Lexikon des Mittelalters: Band V Spalte 1735
*************************
Lateinisches Kaiserreich
------------------------------
[1] Allgemein. Zur Vorgeschichte
Lateinisches Kaisereich, Bezeichnung für das im eroberten
Konstantinopel und in Teilen des Byzantinischen Reiches errichtete, als
Lehnsverband konstituierte Kaiserreich (1204-1261). Die Einnahme von Konstantinopel
durch die Kreuzfahrer führte das Ende des Byzantinischen Reiches als
große Mittelmeermacht und eine Zerspliterung der romäischen
Ökumene in ein Konglomerat lateinischer und griechischer Staaten herbei,
die sich untereinander bekämpften und in starkem Maße in wirtschaftliche
Abhängigkeit von westlichen Handelsmächten geraten waren.
Ursache und Motive dieses folgenschweren historischen
Geschehens sind begründet in den Entwicklungen und Wandlungen der
letzten Jahrzehnte des 12. Jh., vor allem der Zeit seit dem Tode Kaiser
Manuels I. Komnenos (1180); als wichtige Faktoren der Vorgeschichte
des 4. Kreuzzuges und des Lateinischen Kaiserreiches sind zu nennen:
- das Vordringen der Selguqen unter Qilic
Arslan in Anatolien (Myriokephalon, 1176)
- der Machtzuwachs Bulgariens
- die Annäherung zwischen Papst und Kaiser nach
jahrtzehntelangem, von Byzanz mitbeeinflußten Kampf (Friede von Venedig,
1177) und
- das Heiratsbündnis der STAUFER
mit den sizilischen Normannen (1184/86), wodurch eine tendenziell antibyzantinische
Politik entstand (Verbindung von westlichem Universalismus, normannischem
Expansionismus und päpstlicher Unionsbestrebungen);
- die bereits beim Durchgang der Kreuzfahrer des 3. Kreuzzuges
spürbaren heftigen Spannungen und Ressentiments
- die dynastischen Ansprüche abendländischer
Fürstenhäuser, die mit byzantinischen Dynastien verschwägert
ware, auf den byzantinischen Thron
- die massive Präsenz westlicher Kaufleute, vor
allem der Venezianer, die ihre Privilegien in Byzanz bedroht sahen
Unter diesen Vorzeichen war die traditionell lateinerfeindliche
Politik der KOMNENEN und ANGELOI
problematisch geworden, was in der Polemik zwischen Papst Innozenz
III. und Kaiser Alexios III. Angelos (Briefwechsel
1198-1199) deutlicgh wird.
[2] vom 4. Kreuzzug zur Errichtung des Lateinischen Kaiserreiches
Der von Innozenz III. verkündete 4. Kreuuzug zur
Befreiung des Heiligen Landes wurde vorwiegend von französischen und
flämischen Adligen getragen und geriet wegen unzureichender Finazierung
bald unter starken Druck Venedigs, das den Schiffstransport übernommen
hatte und zum mächtigsten Gläubiger der Kreuzfahrer geworden
war. Die politische Lenkung des Kreuzzuges entglitt allmählich den
Händen des Papstes, zumal der Tod des anfänglichen Kreuzzugsführers,
des Grafen Tedbald von Champagne, die kaiserfreundlichen ghibellinische
Gruppierung im Kreuzheer hatte die Oberhand gewinnen lassen (Bonifaz
I. von Montferrat). Nachdem die Kreuzfahrer auf Betreiben Venedigs
Zadar (Zara) erobert hatten, begab sich der byzantinische
Thrpnprätendent Alexios Angelos, der Sohn des von
Alexios III. im Zuge dynastischer Konflikte abgesetzten Kaisers
Isaak II., 1202 zu ihnen. Er war 1201 auf einem pisanischen
Schiff in den Westen geflohen und von seinem Schwager PHILIPP
VON SCHWABEN an Innozenz III. weiterverwiesen worden, der angesichts
der ghibellinischen Allianz des Prinzen von offener Unterstützung
absah, diesen aber als Druckmittel gegen den regierenden Kaiser
Alexios III., den er für die Kirchenunion gefügig
machen wollte, einsetzte. Prinz Alexios
erhielt die Gelegenheit, die Kreuzfahrer in Zadar zur Intervention gegen
Alexios III. aufzurufen; als Gegenleistung bot er 200.000 Silbermark,
die Kirchenunion sowie langfristige byzantinische Militär- und Finanzhilfe
im Königreich Jerusalem an und konnte so die Mehrheit der Kreuzfahrer
für den Zug gegen Konstantinopel gewinnen.
Trotz päpstlichen Verbotes und Bannes rückten
die Kreuzfahrer gegen Konstantinopel vor (5. Juli 1203), eroberten die
Stadt (17. Juli 1203) und ermöglichten sodie Wiedereinsetzung Isaaks
II. und Alexios' IV. (Krönung:
1. August 1203). Nicht in der Lage, die vereinbarte Summe zu zahlen, bewog
Alexios IV. die Kreuzfahrer zur Verlängerung
ihres Aufenthaltes in Byzanz (in Galata). Er suchte nun Annäherung
an die anfänglich feindlich gesonnene byzantinische Aristokratie,
wurde aber im Januar 1204 von einem Aufstand unter Führung des antilateinischen
Generals Alexios V. Dukas beseitigt.
Als die Lateiner von der neuen Regierung für ihren Abzug 90.000 Silbermark
und Privilegien, die als unannehmbar betrachtet wurden, forderten, kam
es zum offenen Konflikt. Im März 1204 beschhlossen die Führer
des Kreuzzugs die Gründung eines Kaiserreiches im Herzen des byzantinischen
Staates. Zum Kaiser wurde Balduin von Flandern,
zum Patriarchen Tomaso Morosini gewählt. Die Aufteilung der
zu erobernden byzantinischen Gebiete in Lehen ("Partitio") wurde unter
sorgfältiger Beachtung des militärischen Gleichgewichts vorgenommen
(ein Fünftel für den Kaiser, der Rest für Venedig und die
von Bonifaz von Montferrat geführten
franko-lombardische Kreuzfahrer). Sämtliche mit Lehen bedachten Kreuzfahrer
(mit Ausnahme des Dogen, der Feusdatare benannte) leisteten dem Kaiser
den Lehnseid.
Am 12. April 1204 wurde Konstantinopel von den Kreuzfahrern
eingenommen und in furchtbarer Weise geplündert; aus der Beute zahlten
die Kreuzfahrer den Venezianern die Schulden zurück. Um Lehnsherrschaften
einrichten zu können, mußten die Eroberer, die bereits teilweise
über das Kron- und Fiskalgut verfügten, auch einen Teil des Kirchengutes
konfiszieren und die öffentlichen Einkünfte und Abgaben aufteilen.
Die Einahmen aus öffentlichen Rechten und Abgaben wurden zu einem
Viertel dem Kaiser zugewiesen, der Rest je zur Hälfte unter Venezianern
und Franko-Lombarden aufgeteilt.
Die Innen- und Außenpolitik war durch die enge
Bindung an die Interessen Venedigs eingeschränkt; ihm war um Vertrag
vom März 1204 Anerkennung der bestehenden Handelsprivilegien und Schließung
der Grenzen gegenüber allen Feinden Venedigs eingeräumt worden.
Bei der Kaiserwahl, an der die Venezianer bestimmenden Anteil hatten, war
Balduin (gegen
Bonifaz von Montferrat) als militärisch stärker, aber
nur wenig mit den politischen Verhältnissen des Ostens vertrauter
Kandidat gewählt worden; damit sollte auch der Aufbau einer starken
Zentralgewalt verhindert werden.
[3] Das Lateinische Kaiserreich und seine Gegner
Der Verlauf des Eroberungsfeldzuges dämpfte die Erwartungen
der Kreuzfahrer. Venedig hatte nicht genügend Truppen, um das gesamte
Gebiet, das es sich hatte zuweisen lassen, erobern zu können und griff
daher auf Privatinitiativen seines Adels zurück (Ägäische
Inseln). Die Peloponnes dagegen wurde von Geoffroy de Villehardouin
erobert.
Dem Vormarsch des Lateinischen Kaiserreiches trat nicht
nur Bulgarien, das seine eigene Expansion bedroht sah, entgegen, sondern
es bildeten sich rasch mehrer regionale byzantinische "Nachfolgestaaten"
(Epiros, Nikaia, Trapezunt). Die lateinischen Kreuzfahrerstaaten,
zumeist beherrscht von französischen oder venezianischen Adligen,
waren nicht in der Lage, dem Vordringen der Bulgaren (1205-1207),
der Türken und der neu konsolidierten byzantinischen Regionalstaaten
wirksam entgegenzutreten.
