Lexikon des Mittelalters: Band VIII Spalte 1822
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Völkerwanderung
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bezeichnet im engeren Sinne die mit der Hunnen-Invasion
375 beginnende Völkerbewegung an der Nordgrenze des Imperium Romanum
(Römisches Reich). Von der unteren Donau bzw. der westlichen Ukraine
ausgehend, löste sie einen Landnahmeprozeß besonders ostgermanischer
Stammesgruppen (verbunden mit Alanen
und selbst Hunnen) in wechselnder Konsistenz
auf römischem Territorium aus und führte mit Bildung germanischer
Staaten zur Auflösung der westlichen Imperiumshälfte im 5. Jh.
Der Begriff läßt sich aber ebenso auf frühere Bewegungen
der Bastarner, Kimbern und Teutonen seit dem 2. Jh.
v. Chr. beziehen und danach auf die nur unter den SEVERERN
kurz unterbrochenen Invasionswellen des 2. und 3. Jh. Um Christi Geburt
erreichten germanische Stämme, von Skandinavien und der südlichen
Ostseeküste ausgehend, in Wanderbewegungen das Schwarze Meer, während
sich der Stammesverband der Elbgermanen (Alamannen,
Burgunder) auflöste. Die Bewegung
vollzog sich unter verschiedener Führungsstruktur in jeweils fortlaufender
Expansion oder in Zügen über weitere Entfernung, in Abspaltung
oder Akkumulation als laufender Ethnogeneseprozeß mit vorerst zurückbleibenden,
dafür zum Teil erst später auftretenden Resten (Langobarden,
Heruler, Vandalen)
unter Anpassung von Herrschafts- wie Sozialverhalten und archäologisch
einigermaßen faßbarer Zivilisationsübernahme bzw. -vermischung.
Allgemeines Ziel blieb Aufnahme und Integration in das Imperium. Eine Dezimierung
am Ende des 3. Jh. bewirkte vorübergehende Stabilisierung und Bildung
von föderierten Staatswesen.
Die 376 bzw. 382 südlich der unteren Donau als Föderaten
aufgenommenen Westgoten führte
Alarich
nach
Italien (410 Eroberung Roms), nach Alarichs
Tod
Athaulf
nach Süd-Gallien, wo das 418 etablierte, föderierte
Reich im 5. Jh. sich in Gallien (Aëtius)
und unter Eurich
über Spanien ausdehnte. Die Ostgoten
(ähnlich die Heruler,
Gepiden,
Quaden, Sueben)
blieben in der Nähe der alten Wohnsitze; nach Ende des Hunnen-Reiches
453 sind sie aber im Umfeld Pannoniens nachweisbar. Neben den bekannten
Stämmen müssen ständig verschiedene anonyme Gruppen unterwegs
gewesen sein, so daß von in sich geschlossenen Ethnien nirgends die
Rede sein kann. Aus verschiedenen Elementen bestehende Verbände unter
selbsterhobenen Führern (Radagais,
Sarus) drangen am
Anfang des 5. Jh. mehrfach in das Imperium ein; ca. 406 stieß eine
solche Welle gewaltsam nach Gallien vor, eine
alanisch-vandalische
Gruppe gelangte dabei bis Spanien, von wo sie nach aufreibenden Kämpfen
mit Westgoten und Sueben
429 unter
Geiserich
nach Afrika übersetzte und nach Eroberung Karthagos 439 ein eigenes
Reich etablierte (442), das mit Westrom durch Ehevertrag verbunden war.
Vandalische Raubzüge über See, besonders nach dem Tode
Tode Valentinians III. 455 (Plünderung
Roms), schädigten West- wie Ostrom, römische Gegenoffensiven
461 und 468 scheiterten. Im Westen ging Britannien um 400 nach dem Aufhören
militärischer Präsenz für Rom verloren und wurde zum Ansiedlungsgebiet
für Angeln, Sachsen,
Jüten
mit eigener Staatenbildung (Angelsachsen, England, A). In Gallien drangen
Alamannen und Burgunder vor, so daß dort nach dem Ende
des Aëtius 454 dem Römischen Reich nur noch ein kleines
Territorium verblieb (Aegidius,
Syagrius). Nach der Fusion von Saliern und Rheinfranken expandierte
diese (fränkische) Stammesgruppe, die auch weitere germanische Stämme
im Rheingebiet aufgesogen hatte, unter Teilfürsten bis zur Loire (Franken).
Eine Zäsur im Prozeß der Völkerwanderung
bedeutete die Herausbildung eines selbständigen Hunnen-Reiches zwischen
mittlerer Donau und Süd-Rußland bzw. Kaukasus. Das ständige
Eindringen neuer nomadisierender Gruppen (Nomaden) in weitgehend entleerte
Räume führte zur Etablierung einer Herrscherdynastie mit entsprechender
bis nach Innerasien nachweisbarer Zivilisation sowie zu Kontakten und Auseinandersetzungen
mit dem östlichen wie westlichen Imperium und zur Unterordnung der
verbliebenen ostgermanischen Stämme, deren Dynastien (AMALER)
zugleich aber auch gefördert wurden. Die hunnischen Grenzen nach Osten
und Norden sind nicht bekannt. Die Festigung des Reiches unter neuen, dem
Nomadentum nicht mehr günstigen räumlichen Bedingungen als Ziel
Attilas
(regierte 445-453) führte zu Kriegen und Verwüstungen im Balkangebiet
und 451 zur Invasion in Gallien, wo Attila
von Aëtius mit westgotischer Hilfe auf den Katalaunischen
Feldern besiegt wurde. Nach gescheitertem Italienzug 452 starb Attila
453, das Reich zerfiel. Als Folge siedelten Gepiden in Siebenbürgen,
Langobarden,
Heruler, Rugier westlich davon, Skiren an der unteren
Donau.
