THÜRINGEN
 

Lexikon des Mittelalters: Band VIII Spalte 747
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Thüringen, Thüringer
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A. Archäologie

Ein mit den Thüringern verbindender archäologischer Formenkreis bildete sich erstmals um die Mitte des 5. Jh. heraus. Die wenig früher vollzogene Stammesbildung der Thüringer hatte offenbar die Voraussetzung dafür geschaffen, daß die zu gleicher Zeit bei vielen Germanenstämmen aufkommende Reihengräbersitte (geostete Körperbestattungen mit Beigaben in fortlaufend belegten Gräberfeldern; Grab, A.I) sich auch in Thüringen als allgemeingültige Beisetzungsform durchsetzen konnte. Aus den solcherart organisierten und ausgestatteten Gräbern stammt fast das gesamte Quellenmaterial zur Archäologie der Thüringer. - Die thüringische Fundprovinz ist Bestandteil des sogenannten Östlichen Reihengräberkreises, zu dem außerdem noch der langobardische Formenkreis beiderseits der mittleren Donau, der gepidische in Theiß-Ebene und Transsilvanien sowie eine Fundgruppe in Böhmen gehören. Letztere, für die kein Stammesname überliefert ist, muß in engem Zusammenhang mit Thüringen gesehen werden. Der Kern der thüringischen Fundprovinz nimmt das Gebiet zwischen Thüringer Wald und Elbe/Mulde ein, also das Flußgebiet von Saale und Unstrut sowie das nördliche Vorland des Harzes. Lockere Streuung weiter nach Norden, vereinzeltes Ausgreifen über den Thüringer Wald ins Maingebiet sind zu konstatieren, jedoch findet die in den Schriftquellen bezeugte Anwesenheit von Thüringern an der Donau bei Regensburg sowie am Niederrhein im archäologischen Befund keine Bestätigung.
Siedlungsplätze wurden wurden bisher nur in geringem Umfang erforscht; die bekanntgewordenen Aufschlüsse zeigen die zeittypischen Bauformen bäuerlichen Anwesen: ebenerdige Pfostenbauten und eingetiefte Grubenhütten. Die wenigen derartigen Befunde, mehr aber noch die ungleich häufiger festgestellten Bestattungsplätze - auch sie ein Element der Siedlungstopographie - geben Hinweise auf die Struktur frühma. Siedlungen. Namentlich die frühmittelalterlichen Anfänge von thüringischen Städten wie Weimar, Erfurt, Mühlhausen unter annderem haben sich auf diese Weise erhellen lassen.
Die Bestattungssitten der Thüringer weisen im 5. bis 7. Jh. vielfach noch urtümlich, heidnisch anmutende Züge auf. Neben der generell vorherrschenden Körperbestattung wurde in Einzelfällen immer noch die früher in Germanien übliche Brandbestattung geübt. Pferdebestattungen kommen ähnlich häufig vor wie bei den benachbarten heidnischen Sachsen. Gräber von Hunden, Opfergruben mit Schädel und Extremitäten von Pferden sind im gleichen Zusammenhang zu sehen, ebenso die Beisetzung unter Grabhügeln bzw. innerhalb von Kreisgräben. Übrigens sind die Gräberfelder des Früh-Mittelalters in Thüringen im Gegensatz zu denen des westlichen MEROWINGER-Reiches durchweg verhältnismäßig klein und nur selten über einen längeren Zeitraum hinweg belegt, namentlich sind die recht zahlreichen bereits in frühmerowingischer Zeit einsetzenden Gräberfelder nur vereinzelt bis ins 7. Jh. in Benutzung geblieben. Mit aller Vorsicht kann daraus auf eine wenig dichte und noch vielfach instabile Besiedlung geschlossen werden.
Unter den als Grabbeigaben überlieferten Sachgütern des 5. bis 7. Jh. lassen sich einzelne Fundprovinzen herausstellen, womit in erster Linie eine regionale Zuordnung, weniger eine ethnische, getroffen sein soll. Eine solche thüringische Regionalform läßt sich unter den von Frauen getragenen Bügelfibeln ausmachen: Die kerbschnittverzierten Stücke sind verhältnismäßig klein, und die eine ihrer Zierplatten, die Kopfplatte, zeigt einen von Vogelkopfprotomen gebildeten oder sonstwie gezackten Umriß. Unter der Tonware sind es auf der Drehscheibe gearbeitete, dünnwandige Schalen mit geglätteter Oberfläche und einpolierten Mustern, die sich in ähnlicher Weise als ein typisch thüringisches Produkt darstellen. Diese und andere regionaltypische Sachformen verschwinden jedoch im Laufe des 6. Jh. und werden durch ein Formengut nach merowingisch-fränkischem Standard ersetzt.
Schließlich lassen die archäologischen Quellen einen Migrationsvorgang erkennen, der in den Schriftquellen nicht ausdrücklich bezeugt ist: Allem Anschein nach sind im Verlauf der MEROWINGER-Zeit erhebliche Teile der thüringischen Bevölkerung nach Westen und Süden abgewandert. Das östliche Stammesterritorium (jenseits der Saale) erscheint im 7. Jh. praktisch frei von Funden thüringischen Charakters, ist also offensichtlich von den Thüringern geräumt worden. Früher oder später sind hier Slaven nachgerückt. Diese haben in der Folgezeit auch weiter westlich liegende thüringische Kerngebiete bis hin zum Main siedlungsmäßig durchsetzt, was nur bei schütterer Vorbesiedlung möglich erscheint. Andererseits ist thüringischer Zuzug in entfernten Gebieten des MEROWINGER-Reiches anhand archäologischer Zeugnisse deutlich auszumachen, so in Rheinhessen und an der oberen Donau (Schretzheim). Dieser West-Drift thüringischer Bevölkerungsgruppen steht eine - zahlenmäßig zweifellos geringere - Ost-Wanderung von Franken gegenüber, die mit der Ausbreitung der fränkischen Herrschaft über Thüringen nach 531/534 zusammenhängt (z. B. Adelsgräber von Allach).

