Lexikon des Mittelalters:
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Burgund
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fränkisches Teilreich
I. Unter den Merowingern:
Zwar wurde das 534 von Chlodwigs
Söhnen
eroberte Reich der Burgunder aufgeteilt
(Childebert
I. von Paris erhielt den Reichskern mit Lyon, Vienne, Grenoble,
Mâcon;
Theudebert
von Reims den Norden mit Avenches, Sitten/Sion, Besançon,
Langres, Autun, Chalon;
Chlothar
I. vielleicht den Süden bis zur Durance),
doch blieben nach dem Rückfall aller Reichsteile
555 bzw. 558 an den allein überlebenden Chlothar
I. bei der erneuten Reichsteilung nach dessen Tod 561 alle einst
burgundischen Gebiete im Anteil König
Guntrams
(† 592) vereint, der außerdem noch den einstigen
Reichsteil
Chlodomers
mit der Hauptstadt Orléans sowie die Provence erhielt (außer
Marseille, Uzès und Avignon, die an Sigibert
von Reims kamen). Guntram
erwarb
567 beim Tode Chariberts
die Civitas Troyes und gegen Ende seiner Regierung Territorien bis Paris
und Chartres. Sein Erbe fiel 592 an Childebert
II. von »Austrasien«,
erhielt aber schon bei dessen Tod 595 mit seinem jüngeren Sohne Theuderich
II. wieder einen eigenen König, für den die Mutter,
Brunichild,
die tatsächliche Macht ausübte, die sie im Reich ihres älteren
Sohnes Theudebert
II. dem austrasischen Adel hatte überlassen müssen.
Zu Beginn des 7. Jh. wird die noch bei Gregor von Tours stets auf die altburgundischen
Gebiete bezogene Bezeichnung Burgundia ein Name für das gesamte,
unter Theuderich II. fortdauernde Guntram-Reich,
obgleich weder das einstige Orléans-Teilreich noch Troyes je zum
Burgunder-Reich gehört hatten. Dieses fränkische Teilreich Burgund
bildete bis zur Mitte des 9. Jh. zusammen mit Austrien und Neustrien den
Kern des Franken-Reichs, die tria
regna. Dabei hat sowohl eine Frankisierung des einstigen romano-burgundischen
Könnigreiches als auch eine »Burgundisierung« des übriigen
Teilreichs stattgefunden, wobei folgende Faktoren besonndere Beachtung
verdienen:
1. Schon Childebert I. hat
sich stark auf den katholischen Episkopat und die diesem eng verbundenen
galloromanischen Senatorenfamilien
(Senatorenadel) um Lyon gestützt und die vor 534
bestehenden engen Kontakte zu Ostrom
zur Übertragung diplomatischer Missionen beim Kaiser an
Romanoburgunder genutzt. -
2. Die im burgundischen Bereich, ähnlich wie in
der Provence, stärker fortlebenden römischen
Institutionen wurden vielfach beibehalten
bzw. erneuert, so der schon vor 561 auftretende
Patricius-Titel für den leitenden
Feldherrn, zu dessen Amt mehrfach Romanen, so der stark
hervortretende Mummolus, ernannt
wurden. -
3. Der archäologische Befund weist für den
Kernraum der altburgundischen Gebiete gerade auch nach
534 eine große Geschlossenheit
(»Trachtprovinz«, zum Beispiel Gürtelschnallen) auf, die
sich aber
nach neuen archäologischen Erkenntnissen
(M. Martin, J. Werner) mehr auf spezifischen
Traditionen der dortigen romanischen
Bevölkerung, als auf eigentlich burgundisches Erbe stützt
(Burgunder). -
4. Die im engeren Sinne burgundische Rechtstraditionen
wurden respektiert: die nach der Lex
Gundobadi (deren Name im Französischen
als »Loi Gombette« fortbestand) lebenden Personen
wurden Guntbadingi genannt. Im allgemeinen
Formular für die fränkische Herzogsernennung ist
von »Franci, Romani, Burgundionis
vel reliquas nationis« die Rede, um die der fränkischen
Verwaltung unterstehende Bevölkerung
zu kennzeichnen. -
5. Guntram hat in
den 70er Jahren des 6. Jh. seine Residenz von der offiziellen Hauptstadt
Orléans
nach Chalon-sur-Saône ins altburgundische
Gebiet verlegt und nahebei die wichtige Abtei
St-Marcel gegründet (Königsgrablege).
-
6. Der den Herrscher des fränkischen Teilreichs
Burgund umgebende Adel hatte eine für das regnum
spezifische Zusammensetzung aus Franken,
Römern und Burgundern.