Venedig, dessen Gebiete - mit Ausnahme Kretas - unter
der formalen Oberhoheit des Kaisers standen, beherrschte durch seine Finanzmacht,
Kreditpolitik und Schiffskontingente den ganzen Bereich des Lateinischen
Kaiswerreiches, das vor allem die größeren Inseln (Ionische
Inseln, Negroponte/Euböa, Kreta, Kykladen), aber auch eine Reihe wichtiger
Häfen in der Peloponnes, Mittel- und N-Griechenland umfaßte
und - neben dem Territorialstaat Morea - den Untergang des Lateinischen
Kaiserreiches überdauern sollte.
[4] Der Aufstieg Nikaais und das Ende des Lateinischen Kaiserreiches
Schien der Aufstieg des Kaiserreiches von Nikaia zunächst im Zeichen einer politischen Neuorientierung auf Kleinasien zu stehen (Sieg über die Selqugen von Rum, 1210-1214), so trat angesichts der Schwäche des Lateinischen Kaiserreiches das Ziel der Rückeroberung Konstantinopels in den Vordergrund. Hierauf richtete sich aber auch die Expansion der Fürsten von Epiros (1224 Kaiserkrönung, Thessalonike), die aber durch den Sieg der Bulgaren (Klokotnica, 1230) bald gebrochen wurde. 1241 entriß der Kaiser von Nikaia den Bulgaren Makedonien und Thrakien. Nach dem Sieg Nikaias über den Despoten von Epiros und seinen Verbündeten, Geoffroy de Vilelhardouin, bei Pelagonia (1259) war der Weg zur Einnahme Konstantinopels frei. Am 15. August 1261 zog Michael VIII. Palaiologos in die infolge der langen Kriegsjahre verarmten Hauptstadt ein. Hatten die Genuesen, die auf Brechung des venezianischen Handelsmonopols bedacht waren, den PALAIOLOGEN durch gezielte Flottenhilfe unterstützt, so kam auch der Wiederaufschwung des Handels nicht den Byzantinern, sondern den mächtigen italienischen Seestädten zugute (byzantinisch-genuesischer Vertrag von Nauplion, 1261; Übertragung Galatas an Genua usw.).
[5] Das Verhältnis zwischen Lateinern und Byzantinern
Das Wirtschaftssystem und der Verwaltungsapparat der italienischen
Seestädte steigerten den Haß der Griechen, die auch die Errichtung
einer katholischen Hierarchie mit landfremden westlichen Bischöfen
ablehnten. Die wirtschaftliche Ausbeutung des Landes im Zeichen einer erten,
von Italien ausgehenden "Kolonialisierung" führte unter anderem zur
Entstehung von Monikulturen (Getreide, Seide, Wein in Mrea, Zuckerrohr
auf Zypern und Kreta), gestützt auf ein (im Abendland in dieser Form
bereits überlebtes) feudales Latifundiensystem, das auch von den griechischen
Großgrundbesitzern verstärkt übernommen wurde. Nach den
Erfahrungen der Aufständ ekretischer 'Archonten' (13.-14. Jh.) betrieb
Venedig ein für seine Herrschaft vorteilhafte Eingliederung der lokalen
Aristokratie in die venezianische Nobilität.Der venezianische "Merkantilismus"
(Monopolisierung des Fernhandels, Anpassung der lokalen Produktion an den
internationalen Markt) eröffnete den griechischen Großgrundbesitzern
zwar zunächst Absatzmärkte für ihre Produkte (Getreide,
Salz), wurde aaber zunehmend mißliebig und trug - gemeinsam mit der
Ablehnung der römisch-katholischen Kirche - dazu bei, daß Teile
der griechischen Bevölkerung den türkischen Eroberen, die den
unteren Schichten religiöse Autonomie gewährten, zuneigten.
Die Dezentralisierung des Verwaltungsapparates seit 1204
ließ andererseits neben Konstantinopel erstmals neue politrische
und kulturelle Zentren entstehen (unter anderem Adrianopel, Thessalonike,
Ioannina, Monemvasia), deren mittlere und untere Schichten einen gewissen
Aufstieg erlebten. Im Zuge dieses Prozesses trat eine "hellenische" Identität,
die bislang durch das supranationale Konzept der "Romania" überlagert
wordenw ar, verstärkt an die Stelle des alten "romäischen" Selbstverständnisses
der Byzantiner.
Balduin I. von Flandern | 16.5.1204-1205 |
Heinrich I. | 1206-1216 |
Peter von Cortenay-Auxerre | 1217 |
Jolanthe Regentin | 1217-1219 |
Robert von Courtenay-Auxerre | 1219-1228 |
Balduin II. | 1228-1261 |
Johann von Brienne | 1231-1237 |
Norwich John Julius: Band III Seite 218-248
****************
"Byzanz. Der Aufstieg des oströmischen Reiches."
Neben Doge Dandolo, der sich jetzt stolz "Herr eines Viertels
und eines halben Viertels des Römischen Reichs" nannte, gab Kaiser
Balduin eine beklagenswerte Figur ab. Da weitere drei Achtel
des Reichs als kaiserliche Lehen an die fränkische Ritterschaft verteilt
worden waren, blieb ihm gerade noch ein Viertel des Territoriums, über
das seine unmittelbaren Vorgänger geherrscht hatten. In der Hauptsache
handelte es sich um Thrakien - allerdings ohne die wichtige, an Venedig
gefallene Stadt Adrianopel - und den Nordwesten Kleinasiens sowie einige
Inseln in der Ägäis wie Lesbos, Samos und Chios. Doch selbst
dieses drastisch verkleinerte Patrimonium war umkämpft. Vor allem
Bonifaz
von Montferrat, der sich des Thrones allzu sicher gewesen und
wütend darüber war, dass man ihn übergangen hatte, schlug
die anatolischen Ländereien, die ihm angeboten wurden, zornig aus
und nahm sich statt dessen Thessalonike; er machte die Stadt zum Sitz eines
Königreichs, welches große Teile Makedoniens und Thessaliens
umfaßte. Irgendwie gelang es ihm auch, die Oberherrschaft über
die kleinen fränkischen Herrscher zu gewinnen, die sich im Süden
aufgeschwungen hatten, namentlich über den Burgunder Otto de la
Roche in Böotien und Attika (dem sogenannten Herzogtum Athen)
sowie den Franzosen Wilhelm von Champlitte auf dem Peloponnes, auf
den schon bald das Haus VILLEHARDOUIN folgen sollte.
Es versteht sich beinahe von selbst, dass die neuen Herrscher
in den ehemaligen byzantinischen Gebieten durchweg verhaßt waren.
Ökonomisch fanden keine großen Umwälzungen statt. Abgesehen
davon, dass die Steuern künftig an eine lateinische Grundbesitzerfamilie
statt eine griechische gezahlt wurden, gestaltete sich das provinzielle
und ländliche Leben beinahe so wie eh und je. Was Moral und Gesinnung
betraf, hatte sich das Klima jedoch vollkommen verändert. Die fränkischen
Feudalherren gebärdeten sich tyrannisch und arrogant, und sie machten
aus ihrer Verachtung für die Menschen, die sie nicht nur für
unterworfen, sondern auch für minderwertig hielten, keinen Hehl; außerdem
setzten sie als unbeugsame Bewahrer der römischen Kirche den lateinischen
Ritus überall durch, wo es eben möglich war. Die arme Landbevölkerung
konnte dagegen nichts ausrichten. Mürrisch, widerwillig und mit Bitterkeit
im Herzen schickte sie sich in das Unvermeidliche. Der Adel dagegen zeigte
sich längst nicht so unterwürfig. Viele griechische Adlige verließen
angewidert das Land ihrer Vorfahren und zogen in einen der Nachfolgestaaten
von Byzanz, wo der nationale Geist und der orthodoxe Glaube noch lebendig
waren.
Als dieses schlimme Jahr sich dann dem Ende zuneigte,
überquerte zudem ein von Balduin,
dessen Bruder Heinrich und Graf
Ludwig von Blois geführtes Frankenheer den Bosporus und durchstreifte
Kleinasien. Zwar hatte sich Theodor
verpflichtet, außer der Verwaltung auch das Heer wiederaufzubauen,
doch war dieses zu dem Zeitpunkt noch völlig unvorbereitet. Am 6.
Dezember 1204 erlitt es bei Poimanenon (heute vermutlich Eski Manyas),
etwa 60 Kilometer südlich des Marmarameeres, denn auch eine vernichtende
Niederlage, und die Franken erhielten dadurch die Kontrolle über die
gesamte Küstenregion Bithyniens bis nach Brussa (Bursa). Wären
sie nur 100 Kilometer weiter bis Nikäa marschiert, hätten sie
Theodors
Kaiserreich vielleicht schon kurz nach seiner Entstehung vernichtet. Er
hatte jedoch Glück, denn sie mußten ihren Feldzug wegen einer
bedrohlichen Balkankrise überstürzt abbrechen.