H. Ament



B. Geschichte

I. Das Königreich der Thüringer:

Die Thüringer, die sich im 4./5. Jh. in dem Raum zwischen Thüringer Becken, unterer Saale und Mulde, mittlerer Elbe und nördliches Harzvorland als neuer gentiler Großverband formierten, wobei sie möglicherweise an den Namen der hier im 1./2. Jh. ansässigen Hermunduren anknüpften, treten erstmals Ende des 4. Jh. in der schriftlichen Überlieferung als Toringi entgegen (Vegetius Renatus). Nach 454, von vorübergehender hunnischer Oberherrschaft befreit und in engen Kontakten mit den Ostgoten und Langobarden stehend, stiegen sie rasch zum mächtigsten germanischen Reich außerhalb der ehemaligen römischen Reichsgrenzen auf. Mit ihrem weiten Herrschaftsgebiet zwischen Donau, oberem Maintal, Werraraum, mittlerer Elbe, Braunschweiger Gegend und Altmark bildeten sie in dem ostgotischen Bündnissystem Theoderichs des Großen den wichtigsten Machtfaktor östlich des Rheins gegen das expandierende Franken-Reich. Das enge ostgotisch-thüringische Zusammengehen wurde um 510 mit der Heirat König Herminafrids, des ranghöchsten der drei Söhne des ersten sicher bezeugten thüringischen König Bisin, und Theoderichs Nichte Amalaberga besiegelt. Als Theoderichs Tod 526 den Thüringern den ostgotischen Rückhalt nahm, unterwarfen die merowingischen Könige Theuderich I. und Chlothar I. 531 die Thüringer nach einer vernichtenden Niederlage an der Unstrut fränkischen Herrschaft. Die Königsfamilie wurde durch Flucht, Deportation (Herminafrids Nichte Radegunde) und Mord (Herminafrid 534 in Zülpich) ausgelöscht. Die Folgen für Thüringen waren weitreichend: Zerschlagung des Thüringer-Reiches, dauerhafter Verlust der polit. Selbständigkeit, Verkleinerung des Siedlungs- und Herrschaftsgebiets auf den seitdem als Thuringia bezeichneten Raum zwischen Harz, westlichen Werraraum, Thüringer Wald und Saale, Zwangsumsiedlung großer Bevölkerungsteile und Umorientierung vom gotisch-langobardischen zum galloromanisch-fränkischen Kulturhorizont.