Trotz dieser zu einer Kohäsion um den Gebietsnamen
Burgund tendierenden Elemente hat es an Konflikten nicht gefehlt, wobei
es vor allem zu mehrfach erfolgreichem Widerstand einer fränkisch-burgundischen
Adelsopposition gegen das auf romanische Hausmeier (Protadius,
Claudius) sich stützende Königtum kam. Daneben dürfte
eine altburgundische, auch gegen den fränkischen Einfluß gerichtete
autonomistische Tendenz längere Zeit fortbestanden haben. In den Wirren,
die nach Konflikten zwischen den Söhnen Brunichilds
(dabei wurden 609/610 die 596 von Austrasien an Burgund abgetretenen Territorien
Saintois, Krembs- und Thurgau, Elsaß retrozediert) zum Untergang
beider Brüder, aber auch der Brunichild
und ihrer Enkel führten (613), erwies sich, wie für Austrasien,
das politische Gewicht des Adels von Burgund, der sich unter dem Maiordomus
Warnacharius, Brunichild und
ihre Enkel preisgebend, mit Chlothar
II. arrangierte und in den Gesetzen der Reichsversammlung
und Synode von 614 in Paris zusichern ließ, daß die Beamten
(iudices) jeweils dem betreffenden Teilreich zu entnehmen seien.
Burgund bestand also auch unter einem Gesamt-Herrscher des Franken-Reichs
als eigenes Regnum mit eigenem Hausmeier fort. Bei der damals vorgenommenen
Neufestlegung der Grenzen von Neustrien, Austrien und Burgund sind offenbar
Orléans, Auxerre, Sens und Troyes bei Burgund geblieben. Der Fortbestand
von Burgund wurde auch nicht in Frage gestellt, als nach dem Tode des Warnacharius
626/627 trotz vergeblicher Versuche seines Sohnes Godinus
das burgundische Hausmeieramt - wohl im Einvernehmen von Königtum
und Mehrheit des Regionaladels - unbesetzt blieb (abgesehen von der Flaochad-Episode,
642). Zwar wurde Burgund im Unterschied zu Austrasien, dessen Adel sich
mit Chlothars II. Sohn Dagobert
und nach dessen Übernahme des Gesamt-Königtums (629) mit dessen
Sohn Sigibert
III. jeweils einen eigenen, minderjährigen Unter-König
sicherte, vom Pariser Königtum (»neustroburgundisches Königreich«)
direkt administriert, aber es blieb eine eigene Verwaltungseinheit, was
am stärksten im einheitlichen Einsatz seiner Armee (exercitus Burgundionum)
zum Ausdruck kommt, die Dagobert I.
als wichtigstes militärisches Machtinstrument gegen Reichsfeinde (Basken/Wascones,
Bretonen) einsetzte. Zu 635 wird die Zusammensetzung ihrer duces
überliefert (Fred. IV 78): 8 Franken, 1 Sachse, 1 Römer, 1 Burgunder,
»Willibadus patricius genere Burgundionum«. Bei
diesem Titel handelt es sich nicht mehr um den inzwischen abgeschafften
burgundischen »Zentralpatriziat« mit militärischem Oberbefehl,
sondern um einen in Provence und Burgund weiterhin üblichen Rang,
dessen Inhaber in der Dignität über, de facto neben den duces
stand.
Die sorgfältigen Herkunftsdistinktionen im hohen
Adel sind nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung
in Burgund, die den Namen Burgund spätestens seit der 1. Hälfte
des 8. Jh. ebenso für die eigene Herkunft und Geschichte in Anspruch
nahm, wie es die Bewohner Galliens nördlich der Loire um diese Zeit
taten, die sich sämtlich für Franci hielten (Zöllner, Ewig).
Entsprechend erklärt die damals verfaßte »Passio S. Sigismundi
regis« das vermeintliche Verschwinden der Römer in Burgund mit
ihrer restlosen Ausrottung durch die eindringenden Burgunder. Gegen 750
meint »gens Burgundionum« die gesamte Bevölkerung des
fränkischen Teilreichs Burgund.; »die natio Burgundionum hatte
ihr Wesen gewandelt, ... ihre völkische Grundlage mit der landschaftlichen
vertauscht« (Kienast). Entscheidend ist dabei der Name (Burgundia,
Burgundi) in der Verbindung mit langfristig beisammenbleibenden Territorien
gewesen, nicht aber die Rechtstradition, denn als Erzbischof Agobard von
Lyon von Kaiser LUDWIG DEM FROMMEN
die Außerkraftsetzung der Lex Burgundionum, das Werk des »Häretikers«
(Arianers) Gundobad (in Wahrheit in der erhaltenen Form weitgehend von
Sigismund erlassen, der zum Katholizismus konvertierte), forderte, konnte
er behaupten, daß nur noch wenige nach ihr lebten.