Nun sollte Balduins
Arroganz sich rächen. Die griechischen Landbesitzerfamilien in Thrakien,
die vorerst bereit gewesen waren, die fränkische Oberherrschaft zu
akzeptieren, fühlten sich inzwischen als Menschen zweiter Klasse.
Sie rebelierten, konnten sich der Hilfe des Bulgaren-Zars
Kalojan versichern und boten ihm die Kaiserkrone für den
Fall an, dass er die Lateiner aus Konstantinopel vertreibe. Nichts konnte
Kalojan
gelegener kommen. Zu Anfang des Jahres 1204 war er zwar von einem Gesandten
Innozenz' III. bereits zum König (jedoch nicht zum Kaiser) gekrönt
worden und hatte die römische Oberhoheit anerkannt, doch hatte dies
seine Besorgnis über die Ausweitung des lateinischen Machtbereichs
auf die gesamte Halbinsel nicht vermindert. Ihm lag ebensoviel daran wie
der byzantinischen Bevölkerung, das Land von der Kreuzfahrerpest zu
befreien. Zu Beginn des Jahres 1205 marschierten die Zarentruppen los;
am 14. April vernichteten sie das fränkische Heer vor Adrianopel.
Ludwig von Blois kam um, Balduin
geriet in Gefangenschaft; er starb kurze Zeit später, ohne die Freiheit
wiedererlangt zu haben. So war schon ein Jahr nach dem Fall Konstantinopels
die lateinische Macht wieder gebrochen. In Kleinasien blieb einzig die
Kleinstadt Pegae (Karabiga) an der Südküste des Marmarameers
in fränkischer Hand.
Nun gab es also zwei Ostkaiser und zwei Patriarchen:
je einen lateinischen in Konstantinopel und einen griechischen in Nikäa.
Frieden konnte zwischen ihnen nicht herrschen, denn der eine wie der andere
war entschlossen, seinen Konkurrenten aus dem Weg zu schaffen. Balduins
Bruder und Nachfolger Heinrich von Hainault
hatte zwar in den ersten anderthalb Jahren seiner Regierungszeit alle Hände
voll mit dem Bulgaren-Zar Kalojan zu
tun, der im Sommer 1206 mit seinem Heer Adrianopel geplündert, den
größten Teil Thrakiens angegriffen hatte und bis vor die Mauern
Konstantinopels marschiert war, doch dann fiel dieser am 26. Oktober 1207
mitten in den Vorbereitungen zur Belagerung von Thessaionike dem Mordanschlag
eines kumanischen Stammesführers zum Opfer, so dass
Heinrich den Druck auf seinen Erzfeind verstärken konnte.
Er setzte sich indes nicht sogleich in Marsch, da er sich wie Theodor
zunächst
mit dem Aufbau einer Regierungs- und Verwaltungsordnung beschäftigen
mußte. 1209 überwand er dann - mit einiger Mühe - seine
Kreuzfahrerskrupel und schloß ein Militärbündnis mit dem
Seldschuken-Sultan
Kaichosrau von lkonion, der im Heranwachsen eines neuen griechischen
Staates im westlichen Kleinasien ebenfalls eine Provokation und Bedrohung
sah.
Kaichosrau, in dessen
Streitmacht jetzt auch ein fränkisches Kontingent kämpfte, war
schon im Begriff, gegen Nikäa zu Feld zu ziehen, als ein unerwarteter
Besucher bei ihm vorsprach: Ex-Kaiser Alexios
III. Dieser war gegen Ende des Jahres 1204 Bonifaz
in die Hände gefallen und hatte danach in dessen Burg Montferrat
etliche
Jahre als Gefangener zugebracht. 1209 oder 1210 war er jedoch von seinem
Vetter Michael, dem Despoten von Epiros,
ausgelöst worden und hatte sich in der leisen Hoffnung auf den Weg
nach lkonion gemacht, der Sultan würde ihm wieder zu seinem Thron
verhelfen. Dass Kaichosrau im Augenblick
nicht das geringste Interesse daran hatte, den griechischen Kaiser wieder
einzusetzen, sondern ihn vielmehr gänzlich zu verderben trachtete,
verdient kaum der Erwähnung. Aber er begriff auf der Stelle, dass
Alexios
im diplomatischen Spiel für ihn ein brauchbares Pfand darstellte,
bot er ihm doch die Möglichkeit, als Anwalt eines legitimen Herrschers
gegen einen usurpatorischen Emporkömmling aufzutreten. So marschierte
er mit seinen Truppen im Frühjahr 1211 mit dem vorgeschobenen Ziel,
Theodor
zu
stürzen und durch Alexios zu ersetzen,
in das Reichsgebiet von Nikäa ein. Da die beiden Streitmächte,
deren Kern jeweils ein Kontingent lateinischer Söldner bildete, etwa
gleich stark waren, kam es zu mehreren verbissen ausgetragenen Kämpfen,
die aber keine Entscheidung brachten. Zum letztenmal schlug man sich am
Mäander in der Nähe von Antiochia; dabei wurde Kaichosrau
I. vom Pferd gestoßen und getötet - wenn man griechischen
Quellen glauben darf, von Kaiser Theodor persönlich
im Zweikampf. Daraufhin suchte sein Seldschukenheer das Heil in der Flucht.
Alexios III. geriet in Gefangenschaft und verschwand bis zum
Ende seines Lebens in einem Kloster.
Dieser Sieg trug Theodor zwar
kaum territorialen Gewinn ein, beseitigte aber seinen letzten griechischen
Rivalen und entlastete ihn, da Kaichosraus Nachfolger
Kaikawus
sich von Anfang an verhandlungsbereit zeigte, zumindest vorübergehend
von der seldschukischen Bedrohung. Er konnte sich militärisch nun
ganz auf die Kreuzfahrer konzentrieren. Bei diesem Gegner war ihm indes
weniger Erfolg beschieden. Am 15. Oktober 1211 erlitt sein Heer am Rhyndakos
(Fluß) erneut eine Niederlage gegen Heinrich
von Hainault, dessen Streitmacht anschließend gegen Pergamon
und Nymphaion marschierte. Doch vermochte die lateinische Seite, mittlerweile
von Bulgarien im Hintergrund einmal mehr hart bedrängt, aus ihrem
Vorteil keinen Profit zu ziehen. Ende 1214 schlossen die rivalisierenden
Kaiser den Friedensvertrag von Nymphaion; danach sollte Heinrich
die Nordwestküste Kleinasiens bis Adrarnyttion (heute Edremit) im
Süden behalten und das übrige Gebiet bis zur seldschukischen
Grenze, einschließlich des gerade von den lateinischen Truppen eroberten
Territoriums, an Theodor
fallen.
Mit diesem Vertrag begann die Blütezeit Nikäas.
Endlich machten die Kreuzfahrer dem jungen Reich die Existenz ganz offiziell
nicht mehr streitig. Außerdem war die Westgrenze jetzt genauso sicher
wie die zum Osten hin. Fast gleichzeitig setzte der Niedergang des Lateinischen
Reiches ein. Der verwitwete Kaiser Heinrich wurde
gegen seine Überzeugung zu einer dynastischen Heirat mit einer bulgarischen
Prinzessin gezwungen und dadurch in das unentwirrbare Labyrinth der
Balkanpolitik verstrickt. Am 11. Juni 1216 starb er plötzlich
im Alter von erst 40 Jahren in Thessalonike. Als weitaus fähigster
der lateinischen Herrscher von Konstantinopel hatte er in knapp 10 Jahren
einen hoffnungslosen Fall in ein funktionierendes Staatsgebilde umgewandelt,
im Unterschied zu seinem unerträglichen Bruder Balduin
die Rechte und Religion seiner griechischen Untertanen respektiert und
sogar einen Ausgleich mit Nikäa zuwege gebracht. Hätten seine
Nachfolger auch nur über einen Bruchteil seiner Fähigkeiten verfügt,
wäre wohl nie wieder ein griechischer Kaiser auf den Thron gelangt.
