GENTRY
Lexikon des Mittelalters:
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Gentry
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ständische-soziale Gruppe in England, in mancher Hinsicht dem
kontinentaleuropäischem Nieder-Adel (Adel) vergleichbar.
In dieser
Bedeutung
erschien das Wort 'Gentry'
zuerst im 16. Jh., bereits vorher wurde es
für 'Abstammung' oder 'Leitung' wie das ältere, aus dem
Französischen
stammende gentrice gebraucht.
Das Auftreten der Gentry
als soziale Gruppe
läßt sich zurückführen auf die in Europa
einzigartige Zusammensetzung der englischen Parliaments
um die Mitte des 14.
Jh. Während im übrigen westlichen Europa die Freien mit
beträchtlichen (Lehns-) Grundbesitz, die in der Regel ein Wappen
führten, den »Stand« des Adels auf den
Repräsentativversammlungen bildeten, wurden in England nur ca. 50
Oberhäupter bedeutender hochadliger Familien (Lords)
persönlich zu den Parliaments
geladen, wo sie gemeinsam mit den
Prälaten in einem 'Oberhaus' saßen. Männer mit
vergleichsweise geringeren Besitzungen wurden dagegen im 'Haus der
Gemeinen' (House of Commons)
durch shire-knights
('Grafschaftsritter')
vertreten; die freien Grundbesitzer jeder der 37 Grafschaften Englands
wählten jeweils zwei shire-knights,
die allerdings nicht in jedem
Fall auch tatsächlich Träger der Ritterwürde waren.
Diese gewählten Vertreter wie auch ein Großteil ihrer
Wähler können unter der modernen Konventionsbezeichnung 'Gentry'
zusammengefaßt werden. Zu dieser Gruppe gehörten zwar auch
Kronvasallen, doch bestand sie zum größten Teil aus
Untervasallen (Lehnswesen). Die obere Schicht der Gentry
bestand aus
Rittern und ihren Familien; Söhne und Erben von Rittern empfingen
jedoch selbst nicht durchweg die Ritterwürde, und seit dem
späten 14. Jh. wurden die nicht persönlich zu Rittern
gewordenen Oberhäupter adliger Familien allgemein als esquires
(vergleiche französisch écuyer)
beziehungsweise lateinisch als armigeri
bezeichnet.
Die Vorfahren vieler Gentry-Familien
hatten in der Normannen-Zeit als
Ritter
im Verband des Lehnsheeres gekämpft und von ihren Herren
Ritterlehen erhalten. Infolge der Zersplitterung dieser Lehen durch
Erbteilung und auch bedingt durch die steigenden Kosten von
Rüstung und Streitrössern, gaben zahlreiche Nachkommen dieser
Familien die Zugehörigkeit zu dem (immer professioneller
werdenden) Rittertum jedoch wieder auf (Distraint of knighthood). Sie
widmeten sich der Bewirtschaftung ihres Landbesitzes und fanden neue
gesellschaftliche Aufgaben in den sich unter Heinrich II. und seinen
Nachfolgern ausbildenden Rechts- und Verwaltungsinstitutionen (England,
B. und C.). Ritter wirkten mit an der grand
assize und namentlich an den
Grafschaftsgerichten (County Courts),
von denen bei Bedarfvier Ritter
zur Berichterstattung an den King's
Court abgeordnet wurden; andere
hatten etwa als Geschworene im Namen des Königs Untersuchungen in
ihrem
shire durchzuführen. Wie
Sir John Fortescue um 1468-1471
feststellte, gab es in ganz England keinen Ort, wo sich nicht zumindest
ein Ritter, esquire, franklin oder andere freie
Grundbesitzer fanden,
»sufficient in patrimony to
form a jury« (»De
laudibus legum Angliae«, cap. XXIX). Dies war seine gleichsam
soziologische Erklärung für charakteristischen Merkmale des
Englischen
Rechts.
