement für das Gebiet der alten 'Gascony'
eingerichtet. Die Abtretung des Herzogtums Aquitanien als Apanage
für Charles
de France blieb Episode (1469-1472). Danach war die Guyenne
bis zum Ende des Ancien régime
lediglich eine administrative Einheit, die seit Beginn des 16. Jh. als
Gouvernement konstituiert war, das den Parlamentssprengel von Bordeaux,
daneben aber auch Quercy und Rouergue (sogenannte »Haute Guyenne«)
umfaßte.
B. Cursente