II. Thüringen in fränkischer Zeit:

Trotz überaus lückenhafter Quellenlage lassen schriftliche und archäologische Zeugnisse bereits in merowingischer Zeit eine enge politische und kulturelle Einbindung Thüringens in das Franken-Reich erkennen. Mehrfache Heereszüge unter königlicher Führung nach Thüringen (555/556,562,596), die Mitwirkung thüringischer Truppen bei den innerfränkischen Auseinandersetzungen 612/613, der Aufenthalt König Dagoberts I. mit Bischof Arnulf von Metz in Thüringen 623/629, Dagoberts I. Maßnahmen gegen die Wendengefahr seit 631, Gräber hochgestellter Franken in Thüringen sowie die seit Ende des 6. Jh. zunehmenden fränkischen Einflüsse auf das thüringische Grab- und Gebrauchsinventar bezeugen das Gewicht Thüringens als fränkische Grenzregion gegen die zur Saale nachrückenden Slaven und Avaren. Bereits damals dürfte Erfurt zentrale Funktionen für das fränkische Königtum eingenommen haben. Als Herzogtum begegnet Thüringen erstmals mit dem vor 634 von Dagobert I. eingesetzten, wohl fränkischen dux Radulf, der nach seiner siegreichen Empörung gegen den austrasischen König Sigibert III. 641 eine selbständige, quasikönigliche Stellung in Thüringen behauptete. In den folgenden Jahrzehnten innerfränkischer Wirren entglitt Thüringen weiter der fränkischen Oberherrschaft. Spätestens um 700 gelangte es unter Einfluß des in Würzburg residierenden Herzogs Heden (HEDENE), der eine Mainfranken, das Grabfeld und Thüringen umfassende Herozgsherrschaft ausübte und 704/716 durch Schenkungen in Innerthüringen (Arnstadt, Großmonra) und im Grabfeld den angelsächischen Bischof Willibrord zur Missionsarbeit in Thüringen zu gewinnen suchte.
Nach dem gewaltsamen Ende Hedens 717/719 wurde Thüringen unter den KAROLINGERN erneut und weit intensiver von fränkischer Herrschaft erfaßt. An die Stelle politisch-administrativer Zusammenfassung unter einem dux trat wohl noch vor 780 die Einführung der Grafschaftsverfassung (Grafschaft). Seit 722/725 schuf Bonifatius mit päpstlicher Vollmacht und im Zusammenwirken mit der christianisierten thüringischen Oberschicht und den karolingischen Hausmeiern die Grundlagen der thüringischen Kirchenorganisation und der Einbeziehung Thüringens in die fränkische Reichskirche. Folgenreich war neben dem Bau von Klöstern und Kirchen (Ohrdruf, Erfurt, Sülzenbrücken) vor allem die Gründung eines für Thüringen bestimmten Bistums in Erfurt 742. Seine kurz nach 750 von Bonifatius selbst vorgenommene Aufhebung und Eingliederung in die Diözese Mainz begründete die kirchliche Abhängigkeit Thüringens von Mainz und bildete den Ausgangspunkt für die spätere Territorialherrschaft des Mainzer Erzbischofs in Thüringen. Großen Anteil an der kirchlichen Erschließung Thüringens besaßen auch die 744 bzw. 769/775 gegründeten Klöster Fulda und Hersfeld. Sie bildeten nach ihrem Übergang an KARL DEN GROSSEN 774/775 eine wesentliche Stütze des Königtums, das mit einem dichten Netz von Königsgütern, mit fränkischer Siedlung und mit einem Burgensystem im Hochseegau die reichskirchliche Herrschaft in Thüringen zum