Um diese Probleme zu lösen, vertraute Avitus
sein
Schicksal einem hohen Offizier namens Flavius Ricimer an. Er war
in den folgenden sechzehn Jahren der eigentliche Herrscher des Westreiches.
Als Sohn germanischer Eltern - eines Sweben-Fürsten und der Tochter
des Westgoten-Königs Wallia
- hatte er in der weströmischen Armee Karriere gemacht und war von
Avitus
zum Heermeister im kaiserlichen Stabe ernannt worden. Ricimer
zog nach Sizilien, um dort den Vandalen
entgegenzutreten. Er verhinderte, daß sie bei Agrigentum landeten,
und gewann 456 eine Seeschlacht vor Korsika.
Daraus ergab sich, daß Ricimer, der bei
seiner Rückkehr als "Retter Italiens" gefeiert wurde, zusammen mit
Gleichgesinnten aus den Reihen des Senats beschloß, eine Wende herbeizuführen.
Als
Avitus daraufhin beschloß,
nach Gallien zu fliehen,, wurde er bei Placentia (Piacenza) besiegt und
gefangengenommen.
Doch hatte noch Marcianus
oder schon Leo I. im Februar 457 das
Machtvakuum in Ravenna genutzt, um Maiorianus,
der Heermeister in Gallien war, den Titel "patricius" zu
verleihen, worauf ihn Leo I. erwartungsgemäß
zum Kaiser des Westens nominierte, zweifellos auf Empfehlung Ricimers,
des allmächtigen Heermeisters im kaiserlichen Hauptquartier.
Auf diese Weise wurde Maiorianus am
1. April 457 zum Augustus ausgerufen, doch wahrscheinlich erfolgte die
offizielle Investitur und Krönung erst am 28. Dezember. Bei seiner
Rede vor dem Senat beglückwünschte er Ricimer zu seiner
Erhebung in den Rang eines Patriziers, und Münzbilder zeigen
die beiden Kaiser des Ost- und des Westreiches.
Unterdessen allerdings war Ricimer, der den Feldzug
nach Spanien nicht mitgemacht hatte, weil er der Meinung gewesen war, daß
er in Italien bleiben müsse, um seine verschiedenen germanischen Feinde
in Schach zu halten, zu der Überzeugung gelangt, daß
Maiorianus für die Regierung keine Bedeutung mehr habe.
Es war deshalb kein Zufall,, daß, als der Kaiser Dertona (Tortona)
erreichte, die Soldaten zu meutern begannen und als er am 2. August 461
abdanken mußte. Fünf Tage später hieß es, Maiorianus
sei
an einer Darmerkrankung gestorben; wahrscheinlich aber ist er ermordet
worden.
Nachdem Anthemius
sich die Unterstützung des westlichen Heermeisters Ricimer
gesichert hatte, indem er ihm seine Tochter Alypia
zur Frau gegeben hatte, brach er in Begleitung einer erlesenen Gesellschaft
und von einer beträchtlichen Streitmacht umgeben von Konstantinopel
auf.
Inzwischen garantierten Ricimers Truppen in Gallien
den Bestand enger Bindungen zu den Sweben und dem Burgunder-König
Gundioch,
der Ricimers Schwester heiratete.
Aber auch in Italien, wo seine griechischen Lebensgewohnheiten
Mißfallen erregten, war Anthemius nicht
überall beliebt. Außerdem liefen Gerüchte um, daß
er dem Heidentum zugeneigt sei. Erfolglos gegenüber Vandalen und Westgoten,
begann er, wie das seine Vorgänger ebenfalls getan hatten, in Ricimer
Zweifel ihm gegenüber zu wecken, und ihre Beziehungen verschlechterten
sich schlagartig. Der Kaiser soll sein Bedauern darüber geäußert
haben, daß er seiner Tochter gestattet hatte, einen Barbaren wie
Ricimer
zu heiraten, und er wiederum soll seinen Schwiegervater als "Griechentümler"
und Galater bezeichnet haben.
Diese gegenseitige Verstimmung führte dazu, daß
Italien in zwei feindliche Lager zerfiel, deren Anführer - Anthemius
und Ricimer - in Rom und Mediolanum (Mailand) residierten. Epiphanius,
der Bischof von Ticinum (Pavia), konnte 470 zwar eine Versöhnung herbeiführen,
aber sie hielt nicht lange an, und 472 zog Ricimer nach Süden
vor die Tore Roms, um seinen ehemaligen Schützling zu stürzen.
Nun war sein Kandidat für den Thron des Westens Olybrius,
der mit Placidia der Jüngeren,
der Tochter Valentinianus' III. verheiratet
war, und der - aus Konstantinopel kommend - in Italien eintraf. Anthemius
hatte diesmal die Unterstützung eines Westgotenheeres unter Bilimer,
der vermutlich Heermeister in Gallien war, und auch der Senat sowie die
Bevölkerung Roms standen größtenteils auf seiner Seite.
Es kam zu einer dreimonatigen Belagerung der Stadt und als Folge davon
zu Hunger und Seuchen. Schließlich unternahm Ricimer einen
Vorstoß am Pons Aelius, an der Brücke gegenüber dem Hadriansmausoleum
(der heutigen Engelsburg). Bilimer baute eine starke Verteidigung auf,
fiel aber im Kampf, und Ricimers
Truppen drängten in die Stadt,
wobei ihnen wahrscheinlich Verrat zu Hilfe kam. Anthemius
kapitulierte. Als aber das Plündern kein Ende nahm, verkleidete er
sich als Bettler und versteckte sich bei ihnen an der Kirche des Heiligen
Chrysogonos. Doch man erkannte ihn und köpfte ihn. Diesen Befehl erteilte
Ricimers
Neffe Gundobad im März oder April
472.
Als jedoch fünf Jahre später die anfangs guten
Beziehungen zwischen Anthemius und
seinem Heermeister ("magister militum") zerbrachen, kam der Gedanke,
Olybrius
zum Kaiser zu ernennen, wieder auf. Tatsächlich schickte
Leo I., der Kaiser des Ostens,
Olybrius nach Italien, um zwischen
den streitenden Parteien Frieden zu stiften. Doch kaum war Olybrius
in Italien eingetroffen, hatte man ihm auch schon den kaiserlichen Purpur
umgelegt. Das allerdings kann nicht im Sinnne Leos
I. gewesen sein, denn er konnte keinen Kandidaten für den
westlichen Thron befürworten, der von den Vandalen untersützt
wurde. Tatsächlich berichtet der Chronist Iohannes Malalas in seiner
"Weltchronik" auch, daß Leo in
einem geheimen Schreibern Anthemius
aufgefordert habe, Olybrius umzubringen,
daß jedoch Ricimer diesen Brief abgefangen und unterschlagen
habe. Auf jedem Fall bereitete Ricimer Olybrius
in seinem Lager am Anio (Aniene) vor den Toren Roms einen triumphalen Empfang
unnd rief ihn am 12. April 472 zum Augustus aus.
Nur vierzig Tage nach diesen blutigen Ereignissen starb
Ricimer,
der so lange die Politik des Weströmischen Reiches beherrscht hatte,
an den Folgen eines Blutsturzes. Sein Nachfolger als Heermeister
wurde Gundobad,
der Sohn seiner Schwester und des Burgunder-Königs Gundioch.