Heinrich von Hainault
hatte zwar zwei Ehefrauen gehabt, war aber kinderlos gestorben. So wählten
die fränkischen Adligen in Konstantinopel den Mann seiner Schwester
Jolante,
seinen Schwager Peter von Courtenay,
zum Nachfolger. Der noch in Frankreich weilende Thronfolger brach in den
ersten Wochen des Jahres 1217 nach Osten auf. Er hatte gehofft, in Rom
von Papst Honorius III. in aller Form zum Kaiser gekrönt zu werden,
und machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl, als der Papst aus
Furcht, Peter könnte auch noch
Ansprüche auf die Krone des Westreichs erheben, falls die Zeremonie
im Petersdom stattfände, darauf beharrte, diese in San Lorenzo vor
der Stadtmauer durchzuführen. Ein oder zwei Wochen später setzte
Peter
in Begleitung einer venezianischen Flotte und eines 5.500 Mann starken
Heers nach Durazzo über, mit dem Ziel, die Stadt aus der Hand TheodorDukas',
des Despoten von Epiros, zurückzuerobem. Doch das Unternehmen endete
in einem Fiasko. Durazzo erwies sich als uneinnehmbar, und Peter
wurde mitsamt einem Großteil seiner Leute in den albanischen Bergen
gefangengenommen. Man warf ihn in ein Verlies in Epiros und hörte
nie wieder etwas von ihm.
Kaiserin Jolante,
die in weiser Voraussicht mit ihren Kindern den Seeweg gewählt hatte,
gelangte ohne Zwischenfall nach Konstantinopel; dort brachte sie kurz darauf
einen Sohn namens Balduin zur Welt.
Ihr Erstgeborener, der Markgraf Philipp von Namur,
hatte sich kategorisch geweigert, mit ihr in den Osten zu ziehen, und so
regierte sie bis zu ihrem Tod im Jahre 1219. Sie führte die Versöhnungspolitik
ihres Bruders mit Nikäa fort und bekräftigte sie, indem sie ihre
Tochter Maria mit Theodor
Laskaris als dritter Ehefrau verheiratete. Diese Neuigkeit wurde
in Epiros mit Entsetzen aufgenommen. Theodor Dukas,
der sich mit der Gefangennahme - und möglicherweise Ermordung - Peters
von Courtenay nicht zufriedengeben wollte, zeigte sich immer
weniger geneigt, Theodor Laskaris als
den rechtmäßigen Basileus anzuerkennen.
Dukas' Stern ging
schnell auf. Moralisch war seine Position allerdings zwielichtig, da er
die ersten fünf Jahre nach dem Fall Konstantinopels mit
Theodor I. Laskaris auf nikäischem Reichsgebiet verbracht
und ihm nach der Kaiserkrönung einen Treueeid geleistet hatte. Schließlich
hatte er sich erst auf dessen dringendes Ersuchen hin mit seinem Bruder
Michael
in
Arta zusammengetan. Seitdem hatte sich die Situation völlig verändert.
Im Friedensvertrag von 1214 zwischen Nikäa und den Franken sah TheodorDukaseinen
unverzeihlichen Verrat. Das weitere Handeln des Kaisers, der seine Zeit
überwiegend auf den Kampf gegen das Reich von Trapezunt verwendet
hatte, statt auf die Wiedereroberung Konstantinopels hinzuarbeiten, hatte
Dukas'
Loyalität
aufs äußerste strapaziert. Die Vermählung der lateinischen
Prinzessin mit Theodor I. Laskaris
brachte das Faß schließlich zum Überlaufen.
So lautete jedenfalls die offizielle Version. In Wirklichkeit
war es längst nicht so kompliziert. Theodor
Dukas wollte sich schlicht und einfach nicht mit dem Despotat
Epiros begnügen. Im Unterschied zu seinem unehelichen Bruder war
er der rechtmäßige Sohn Sebastokrator
Johannes Angelos Dukas' und Enkel Kaiser
Alexios' I. Komnenos. Da also das Blut der Familien
KOMNENOS, ANGELOS und DUKAS
in seinen Adern floß - er betonte dies, indem er sich immer mit allen
drei Namen nannte -, konnte er den Kaiserthron also mit viel mehr Recht
beanspruchen als Theodor Laskaris.
Sein Ehrgeiz richtete sich erst einmal auf Thessalonike. Doch war dies
nur die zweite Stadt im Reich, und so stellte ihre Einnahme für Theodor
Angelos Dukas Komnenos nur den ersten Schritt auf das eigentliche
Ziel dar: Konstantinopel.
Thessalonike hatte keine guten Zeiten mehr erlebt, seit
sich Bonifaz von Montferrat nach dem
4. Kreuzzug dort festgesetzt hatte. Er selbst war 1207 im Kampf gegen Bulgarien
gefallen, und seitdem regierte seine Witwe das Königreich an der Stelle
ihres Sohnes Demetrios. Die Rückkehr
vieler Ritter in ihre Heimatländer hatte das Land zusätzlich
geschwächt. Obwohl immer noch wichtigster Vasall des Lateinischen
Reichs, konnte es sich zudem seit der Regentschaft Kaiserin
Jolantes nicht mehr so fest auf die Unterstützung durch
Konstantinopel verlassen wie zur Zeit Heinrichs
von Hainault. Als Theodor Dukas 1218
in Thessalien und Makedonien einmarschierte, lief Thessalonikes Zeit als
unabhängiger Kreuzfahrerstaat ab. Der Despot traf jedoch auf erbitterten
Widerstand; die Stadt fiel erst im Herbst 1224 nach einer langen, mühseligen
Belagerung. Mit ihr fiel auch das lateinische Königreich. Theodor
war
nun alleiniger Oberherr über das Gebiet zwischen Adria und Ägäis,
welches Epiros, Ätolien, Arkanien, Thessalien und fast ganz Makedonien
umfaßte. Kurze Zeit später - der genaue Zeitpunkt ist nicht
bekannt - wurde er, in offener Auflehnung gegen Kaiser
Theodor Laskaris, vom Bischof von Ochrid (der mit dem Patriarchen
von Nikäa in Fehde lag) zum Römischen Kaiser gekrönt.
Hatte noch gut eine Generation zuvor nur ein einziges
Reich exi stiert, so gab es jetzt deren drei: zwei griechische und ein
lateinisches; das vierte lauerte drohend in nicht allzu weiter Ferne, denn
das Zweite Bulgarische Reich wurde immer mächtiger. Zar
Kalojan hatte den 4. Kreuzzug und das anschließende Durcheinander
auf dem Balkan genutzt, um seine Herrschaft auf Teile Thrakiens und
Makedoniens auszudehnen. Sein Neffe Boril war
dagegen vom Glück weniger begünstigt gewesen; sein Vetter Johannes
II. Asen hatte ihn 1218 gestürzt und geblendet. Johannes
hatte es ebenfalls auf Konstantinopel abgesehen. Das Lateinische Reich
war von den vier Mächten das schwächste, besonders seit es 1225
auf das Gebiet unmittelbar im Norden und Westen Konstantinopels und einen
schmalen Landstreifen in Kleinasien südlich des Marmarameers begrenzt
war. Kaiserin Jolante war 1219 gestorben;
ihr Sohn Robert, der ihr auf den Thron
folgte, war ein schwacher, kraftloser Junge - ein glaubwürdiger Zeuge
namens Aubrey von Trois-Fontaines beschreibt ihn als quasi rudis et idiota
(unerfahren und stümperhaft) - und weder Theodor
noch
Johannes
Asen oder Johannes Vatatzes
(der inzwischen das Reich von Nikäa von seinem Schwiegervater Theodor
I. Laskaris geerbt hatte) auch nur annähernd gewachsen.
Theodor I. Laskaris war
ein fähiger Herrscher gewesen, der mehr geleistet hat, als man 1205
für möglich gehalten hätte. Er hinterließ keine Söhne,
und die Wahl Johannes Vatatzes', des
Mannes seiner älteren Tochter Irene,
zum Nachfolger schien eine reine Formalität. Doch seine beiden noch
lebenden Brüder waren nicht einverstanden; sie begaben sich sogleich
nach Konstantinopel und überredeten den jungen Kaiser
Robert, zu ihren Gunsten militärisch einzugreifen. Robert
ließ
sich in der ihm eigenen Dummheit darauf ein. Er erreichte nichts, als dass
sein Heer von Vatatzes' Truppen bei
Poimanenon aufgerieben wurde. Theodor I. Laskaris
hatte dort etwa 20 Jahre zuvor eine ähnliche, wenn auch längst
nicht so vernichtende Niederlage durch ein lateinisches Heer erlitten.
Robert
hatte
sich noch nicht von diesem Schlag erholt, als ein paar Monate später
die Nachricht von der Eroberung Thessalonikes eintraf. Das gab ihm den
Rest. Fortan überließ er sich den Freuden des Lebens, machte
sich unterschiedslos an griechische wie an fränkische Frauen heran,
raubte, was in Kirchen und Klöstern an Schätzen noch übrig
war, und versuchte kaum noch die Reste seines Reichs zu regieren. Schließlich
ließ er sich von der Tochter eines französischen Ritters aus
dem niederen Adel betören, der in der Schlacht von Adrianopel gefallen
war. Die beiden heirateten heimlich, und sie zog im Blachernenpalast ein.
