CHANCERY, COURT OF


Lexikon des Mittelalters:
********************

Chancery, Court of
-------------------------
Englisches Kanzleigericht
Die Ausprägung des Court of Ch
ancery erfolgte während zweier Jahrhunderte, aber vieles seiner Entstehungsgeschichte ist noch unsicher.
Seit dem späten 13. Jh. gibt es Hinweise auf von einem chancellor ('Kanzler') abgefaßte Rechtsmittel und auf den Erhalt und die Beantwortung von Petitionen. Der chancellor war bald der wichtigste Beamte des Königs, ein führender Ratgeber, der der chancery (zu den allgemeinen Voraussetzungen Kanzler, Kanzlei) vorstand, wo zum Beispiel Kläger writs erwirkten, die für die Einleitung von Prozessen in den Common-Law-Gerichtshöfen notwendig waren und wo Anordnungen über die Einleitung von Untersuchungen in Erbschafts- und Grundbesitzfragen getroffen sowie Untersuchungsergebnisse archiviert wurden. Es ist verständlich, daß der Kanzler in Hinblick auf seine Stellung und seine Arbeit in der Kanzlei begann, administrative und jurisdiktionelle Rechtsmittel zu erteilen - entweder allein oder zusammen mit Richtern und Ratgebern. Allerdings darf man in dieser Zeit noch nicht zu sehr zwischen der Tätigkeit des Kanzlers und derjenigen der Gruppe der Ratgeber und Beamten am königlichen Hof differenzieren.
Eindeutige Hinweise auf einen
Court of Chancery mit eigenen Verfahrensweisen gibt es dann seit dem 2. Viertel des 14. Jh. Diese Entwicklung wurde vor allem dadurch begünstigt, daß ein Gerichtshof notwendig wurde, der die Gerichtshöfe des Common-Law ergänzte, deren Gerichtspraxis starr geworden war und die neuartige Fälle nicht beachten wollten. Um 1350 wurde auch erstmals zwischen Common-Law und Billigkeitsrecht unterschieden. Im späten 14. Jh. setzt dann die Überlieferung der Gerichtsakten des Court of Chancery in größerem Umfang ein, zuerst erscheinen hauptsächlich Petitionen (bills) an den Kanzler und dann seit 1440 auch Petitionen, Vorladungen, Klagschriften und einige Urteile. Im 15. Jh. stieg die Zahl der Fälle ständig an, von über 100 pro Jahr in der ersten Hälfte des Jahrhunderts auf fast 600 pro Jahr zwischen den 1460-er Jahren und 1500.
Die Gerichtsverhandlungen wurden entweder vom Kanzler allein oder zusammen mit den Richtern des Common-Law und Räten abgehalten. Einige Gerichtsfälle wurden wahrscheinlich vor dem Council in Chancery verhandelt, dessen Jurisdiktion und Zusammensetzung sich mit dem
Court of Chancery überschnitt. Allerdings stellt die heute vielfach gängige Ansicht, daß die Jurisdiktion des Court of Chancery vom Council delegiert worden sei, eine Simplifizierung dar. Der höchste Kanzleibeamte, der keeper oder master of the rolls, wurde der Vertreter des Kanzlers, und die anderen höheren Beamten oder Vorsteher der Kanzlei dienten als Gerichtsbeamte. Der Funktionswandel von den eigentlichen Aufgaben einer Kanzlei zu einem Gerichtshof zeigt sich darin, daß es sich in der 2. Hälfte des 15. Jh. bei diesen Beamten zunehmend um Graduierte des römischen und kanonischen Rechtes handelte und daß sie im späten 16. Jh. untergeordnete Richter des Court of Chancery waren.
Der
Court of Chancery besaß sowohl die Jurisdiktion für das Common-Law als auch für das Billigkeitsrecht. Es wurden jedoch vor dem Court of Chancery Prozesse verhandelt, auf die die Rechtsmittel des Common-Law wegen Nötigung, Armut oder anderer Gründe nicht anwendbar waren, sowie auch Fälle, die nicht unter das Common-Law fielen. Im 15. Jh. handelte es sich meistens um Streitfälle des Handels, in die sowohl Ausländer (die nach dem Common-Law nicht klagen bzw. beklagt werden konnten) als auch Einheimische verwickelt waren, zum Beispiel Auseinandersetzungen um Verträge, die nicht ohne weiteres in den Bereich des Common-Law fielen. Allgemein üblich waren auch Gerichtsverhandlungen, die zu Nießbrauch ausgetane Lehen betrafen - davon wurde ausgiebig Gebrauch gemacht, um feudale Erbschaftsregelungen zu umgehen.
Der
Court of Chancery war eine blühende Rechtsinstitution, weil er - im Unterschied zu sonstigen Gerichtshöfen - auf dem Billigkeitsrecht beruhende und weniger schwerfällige Verfahrensweisen bot. Seine Vorladungen von Angeklagten, besonders die »sub poena«, waren wirksam und fanden überall Beachtung. Außerdem fanden stärker schriftliche als mündliche Plädoyers Anwendung, während die Zeugenaussagen sowohl schriftlich als auch mündlich vorgetragen werden konnten. Deshalb waren die Gerichtsverfahren am Court of Chancery zügiger und billiger als diejenigen an den Gerichtshöfen des Common-Law. Im 16. Jh. nahm die Tätigkeit des Court of Chancery noch zu, und die Funktion der Kanzlei wurde in erster Linie die eines Gerichtshofes, und der Kanzler wurde zum Justizbeamten - wie er es noch heute ist.
A.L. Brown