Seit der Mitte des 13. Jh. wurde den Königen und Baronen bzw. Lords klar,
daß die kollektiven Interessen der Gentry
in den Grafschaften nicht mehr
ignoriert werden konnten. Die Beschwerden der Gentry
über die königliche
Verwaltung in den shires und
über die königliche wie baroniale
Gerichtsbarkeit dürften die Reformgesetzgebung jener Zeit
maßgeblich mit ausgelöst haben. Die Gentry-Vertreter
agierten in
den Parliaments Eduards III. nun - gemeinsam
mit den Stadtbürgern
- im Namen der Community of the realm;
damit erlangte die höhere
Gentry eine
zunehmend
dominierende Rolle bei der Verwaltung der shires, die
sich in den Statuten über Friedensrichter (Justices of the peace)
von 1361 und sheriffs von
1376 ausdrückt (England, B. und D.). Ein
Statut von 1439 weist Männern, die über Grundbesitz mit
jährlichem Mindesteinkünften von £ 20 verfügten,
die
Tätigkeit als Friedensrichter zu. Soweit die Quellen über die
Einnahmen aus der Einkommenssteuer von 1436 - und die darauf beruhenden
Berechnungen von H.L. Gray (1934) - verläßlich sind, ergibt
sich zu diesem Zeitpunkt eine Zahl von ca. 2.100 nichtbaronialen
Grundbesitzeinheiten mit dem geforderten Mindesteinkommen von £
20; 183 adlige Familien hatten demnach durchschnittliche
Jahreseinkommen
von £ 208, ca. 750 kamen auf £ 60, 1.200 auf £ 24.
Somit waren die reicheren Mitglieder der Gentry
wohlhabender als manche
Lords und dürften bei
ihren Standesgenossen in der Nachbarschaft
einen erheblichen Einfluß gehabt haben.
Einige Mitglieder der höheren Gentry
waren mit der Aristokratie ihrer
shires durch Heirat oder Ausübung eines grundherrlichen
Amtes, etwa
als Hausverwalter (steward)
oder Schloßkastellan (constable)
verbunden; andere hatten Dienstverträge (indentures) mit
einem Lord (Bastard Feudalism). Seit ca.
1390 verfolgten mehrere Könige
die Praxis, Ritter und esquires
durch Vergabe von Pensionen und
einträglichen Ämtern an sich zu binden - in dem Bestreben,
die
Position des Königtums in den Grafschaften mittels intensiver
Beziehungen zu den
dort führenden Persönlichkeiten stärker zu verankern.
Der Zugang zur königlichen Ämterpatronage erhöhte das
Sozialprestige. Ritter-Familien betrieben ihrerseits Patronage
gegenüber Familien der niederen Gentry
und setzten deren Mitglieder zum
Teil als Amtsträger in ihren Herrenhäusern oder als Verwalter
in den weiter entfernten Besitzungen ein, wobei ihnen jedoch - im
Unterschied zu den Lords - nicht das Recht zustand, förmliche
feudale
Dienstverhältnisse zu begründen und ihre Gefolgsleute mit
einheitlichen Abzeichen und Diensttracht (livery) auszustatten. Auch die
Wohnverhältnisse der Gentry
blieben zumeist bescheidener als
diejenigen der Lords: Selbst
die reichen Gentry-Mitglieder,
die ihren
Landbesitz oft durch einträgliche Heiraten vergrößert
hatten, besaßen als Residenz in der Regel nur ein Herrenhaus,
ausgestattet mit einer Halle (hall) und wenigen Zimmern sowie
Küche und Wirtschaftsräumen, teilweise auch mit einer
Kapelle; manche dieser Häuser waren mit einem Graben umgeben
(moated), doch nur wenige
befestigt, mit Ausnahme der Herrenhäuser
an der englischen Südküste und im Grenzgebiet zu Schottland.
Erwähnenswert ist, daß viele kleinere Gentry.-Familien
in
Northumberland, mit
einem Jahreseinkommen unter £ 20, auf kleinen
Burgen (castles) oder
Turmburgen (peletowers)
saßen (Burg, C. X).