Das ging nun aber seinen Gefolgsleuten entschieden zu weit. Eines Nachts
stürmten sie ins kaiserliche Schlafgemach und schlitzten der armen
Frau Nase und Lippen auf, so dass man sie kaum noch erkennen konnte. Dann
ergriffen sie ihre Mutter und ertränkten sie. Charakteristischerweise
unternahm Robert
nichts dagegen, sondern
floh sogleich nach Rom, wo er bei Papst Gregor IX. offiziell Beschwerde
einlegte. Gregor zeigte wenig Verständnis, sondern legte ihm nahe,
nach Konstantinopel zurückzukehren. Er kam jedoch nur bis Clarenza
(Killini) in der Morea, wo er im Januar 1228 starb.
Robert hinterließ
keine legitimen Kinder. Da sein Bruder und Nach-folger Balduin
II. erst 11 Jahre alt war, mußte erneut jemand für
die Regentschaft gefunden werden. Zunächst fiel die Wahl der Adligen
Konstantinopels auf Roberts Schwester
Maria;
sie war nach dem Tod ihres Ehemannes, Kaiser Theodor
Laskaris, in die Hauptstadt zurückgekehrt. Allein, sie
starb bereits nach wenigen Monaten, so dass die Suche von neuem anhob.
Da trat als etwas überraschender Anwärter Johannes
Asen von Bulgarien auf den Plan. Er schlug eine dynastische
Heirat zwischen seiner Tochter Helena
und Balduin vor, wollte das Reich unter
seinen Schutz stellen und alle eroberten Gebiete, einschließlich
Thessalonike, zurückerstatten. Doch die Adligen schlugen dies rundweg
aus und wandten sich statt dessen an den berühmtesten Kreuzfahrer
seiner Zeit: den ehemaligen König von Jerusalem, Anführer des
5. Kreuzzuges und päpstlichen Marschall Johannes
von Brienne.
Die Sache hatte allerdings einen Haken: Der um 1150 geborene
Johannes war mittlerweile fast 80 Jahre alt, wenn auch offenbar
noch ausgesprochen rüstig; zumindest hatte seine 3. Frau Berengaria
von Kastilien eine Tochter
von erst vier Jahren. Gegen seine Laufbahn kam niemand anders auf. 1210
hatte er, bereits im hohen Alter von 60 Jahren, die junge Königin
Maria von Jerusalem geheiratet. Diese starb zwei Jahre später
im Kindbett, woraufhin Johannes die
Regentschaft für seine unmündige TochterIsabellaantrat
und praktisch als König regierte, bis sie 1225
FRIEDRICH II., den Römischen Kaiser des Westens, heiratete.
Unmittelbar nach der Vermählung setzte dieser neue Schwiegersohn ihn
mit der Begründung ab, mit der Heirat Isabellas
habe er keinen gesetzlichen Anspruch mehr auf den Thron. Außer sich
vor Wut floh Johannes nach Rom und
legte Papst Honorius den Fall vor. Honorius zeigte Verständnis für
ihn. Zwar konnte er ihm das Königreich nicht zurückerstatten,
ernannte ihn jedoch zum Statthalter seines toskanischen Patrimoniums. Als
zwei Jahre später Gregor IX. auf den päpstlichen Thron gelangte
und fast gleichzeitig von kaiserlichen Truppen angegriffen wurde, eilte
ihm Johannes sofort zu Hilfe.
Und nun kam also plötzlich und unerwartet die Berufung
nach Konstantinopel. Anfänglich war Johannes
nicht sehr geneigt, dem Ruf zu folgen. Doch als Gregor darauf bestand -
denn hier bot sich schließlich eine einmalige Gelegenheit, den päpstlichen
Einfluß auf das Lateinische Reich zu mehren -, ließ er sich
überreden. Er stellte jedoch mehrere Bedingungen, um seine Zukunft
für die Zeit nach Balduins Volljährigkeit
abzusichern. Der junge Kaiser sollte sofort seine vierjährige Tochter
Maria
heiraten
und diese stattliche Ländereien als Mitgift erhalten; für sich
selbst beanspruchte er für den Rest des Lebens den Titel Basileus;
nach seinem Tod sollte
Balduin ihm
nachfolgen und im Alter von 20 Jahren, falls dann noch nicht zum Kaiser
gekrönt, das Reich von Nikäa und sämtliche fränkischen
Besitzungen in Kleinasien erhalten. Johannes
brach dennoch nicht sogleich nach Konstantinopel auf. Erst Anfang des Jahres
1229 stimmten die Adligen seinen Bedingungen zu. Und bevor er Italien verlassen
konnte, mußte erst noch eine Schlacht gegen den verhaßten Mann
seiner Tochter geschlagen werden. Im Herbst 1231 erschien er endlich am
Goldenen Horn. Wenige Tage später wurde er in der Hagia Sophia zum
Kaiser gekrönt.
Während dieses dreijährigen lnterregnums hatten
sich jedoch die Machtverhältnisse auf dem Balkan grundlegend verändert.
Kaiser Theodor Dukas von Epiros, der in seiner Hauptstadt Thessalonike
abwartete, erschien Konstantinopel, wo es zur Zeit nicht einmal einen Regenten
gab, schutzloser denn jemals zuvor. Auf der anderen Seite mußte er
mit Bulgarien rechnen. Vor nur ein, zwei Jahren hatte er mit Zar
Johannes Asen einen Friedensvertrag geschlossen und dieser dem
Lateinischen Reich dessen ungeachtet kurz darauf die Rückgewinnung
Thessalonikes angeboten. Dem Mann war also nicht zu trauen. Wie sollte
er zudem mit einer solchen Bedrohung im Norden sein angestammtes Erbe überhaupt
zurückerobern? Da gab es nur eine Lösung: die bulgarische Gefahr
mußte verschwinden. Und so überschritt Theodor
Dukas zu Beginn des Frühjahrs 1230 mit seinem Heer die
Grenze. Johannes Asen spielte die empörte
Unschuld und zog den Eindringlingen mit dem Text des Friedensvertrags auf
den Standarten entgegen. Im April 1230 kam es an der Maritza, in der Nähe
der zwischen Adrianopel und Philippopel gelegenen Ortschaft Klokotnika,
zur Schlacht. Sie dauerte nicht lange. Trotz seiner Kühnheit und seiner
Selbstsicherheit und obwohl die Kette seiner Siege niemals abgerissen war,
mußte Theodor
erkennen, dass
er seinen Meister gefunden hatte. Sein Heer wurde geschlagen, er selbst
geriet in Gefangenschaft. Sein Bruder Manuel
durfte zwar in Thessalonike bleiben und weiterhin den Titel Despot führen,
aber nur weil eine Tochter Asens ihn
zum Manne nahm. Manuel fuhr - zur großen
Erheiterung Johannes Vatatzes' und
seiner nikäischen Untertanen - fort, seine Dekrete mit der Kaisern
vorbehaltenen roten Tinte zu unterzeichnen. Abgesehen davon war er offensichtlich
eine Marionette seines Schwiegervaters und gab sich wenig Mühe, etwas
anderes darzustellen. Das Lateinische Reich war vor dem sicheren Untergang
verschont geblieben, und zwar durch ein Volk, dem man unlängst die
kalte Schulter gezeigt hatte. Die Dankbarkeit, die man dort verspürt
haben dürfte, wurde jedoch dadurch getrübt, dass man mit Entsetzen
mitansehen mußte, wie Johannes Asen mit
seinem Heer, ohne auf Widerstand zu stoßen, durch Thrakien, Makedonien
und Albanien marschierte und sich mühelos
Theodors einstigen Herrschaftsbereich aneignete. Schließlich
gehörte der ganze nördliche Balkan von der Adria bis zum Schwarzen
Meer zu Bulgarien. Eine Inschrift in der Kirche der Vierzig Märtyrer
in Johannes Asens Hauptstadt Trnowo
verzeichnet stolz seine Eroberungen: Er erhob nun Anspruch auf den Titel
eines Herrn über alle Länder zwischen Durazzo und Adrianopel.
Lediglich Konstantinopel und die unmittelbar angrenzenden Städte befanden
sich noch in fränkischer Hand, "und auch diese beugen sich meiner
Herrschaft, denn sie haben keinen Kaiser außer mir und gehorchen
meinem Willen, weil dies Gottes Wille war". Selbst im theoretisch unabhängigen
Serbien vermochte er Theodors Schwiegersohn
Stephan Radoslaw durch Stephan Wladistaw, einen eigenen Schwiegersohn,
zu ersetzen. Der Bulgaren-Zar war jedoch nicht der einzige, der vom Ausgang
der Schlacht an der Maritza bei Klokotnika profitierte. Fern in seinem
Palast in Nymphaion rieb sich im stillen auch Johannes
Vatatzes die Hände. Einen Augenblick hatte es in der Tat
ausgesehen, als könnte Theodor Dukas
ein ernsthafter Rivale werden und Konstantinopel eher an Thessalonike als
an Nikäa fallen. Diese Gefahr war nun ein für allemal gebannt.