II. Unter den Karolingern:
Die arnulfingisch-pippinidischen Hausmeier haben,
als sie nach der Schlacht von Tertry (687) die Vorherrschaft im Gesamtreich
beanspruchten, mit Burgund und seiner Aristokratie häufig erhebliche
Schwierigkeiten gehabt, wie die Konflikte zwischen Godinus, Bischof
von Lyon, mit dem dux Burgundionum zeigen, in dem man Drogo
(† 708), den Sohn Pippins
II., erkennen darf (Krusch, Ewig), ebenso die Feldzüge
Karl
Martells, seines Halbbruders Hildebrand (733ff.) und seines
Sohnes, Pippins
III. (740/741), in den burgundisch-provenzalischen Raum
bzw. nach Lyon. Es ist zeitweilig zu fast autonomen, prinzipatartigen Sonderbildungen
gekommen, wie zum Beispiel im Fall der weit über ihr Bistum hinausreichenden
Macht der Bischöfe von Auxerre. Hier wie im Raum Langres wurden die
KAROLINGER
erst nach Mühen und unter Einsatz landfremder (zum Beispiel bairischer)
Geschlechter der Widerstände gegen die Zentralregierung Herr. Als
die missatica, Sprengel für die
missi dominici, eingeführt
und systematisiert wurden (letzteres erst 802), gehörte das Teilreich
Burgund mit Austrien und Neustrien, im Unterschied zu den anderen Teilgebieten
(regna) des Reichs, zu den dabei erfaßten Gebieten (K.F. Werner).
Es mag mit diesen Schwierigkeiten zusammenhängen,
daß die KAROLINGER bei ihren
Reichsteilungen, im Unterschied zur MEROWINGER-Zeit,
Burgund nicht als geschlossenes regnum beisammenließen, sondern
mehrfach zerschnitten. Am folgenreichsten blieb dabei die Teilung von Verdun
843, weil durch sie die pagi westlich der Saône, die an KARL
DEN KAHLEN fielen, dauernd vom übrigen, einstigen Teilreich
Burgund getrennt wurden. Aber gerade dieser nordwestliche, kleinere und
zu weiten Teilen eher frankoromanischen als »burgundischen«
Teil führte im 9. Jh. und fortan die Bezeichnung regnum Burgundiae
und galt als eines der regna, aus denen das (westfränkische)
Reich KARLS DES KAHLEN bestand. So
blieb an ihm der Name Burgundia (frz. Bourgogne) bis heute haften. Im Anschluß
an die sich dort ausbildende herzogliche Gewalt sprach man erst später
vom ducatus Burgundiae, duché de Bourgogne (Burgund,
Herzogtum).
Im Osten entstand 855 bei der Teilung des Reiches LOTHARS
I. für dessen jüngsten Sohn Karl
ein regnum Provinciae, zu dem außer der Provence der Dukat
Lyon (ducatus Lugdunensis mit Vienne) gehörte. Dieses Königreich
lebte auch nach Karls Tod (863) als
polit. Gebilde fort und bildete den Kern der Gebiete, die 879 unter Lösung
vom westfränkischen Reich den Nicht-KAROLINGER
Boso zum König erhoben. Bosos
offensichtlich, wenn auch gescheiterter Versuch, das ganze einstige fränkische
Teilreich Burgund in seiner Hand zu vereinen, unterstreicht die Kraft des
mit »Burgund« bezeichneten historisch-politisch-geographischen
Kontinuums. Das nach Bosos Untergang
unter seinem Sohn LUDWIG DEM BLINDEN wiederhergestellte
Königreich Provence ist schließlich an die welfischen
RUDOLFINGER gefallen, eine Dynastie, die durch die Erhebung
Rudolfs
I. zum König (888) im Nordosten des einstigen Teilreichs
Burgund zur Macht gekommen war, zunächst Lotharingien an sich bringen
wollte, sich dann mit dem Gebiet beiderseits des Schweizer Jura (regnum
Jurense) bescheiden mußte und erst mit ottonischer
Hilfe alle dem Mittelreich von 843 angehörenden Teile des fränkischen
Teilreichs Burgund unter sich vereinen konnte. Fortdauer und geographische
Ausweitung des Burgund-Begriffs im fränkischen Teilreich erklären,
zusammen mit den karolingischen Teilungen,
warum der Name Burgund an zahlreichen Gegenden haften blieb.
Die historische Bedeutung des Teilreichs war auch auf
dem kulturellen (Mittlerstellung zwischen Gallien und Germanien einerseits,
Italien/Provence und Nord-Gallien andererseits) und namentlich auf dem
kirchlichen Sektor beträchtlich, wobei ebenso an die maßgeblichen
Synoden unter Guntram zu denken ist
wie an die Bedeutung von Luxeuil als monastisches Zentrum und Ausgangspunkt
der iro-schottischen Mission im süddeutschen Raum. - Zur archäologischen
Erforschung des fränkischen Teilreiches Burgunds. Burgunder, II, 2.
K.F. Werner