Die Ostgoten, seit 453 in Pannonien, drangen 469
nach Thrakien vor. Der vergebliche Versuch neuen Seßhaftwerdens veranlaßte
489 den Abzug nach Italien unter Theoderich,
wo sich bereits 476 unter Odoaker
aus germanischen Söldnern und Römern eine Art Staatswesen in
Abhängigkeit von Ostrom gebildet hatte. Nach dessen Vernichtung suchte
das ostgotische Reich besonders mit Hilfe von Ehebündnissen die bereits
unabhängig gewordenen germanischen Gruppen im Westen wieder an das
Imperium zu binden, scheiterte jedoch. Unter Chlodwig,
der (auch gewaltsam) die Einigung der Franken
durchführte, wurden die Westgoten aus Gallien vertrieben
und damit auf Spanien beschränkt (508; dort 595 Vernichtung des Sueben-Reiches);
Burgunder
und Alamannen gerieten in fränkische Abhängigkeit.
Alle Reiche etablierten sich nicht zuletzt durch Verbindung
mit der bestehenden romanisierten Oberschicht und Schaffung einer Rechts-
wie Verwaltungsstruktur, in der Spezifisches sich mit dem römischen
Vorbild verband (zum Beispiel im herrscherlichen Zeremoniell), doch unter
allmählicher Vermischung der ethnischen Bestandteile. Die Schichtung
in Königtum, Adel und Gemeinfreie blieb in der Regel erhalten. Die
Annahme des Katholizismus förderte den Prozeß der Transformation.
In seinem Bemühen um Wiederherstellung des Römischen
Reiches vernichtete Justinian (Byzantinisches
Reich, B. I) die Reiche der Vandalen (533-534) und der Ostgoten
(535-554); die germanischen Bevölkerungssubstrate verschwanden. An
der unteren Donau kam es seit Ende des 5. Jh. zur Landnahme durch die Bulgaren
(als Nachfolger der Hunnen) und zum Eindringen der Slaven, die erst
allmählioch faßbare politische Strukturen erreichten. Zwischen
Alpen und Donau bildete sich seit dem 5. Jh. aus dem Zustrom verschiedener
ethnischer Gruppen (Markomannen, Sueben,
Alamannen) das Volk der Baiern (Bayern) und konsolidierte sich unter
regionalen Herrscherdynastien, geriet aber im 6. Jh. (nach ostgotischer
Oberherrschaft) unter die Herrschaft des Franken-Reiches
(AGILOLFINGER).
Die Dynastie Chlodwigs, die MEROWINGER,
dehnte ihren Machtbereich bis Thüringen aus. An der Zerschlagung des
Ostgoten-Reiches beteiligt, kam das Franken-Reich an der mittleren Donau
in Kontakt mit Byzanz, besonders aber mit den Langobarden, die nach
dem Sieg über die Heruler und die Auseinandersetzung mit den
Gepiden
ihren Schwerpunkt um 537 nach Pannonien verlagerten. Ihre Abwanderung nach
Italien 568, veranlaßt durch die Avaren,
ist die letzte Landnahme der Völkerwanderung; im avarischen Gefolge
nahmen die Slaven die östlichen Alpengebiete in Besitz.
Die Völkerwanderung, mit den Eckdaten 376 und 568,
ist als historische Zäsur ein Ergebnis späterer Deutung; von
den betroffenen Zeitgenossen wurde sie im wesentlichen als Kette von Katastrophen
empfunden (Adrianopel, 378). Trotz der komplexen Vielfalt der Ereignisse
und Ursachen steht die Völkerwanderung als Epoche seit Petrarca fest;
den Begriff verwendete erstmals der Humanist W. Lazius (»De gentium
aliquot migrationibus«, 1555). Seither dreht sich die Diskussion
(Überblick bei Demandt, 467ff.) um den gentes-Begriff (siehe auch
Natio, Regnum), besonders aber um die Wechselwirkung von Invasion und Zerstörung
des Imperiums durch Barbaren, um innere oder äußere Gründe
für das Ende des Imperiums und um die materielle wie geistige Kontinuität
zwischen Altertum und Mittelalter. Zur Frage nach den Germanen als Zerstörern
der antiken Kultur tritt die nach ihnen als Träger einer Metamorphose,
wobei neben biologischem, technischem und geistigem Verfall auch das Christentum
in ein geschichtsphilosophisches Zwielicht gerät. Verschieden ist
daneben die Bewertung der Zäsuren (376;395;476;554;568). Trotz aller
mittelalterlicher Vorstellungen von einer Translatio Imperii ist der direkte
Nachfolger des Imperium Romanum nur das Byzantinische Reich. - Zur Kunst
der Völkerwanderung siehe besonders Granat, Tierornamentik.
G. Wirth