Die gänzliche Eliminierung des vierten Streiters
im Kampf um die Oberherrschaft führte unweigerlich zu einer radikalen
Neuorientierung der übrigen drei. Johannes
Asen machte nun den lateinischen Herrschern am Bosporus keinerlei
diplomatische Angebote mehr; er sah nun in Vatatzes
einen weit nützlicheren Bundesgenossen, dies besonders, seit er eine
noch viel weiter reichende Entscheidung ins Auge gefaßt hatte: die
Loslösung von der römischen Kirche. In Bulgarien hatte das westliche
Christentum trotz Kalojans Übertritt
nie richtig Fuß fassen können; die alte byzantinische Tradition
herrschte dort weiter vor. Außerdem ließ sich jeder Angriff
gegen das Lateinische Reich sehr viel leichter rechtfertigen, wenn der
Zar dabei keine Glaubensgenossen angreifen mußte. Ein Streit mit
Papst Gregor bot ihm im Jahre 1232 den Vorwand, auf den er gewartet hatte.
Es kam zum Bruch. Mit der rasch erfolgten Zustimmung des Patriarchen von
Nikäa, dem sich auch jene von Jerusalem, Alexandria und Antiochia
anschlossen, wurde das orthodoxe bulgarische Patriarchat mit Sitz in Trnowo
wieder ins Leben gerufen; drei Jahre später unterzeichnete
Johannes Asen in Gallipoli einen Bündnisventag mit Nikäa,
der in Lampsakos durch die Heirat seiner Tochter Helena
- die Ehe mit Balduin war sieben Jahre
zuvor nicht zustande gekommen - mit JohannesVatatzes'
Sohn
Theodor
II. Laskaris
besiegelt wurde.
Im Spätsommer des Jahres 1235 standen die vereinigten orthodoxen Streitmächte
vor den Mauern von Konstantinopel und belagerten die Stadt zu Wasser und
zu Lande.
Wieder einmal war die lateinische Herrschaft bedroht.
Trotz seines Greisenalters soll Johannes von Brienne
wie ein Tiger für die Verteidigung des Reichs gekämpft haben;
venezianische Schiffe und Soldaten leisteten ihm dabei unschätzbare
Dienste. Als jedoch im darauffolgenden Jahr die Belagerung wieder aufgenommen
wurde, wäre Konstantinopel mit Sicherheit dem Untergang geweiht gewesen,
hätte Zar Johannes Asen, dem eines
Morgens bewußt wurde, dass ein starkes griechisches Reich Bulgarien
weit gefährlicher sein würde als ein erschöpftes lateinisches,
nicht plötzlich einen Sinneswandel durchgemacht. Er ließ die
Belagerung einstellen und schickte sogar eine Gesandtschaft nach Nikäa,
um Kaiserin Helena zurückzuholen.
Im Sommer 1237 ging er noch weiter und erlaubte einer ansehnlich großen
kumanischen Gemeinde, die vor den mongolischen Stämmen in das untere
Donaubecken (Walachei) geflüchtet waren, durch sein Territorium zu
ziehen und in Balduins Dienste zu treten;
Johannes
von Brienne war im vergangenen März im Alter von beinahe
90 Jahren gestorben. Im Herbst desselben Jahres führte
Johannes Asen ein aus Bulgaren, Kumanen und Lateinern bestehendes
Heer gegen Tzurulon, eine Schlüsselfestung Nikäas in Thrakien.
Noch während dieser Belagerung brach das Unheil
herein. Boten brachten die Nachricht, dass Trnowo von einer fürchterlichen
Seuche heimgesucht werde, die bereits die Zarin, einen ihrer Söhne
und den gerade eingesetzten Patriarchen dahingerafft habe. Johannes
Asen erblickte darin ein Gottesurteil. Er gab die Belagerung
(welche die Kumanen und die lateinischen Verbündeten erfolgreich fortsetzten)
auf und schloß Frieden mit Vatatzes;
er bereitete ihm nie wieder Schwierigkeiten. Nach einiger Zeit sah er sich
wieder nach einer Frau um. Es gelang seinem Gefangenen Theodor
Dukas von Thessalonike - den er vor kurzem hatte blenden lassen,
weil dieser sich gegen ihn verschworen hatte -, ihn zu einer Heirat mit
seiner Tochter Irene zu überreden.
Was Johannes Asen sich von einer solchen
Heirat versprach, bleibt etwas unklar; fürTheodor
lagen die Vorteile jedoch auf der Hand. Als Schwiegervater des Zaren kam
er sogleich frei und gelangte unerkannt nach Thessaionike; dort setzte
er seinen Bruder Manuel ab und an seiner
Statt den eigenen Sohn Johannes
auf
den Thron und sprach ihm den Titel Kaiser wieder zu.
Das Jahr 1241 wurde zum Schicksalsjahr in der Geschichte
der rivalisierenden Reiche. Noch bevor es sich dem Ende zuneigte, lagen
drei Protagonisten im endlosen Kampf um Konstantinopel im Grab: Johannes
Asen von Bulgarien, Manuel von Thessalonike
und
Papst Gregor IX., ein gewaltiger und standhafter Kämpfer für
das Lateinische Reich. Von noch größerer Bedeutung war jedoch,
dass im gleichen Jahr die mongolischen Stämme unter ihrem Führer
Batu
Khan durch Mähren und Ungarn ins Donaubecken einfielen.
Dadurch konnte sich Bulgarien keine weiteren Abenteuer im Osten mehr leisten,
und damit verschwand eine weitere einst furchtbare Nation praktisch von
der Bildfläche. Thessalonikes Macht war schon bei Klokotnika zerbrochen.
Das Lateinische Reich, nach und nach so geschrumpft, dass es sich schließlich
fast auf Konstantinopel beschränkte, hatte einzig aufgrund der Uneinigkeit
der ihm feindlich gesinnten Mächte überlebt. Von denen aber war
nur noch eine übrig: das Reich von Nikäa, dessen Herrscher Johannes
Vatatzes mit wachsender Zuversicht die Rückeroberung der
alten Hauptstadt betrieb.
Zunächst galt es aber noch das Problem Thessalonike
zu lösen. Obwohl dieses sogenannte Reich in militärischer Hinsicht
keine Bedrohung mehr darstellte, erhob es von Rechts wegen weiterhin Ansprüche
auf Konstantinopel, was natürlich nicht toleriert werden konnte. Vatatzes
wußte,
dass Kaiser Johannes von Thessalonike eine
schwache frömmelnde Galionsfigur war, die am liebsten in ein Kloster
eingetreten wäre. Somit lag die eigentliche Macht wieder in den Händen
Theodors,
der trotz seiner Blindheit so ehrgeizig war wie je. Also lud Johannes
Vatatzes gegen Ende des Jahres 1241 Theodor
Dukas als Gast nach Nikäa ein. Der Alte stimmte zu, und
man empfing ihn mit allen Ehren. Erst als er sich verabschieden wollte,
wurde ihm höflich bedeutet, man könne ihn leider nicht ziehen
lassen, und hielt ihn praktisch als Gefangenen fest. Dabei blieb es, bis
Vatatzes
ihn im folgenden Sommer mit einem stattlichen Heer zurück nach Thessalonike
begleitete und dann dort als Unterhändler zum Abschluß eines
Vertrags zu seinem Sohn sandte. Johannes von Thessalonike
begnügte
sich fortan wie schon Manuel vor ihm
mit dem Titel Despot und anerkannte die Oberhoheit von Nikäa.
Während Vatatzes
sich noch in Thessalonike aufhielt, traf die Nachricht ein, mongolische
Verbände seien in seldschukische Gebiete Kleinasiens eingedrungen
und stünden bereits an der Schwelle seines eigenen Herrschaftsgebietes.
Für die nächsten Jahre sah die Situation tatsächlich sehr
düster aus, besonders nach dem Juni 1243, als die Eindringlinge Sultan
Kaichosrau II. in der Schlacht von Kösedag schlugen und
ihn danach für tributpflichtig erklärten. Als Vasall des Sultans
ereilte den Kaiser von Trapezunt ein ganz ähnliches Schicksal; er
mußte dem mongolischen Khan Gefolgschaft schwören. Angesichts
dieser gemeinsamen Bedrohung verbündete sich Vatatzes
mit
Kaichosrau. Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich indes
als unnötig, denn die mongolischen Verbände zogen wieder ab,
ohne nikäisches Gebiet zu berühren; nun aber war
Vatatzes' Position gegenüber seinen Nachbarn so stark wie
noch nie.