Schutz gegen die vordringenden Sachsen und Sorben weiter verstärkte. Der »locus regalis« Erfurt fungierte als wichtigste königliche Pfalz und als zentraler, 805 der Aufsicht eines Königsboten (missus) unterstellter Kontrollort für den fränkisch-slavischen Handel. Der große, 786 von Thüringen ausgehende Hardrad-Aufstand und die Aufzeichnung der Lex Thuringorum 802/803 im Auftrag KARLS DES GROSSEN zeigen, daß trotz vielfältiger fränkischer Einflußnahme starke gentile Traditionen in Thüringen fortlebten und einen politischen Faktor bildeten. Möglicherweise trug auch dies dazu bei, daß Thüringen bei den zahlreichen Reichsteilungsprojekten und tatsächlichen Teilungen des 9. Jh., obgleich zunächst weder als regnum noch als ducatus zusammengefaßt, durchweg einen klar definierten Reichsteil darstellte. Mit der wachsenden inneren Instabilität des großfränkiischen Reiches, dem zunehmenden Druck von Slaven und Ungarn auf die östlichen Grenzen und mit der Verfestigung des ostfränkischen Reiches Ludwigs des Deutschen nach 833/843 gewann Thüringen als Grenzregion und als integraler ostfränkischer Reichsteil erneut an politischem Gewicht. Schon 839 wurde Thüringen als ducatus zusammengefaßt und unterstand gemeinsam mit den vorgelagerten Marken - diese wurden seit 849 als Sorbenmark bzw. limes Sorabicus neu organisiert - bis 908 kontinuierlich hohen Amtsträgern im Range eines dux oder marchio. Anders als in den Nachbarräumen entstammten die thüringischen Markherzöge des 9./frühen 10. Jh. fast durchweg landfremden Adelsfamilien, zuletzt den rivalisierenden ostfrk. BABENBERGERN und KONRADINERN. Neben diesen griffen seit dem Tode Ludwigs des Deutschen (876) von Norden her zunehmend auch die mit den KAROLINGERN und BABENBERGERN versippten sächsischen LIUDOLFINGER (OTTONEN) nach Thüringen aus. Sie verfügten nicht nur über Hausgüter im nördlichen Thüringen und im Eichsfeld, sondern gewannen unter Herzog Otto von Sachsen († 912; 25. O.) mit dem Laienabbatiat des Klosters Hersfeld erheblichen Einfluß im gesamten thüringischen Raum. Damit war die Stellung der LIUDIOLFINGER in Thüringen so stark geworden, daß seit Herzog Otto und dessen als »Saxonum et Turingorum praepotens dux« (Liutprand v. Cremona) bezeichneten Sohn und künftigen König HEINRICH I. das thüringische Markherzogtum nicht mehr erneuert wurde. Thüringen als ein Raum, in dem sich möglicherweise wegen der mächtigen Stellung des Königs, der Kloster Fulda und Hersfeld sowie des Mainzer Erzbischofs keine Familien von Herzogsrang formieren konnten, bildete somit zu Beginn des 10. Jh., d. h. in der Entstehungszeit des sogenannten »jüngeren Stammesherzogtums« (Herzogtum), die einzige Großregion des ostfränkischen Reiches auf gentiler Grundlage, die weder als Dukat zusammengefaßt noch von einer eigenen Führungsspitze politisch repräsentiert wurde.



Der germanische Stamm der Thüringer wurde erstmals im 4. Jahrhundert erwähnt. Sein Reich wurde 531 vom Franken-König Theuderich erobert und seitdem als fränkische Provinz regiert. Im 8. Jahrhundert wurde es von Bonifatius christianisiert.