Die Familien der niederen Gentry
bildeten durchweg eine weitaus
größere Gruppe als die wenigen Familien der shire-knights.
Deren Nachkommen gingen vielfach in der niederen Gentry
auf, da ihre
Familien in der Regel nur in der Lage waren, die älteren
Söhne mit einem Erbteil auszustatten, es sei denn, eine reiche
Heirat hatte die Familiengüter vergrößert. Manche
dieser jüngeren Söhne wurden vom 'good lord' ihres Vaters in
Dienst genommen, andere kamen als Lehrlinge bei Londoner Kaufleuten
unter. Im 15. Jh. bildete sich immer mehr die Praxis heraus, die
ältesten Söhne zur Ausbildung an die Inns of Court in London
zu schicken; die dort erworbenen juristischen Kenntnisse sollten ihnen
das
Rüstzeug für die effektive Verwaltung und Sicherung ihrer
Besitzungen und die Ausübung der öffentlichen Ämter in
ihrem
shire liefern. Jüngeren
Söhnen mit solcher Ausbildung dagegen
stand eine Karriere als Jurist oder Verwaltungsmann offen. Viele von
denen, die es auf einem dieser Gebiete zu Erfolgen brachten, kehrten in
späteren Jahren in die Heimat-Grafschaft zurück, um dort auf
den
durch Kauf oder Heirat erworbenen Landgütern zu leben. Eine
weitere Chance für jüngere Söhne der Gentry
bot der kirchliche
Dienst, der allerdings, strebte man nach den höchsten Ämtern,
die Mittel für ein langwieriges Universitäts-Studium
voraussetzte.
Nicht alle Mitglieder der Gentry
zeigten ein gesetzestreues Verhalten. So
trieben in den Jahren um 1330 zwei Verbrecherbanden in den Midlands ihr
Unwesen, angeführt von den Gentry-Angehörigen
James Coterel und
Eustace Folville.
Gewalttätige Fehden zwischen Gentry-Familien
waren nicht
ungewöhnlich. Missetäter aus Gentry-Kreisen
konnten sich durch
ihren Status und ihre weitreichenden Beziehungen oft vor
Strafverfolgung schützen, nicht zuletzt durch Begünstigung
von Magnaten, die allerdings bestrebt waren, im Kreise ihrer eigenen
Lehens- und Gefolgsleute den Frieden durch Vermittlung
aufrechtzuerhalten. In den Bürgerkriegen folgten die Gentry-Mitglieder
ihrem Lord in die Schlacht; fiel dieser auf seiten der unterlegenen
Partei, war es für seine überlebenden Gentry-Anhänger
in der
Regel nicht schwer, einen anderen Patron zu finden. So ist in den
Jahren von ca. 1450-1490 dieselbe Gentry-Gruppe
aus Derbyshire nacheinander
belegt im Lehens- und Gefolgschaftsdienst des Herzogs von Buckingham
(Stafford), des Herzogs von
Clarence (George),
des Lord Hastings und des
Earl of Shrewsbury (Talbot). Während der Rosenkriege (England, E.)
sind unter den entschiedenen Anhängern der beiden rivalisierenden
Königs-Häuser dagegen nicht allzuviele Gentry-Mitglieder
zu finden.
Im 15. Jh. wurde das Wort gentilman
(im Französischen gentilhomme)
zunehmend als
persönliche Qualifikation gebraucht. Im sozialen Gefüge einer
Grafschaft rangierte ein gentilman
unterhalb der esquires. Nicht
jeder
gentilman verfügte über feudalen Landbesitz. Die
Bezeichnung
wurde bevorzugt geführt von jüngeren Söhnen adliger
Familien, Anwälten sowie Verwaltungs- und Hofhaltbeamten im Dienst
des Königs und der Magnaten. Die gentilmen,
die als Laien verstärkt
in ehemals von Klerikern ausgeübte Funktionen einrückten,
verfügten über Bildung; sie finden sich gehäuft in
Westminster, London und anderen städtischen Zentren.
R.L. Storey