1244 konnte er sie noch weiter ausbauen. Kaiserin
Irene, seine erste Frau und Tochter seines Vorgängers Theodor
I. Laskaris, war gestorben. Johannes
heiratete
nun Konstanze, eine natürliche
Tochter FRIEDRICHS II. FRIEDRICH
hatte
nichts gegen seinen entfernten Verwandten Balduin;
da er aber am weitgehend griechisch geprägten Hof zu Palermo aufgewachsen
war, kannte und verstand er die griechische Bevölkerung, beherrschte
ihre Sprache perfekt und zeigte Verständnis für ihr langes Exil
von ihrer rechtmäßigen Hauptstadt. Er freute sich somit über
diese Verbindung. Von der 12-jährigen Konstanze
läßt sich dies kaum behaupten. Sie wurde noch einmal getauft,
diesmal auf den byzantinischen Namen Anna, und dann mit einem Mann vermählt,
der 40 Jahre älter war als sie und dessen schamloses Verhältnis
mit einer ihrer eigenen Hofdamen allgemein bekannt war. Papst Innozenz
IV. war über diese Heirat genauso entsetzt wie der Patriarch von Nikäa
davon, wie Johannes Vatatzes
mit
seiner unglücklichen jungen Frau umsprang. Die Freundschaft zwischen
den beiden Herrschern Johannes und
FRIEDRICH
berührte
all dies jedoch nicht.
Da die Mongolen abgezogen waren und ein schwer erschüttertes
Sultanat zurückließen, konnte Vatatzes
sich wieder auf den Balkan konzentrieren. Auch das Bulgarische Reich hatte
durch diesen jüngsten Barbareneinfall erheblichen Schaden erlitten.
Der Tod von Zar Koloman und
Johannes Asens 12-jährigem Sohn sowie die Thronbesteigung
dessen noch jüngeren Halbbruders Michael
im Jahre 1242 rührten die Gewässer noch weiter auf, in denen
Vatatzes
munter zu fischen gedachte. Im Herbst des gleichen Jahres hatten seine
Truppen Serres eingenommen und von dort aus das ganze Gebiet zwischen den
Flüssen Semon und Maritza und dazu noch einen großen Teil W-Makedoniens
besetzt. Er selbst befand sich noch in seinem Lager bei Melnik am Semon,
als eine Abordnung der Bürgerschaft Thessalonikes mit einem Vorschlag
an ihn gelangte. Der Despot Johannes
hatte zwei Jahre zuvor das Zeitliche gesegnet und sein Vater Theodor
dessen jüngeren Bruder Demetrios an
seine Stelle gesetzt. Doch Demetrios
erwies sich als so wankelmütig und ausschweifend, dass ein Großteil
des Volkes bald genug von ihm, ja überhaupt von der ganzen Familie
bekam. Nun boten diese Abgesandten Kaiser Johannes
Vatatzes an, sich kampflos zu ergeben, sofern er ihrer Stadt
weiterhin die alten Rechte und Privilegien garantiere. Etwas Besseres hätte
Vatatzes
sich kaum wünschen können. Im Dezember zog er in Thessalonike
ein, schickte den alten Theodor
auf
ein Landgut ins Exil und nahm Demetrios
als Gefangenen mit nach Kleinasien; als europäischen Vizekönig
setzte er seinen entfernten Verwandten Andronikos
Palaiologos ein.
Bevor er sich Konstantinopel zuwenden konnte, gab es
jedoch noch einen anderen Feind zu besiegen. Etwa neun Jahre zuvor hatte
sich die Region Epiros von Thessalonike gelöst und unter Michael
II., einem unehelichen Sohn des Staatsgründers Michael
I., wieder als unabhängiges Despotat eingerichtet. Auch
Epiros hatte von der mongolischen Eroberung Bulgariens profitiert und einen
großen Teil des von Zar Johannes Asens
Truppen 1230 eroberten Territoriums zurückgewonnen. Bei Ochrid und
Prilap grenzte es nun an das Reich von Nikäa. Johannes
Vatatzes griff Epiros nicht an, denn ein Krieg konnte sich in
solch wildem, unzugänglichem Bergland jahrelang hinziehen. Vielmehr
schloß er 1249 mit Despot Michael einen
Freundschaftsvertrag, den er durch eine Verlobung seiner Enkelin Maria,
einer Tochter Helena Asens und Theodors
II. Laskaris, mit Michaels Sohn
Nikephoros
besiegelte.
So wäre alles in bester Ordnung gewesen, hätte
nicht der alte Querulant Theodor
Dukas seinen Neffen Michael
II. überredet, vom Vertrag zurückzutreten und erneut
die Waffen gegen das Reich von Nikäa zu erheben. Dessen Truppen nahmen
daraufhin 1251 Prilap ein und stießen bis zum Axios (Wardar) vor.
Kaiser
Johannes Vatatzes brauchte nun nicht mehr auf eine Gelegenheit
zu warten. Mit dem größten Heer, das er ausheben konnte, setzte
er noch einmal nach Europa über und zwang den Despoten 1253 zur Kapitulation.
Michael
hatte nun Grund genug, seine Torheit zu bedauern; er
mußte nicht nur das gerade erworbene Gebiet abtreten, sondern auch
den Landstrich W-Makedoniens, den er dem bulgarischen Zaren abgenommen
hatte, und zudem noch einen Teil Albaniens. Sein Sohn Nikephoros
wurde
als Geisel an den Hof seines zukünftigen Schwiegervaters mitgenommen,
auf dass er sich in Zukunft anständig benehme. Und auch der alte,
blinde unausstehliche Theodor Dukas
mußte
die Reise über das Marmarameer antreten, um seine Tage - reichlich
verdient - im Gefängnis zu beschließen.
Das Lateinische Reich war altersschwach. Schon 1236 hatte
sich der inzwischen 19-jährige Balduin
in einem verzweifelten Versuch, Geld und Soldaten aufzutreiben, nach Italien
aufgemacht und Papst Gregor IX., das Gewissen der westlichen Christenheit
aufgerüttelt, um Konstantinopel vor den drohenden barbarischen Schismatikern
zu retten; doch die Reaktion war halbherzig ausgefallen. Obwohl Johannes
von Brienne 1237 starb, blieb Balduin
fast
vier Jahre lang weg und behauptete, seine Rückkehr habe sich durch
die Regelung persönlicher Angelegenheiten in Frankreich und die gezielten
Machenschaften FRIEDRICHS II.
verzögert.
Erst Anfang 1240 kehrte er an den Bosporus zurück, gerade rechtzeitig,
um sich in der Osterwoche zum Kaiser krönen zu lassen. Mit ihm traf
ein etwa 30.000 Mann starkes Heer ein. Als die Soldaten jedoch feststellten,
dass er sie nicht bezahlen konnte, zerstoben sie in alle Winde. Auf den
chronischen Geldmangel ging auch eine andere Entscheidung zurück,
die sich katastrophal auf die Moral der griechischen wie der lateinischen
Bevölkerung in Konstantinopel auswirkte: Venedig wurde als Pfand das
bedeutendste Heiligtum der Stadt zugesprochen, nämlich die Dornenkrone,
die Christus am Kreuz getragen haben soll. Doch als der Kaiser die Krone
übergeben sollte, brachte er es nicht übers Herz. So nutzte Ludwig
der Heilige von Frankreich die Gelegenheit, und die kostbare Reliquie gelangte
auf dem Seeweg nach Paris, wo er ihr zu Ehren die Sainte-Chapelte erbauen
ließ.
Man kann es Balduin
nicht verübeln, dass er offensichtlich am Westen Gefallen fand. An
den europäischen Höfen vorzusprechen war selbst für einen
Bittsteller weit angenehmer als ein Leben im düsteren, umlauerten
Konstantinopel. 1244 brach er erneut auf. Diesmal suchte er zunächst
FRIEDRICH
II. auf (den er bat, seine guten Beziehungen zu nutzen, um den
gegenwärtigen Waffenstillstand mit Johannes
Vatatzes zu verlängern), danach Graf Raimund in Toulouse,
Innozenz IV. in Lyon (mit dem er 1245 am großen Konzil teilnahm,
wo man den bereits zweimal gebannten FRIEDRICH
für abgesetzt erklärte) sowie Ludwig
den Heiligen in Paris und begab sich sogar nach London, wo König
Heinrich III. ihm allerdings nur widerwillig eine kleine Geldsumme
übergab. Doch Konstantinopel war mittlerweile nicht mehr zu retten.
Als der beklagenswerte Kaiser im Oktober 1248 zurückkehrte, sah er
sich in einem solchen finanziellen Engpaß, dass er das Blei vom Dach
des Kaiserpalastes verkaufen mußte. Er hätte damals gewiß
selbst nicht geglaubt, dass er noch volle dreizehn Jahre regieren sollte.
Dazu wäre es indes wohl auch nicht gekommen, wenn sein Feind in Nikäa
am Leben geblieben wäre. Aber Johannes Vatatzes
starb
am 3. November 1254 in Nymphaion im Alter von etwas über 60 Jahren,
und mit seinem Sohn Theodor II. Laskaris
als
Nachfolger ging viel vom Schwung, den Johannes
in
Gang gebracht und gehalten hatte, verloren.
Es entbehrt nicht der tragischen Ironie, dass Johannes
III. Vatatzes nicht mehr im Triumph in Konstantinopel einziehen
konnte, obwohl er als einzelner mehr als alle anderen für die Rückeroberung,
die schließlich doch noch stattfand, geleistet hat. In den letzten
zehn Jahren seines Lebens verschlechterte sich sein Gesundheitszustand
ständig; die epileptischen Anfälle, an denen er seit je litt,
traten immer häufiger und heftiger auf und beeinträchtigten ihn
zeitweilig schwer. So kam es zum Beispiel 1253 zu einer Anklage gegen den
besonders fähigen, noch jungen Heerführer Michael
Palaiologos wegen angeblicher Verschwörung. Der Chronist
Georgios Akropolites, dessen Berichte die griechische Hauptquelle für
die Zeit des Reichs im Exil darstellen, schreibt, die Anklage habe sich
einzig auf ein Gespräch zweier Privatleute gestützt, von denen
der eine später alles für ein Mißverständnis erklärte.
Dennoch ordnete Vatatzes an, der Sache
weiter nachzugehen. Michael sollte seine Unschuld schließlich durch
ein Gottesurteil unter Beweis stellen, indem er ein glühendes Eisen
anfaßte - ein westlicher Brauch, der bis dahin in Byzanz völlig
unbekannt gewesen war. Zum Glück für alle Beteiligten wurde der
Fall niedergeschlagen. Innerhalb eines Monats änderte dann
Johannes III. seine Meinung vollkommen und ernannte den jungen
Heerführer zum "Großkonnetabel" (auch dies eine westliche Errungenschaft),
dem alle lateinischen Kaufleute unterstanden. Zu diesem Zeitpunkt hatten
indes schon alle am Hof begriffen, dass der Kaiser geistig verwirrt war.
Trotzdem war Johannes Vatatzes
ein bedeutender Herrscher, ja wahrscheinlich einer der bedeutendsten in
der byzantinischen Geschichte. Sein Vorgänger Theodor
I. Laskaris hatte ihm einen kleinen, aber lebensfähigen
Staat byzantinischen Zuschnitts hinterlassen, der sich verteidigen konnte
und über eine funktionierende Verwaltung verfügte; ihm gelang
es dann, das Territorium zu verdoppeln. Als das Reich dann 32 Jahre später
an seinen Sohn Theodor II. überging,
erstreckte sich seine Oberhoheit fast über die gesamte Balkanhalbinsel
und große Teile der Ägäis, und seine Rivalen waren entweder
geschwächt oder vernichtet. Es sah ganz danach aus, als könnte
das Reich von Nikäa das Ziel, um dessentwillen es gegründet worden
war, endlich erreichen.
Nicht weniger hatte er innenpolitisch geleistet. Enteignete
Grundbesitzer, die ihm nach Kleinasien gefolgt waren, wurden mit Ländereien
jener entschädigt, die auf das Lateinische Reich gesetzt hatten. An
den Grenzen des Herrschaftsgebiets - die er stärker befestigen ließ,
als sie es je zuvor waren - siedelte er seine Soldaten nach alter byzantinischer
Tradition zur Belohnung für militärische Dienste nach ihrer aktiven
Dienstzeit als kleine Landbesitzer an. Vor allem die Kumanen, die vor den
Mongolen hatten fliehen müssen, waren entzückt, in Thrakien oder
Makedonien, Phrygien oder im Mäandertal eine Heimstatt zu finden,
und scharten sich daher auf seinen Ruf bereitwillig um seine Standarten.
Alle Bevölkerungsschichten wurden unterschiedslos ständig daran
erinn nert, dass sie in einem Provisorium lebten und dass es galt, Opfer
zu bringen, bis Konstantinopel wieder in ihrer Hand war. Importe aus dem
Ausland, besonders aus Venedig, wurden untersagt; in Gewerbe und Landwirtschaft
versuchte man möglichst autark zu werden. Vatatzes ging mit gutem
Beispiel voran, indem er ein Landgut gewinnträchtig bewirtschaften
ließ. Zum Beweis dafür, was eine bedachte und effiziente Haushaltführung
leisten kann, wurde vom Erlös aus dem Verkauf von Eiern die sogenannte
"Eierkrone" - erworben, ein juwelengeschmücktes Diadem, das
Kaiserin Irene, Johannes'
erste Frau, in aller Öffentlichkeit überreicht wurde. Dieses
Diadem hatte sich Irene redlich verdient,
denn sie war ihrem Ehemann durchaus ebenbürtig. Gemeinsam ließen
die beiden zahlreiche Krankenasyle, Waisenhäuser und andere karikative
Einrichtungen bauen, sie beschenkten Kirchen und Klöster und setzten
sich unermüdlich für die Armen ein. Sie förderten auch Kunst
und die Literatur und legten damit den Grundstein für die aufsehenerregende
kulturelle Erneuerung während der Regierungszeit ihres Sohnes Theodor,
als Nikäa eine Generation lang das Zentrum byzantinischer Kultur war
wie Konstantinopel in den vergangenen Jahrhunderten. In der Folge verehrte
und liebte das Volk sein Kaiserpaar aufrichtig. Nur die Behandlung seiner
zweiten Frau spricht gegen Johannes.
Ansonsten scheint er durchweg jene "freundliche, sanfte Seele" gewesen
zu sein, als die sein Freund Georgios Akropolites ihn bezeichnet. Es überrascht
daher auch nicht, dass er schon bald nach seinem Tod heiliggesprochen und
im Reich als Heiliger verehrt wurde. Kaiser Johannes
wurde
im Kloster Sosandra in der Nähe von Nymphaion beigesetzt.
Obwohl Johannes Vatatzes die
Rückeroberung Konstantinopels nicht mehr erlebt hat, wußte er
auf dem Totenbett, dass der Tag, auf den er hingearbeitet hatte, nicht
mehr fern sein konnte, wenn er auch Zweifel am Durchhaltevermögen
seines einzigen Sohnes und Nachfolgers verspürt haben dürfte.
Nicht, dass der junge Theodor II. Laskaris -
der seinen kaiserlichen Namen von seiner Mutter Irene
übernahm
- sich des Thrones als unwürdig erwiesen hätte. Erzogen von Nikephoros
Blemmydes, dem wohl überragendsten Gelehrten dieser Zeit, war er zu
einem Intellektuellen herangereift, der im Verlauf seines kurzen Lebens
ein ganzes Korpus literarischer, theologischer und wissenschaftlicher Werke
verfaßte, ohne sich durch diese Interessen je von den Regierungsgeschäften
ablenken zu lassen. Für seine größte Schwäche konnte
er nichts: Er hatte nämlich seines Vaters Epilepsie, in weit schwererer
Form, geerbt. Was für
Vatatzes
- abgesehen von den letzten Jahren - kaum mehr als eine gelegentliche Unpäßlichkeit
gewesen war, erwies sich für den Sohn als erhebliche Behinderung,
die mit zunehmendem Alter sein Urteil trübte, ihm die Energie raubte
und ihn oft körperlich niederwarf. War dies schon zu Hause gefährlich
genug, so konnte es sich im Feld geradezu katastrophal auswirken. Trotzdem
führte er mehrere Kriegszüge erfolgreich gegen das Bulgarische
Reich, das nach den Verlusten vor acht Jahren seine frühere Macht
wiederzuerringen versuchte, und bewies dabei großen persönlichen
Mut und verblüffend viel militärisches Geschick.
Theodor II. war ein
starker und unerbittlicher Herrscher. Da er dem Adel instinktiv mißtraute,
überging er ihn wenn immer möglich und stützte sich statt
dessen auf eine kleine Gruppe Zivilbeamter niederer Herkunft unter der
Leitung seines Protovestiarios Georgios Muzaion und dessen Brüder
Theodor und Andronikos. Den Klerus verärgerte er, indem er einen weltfremden
bigotten Asketen namens Arsenios zum Patriarchen ernannte und auf diese
Weise mit einem Schlag den alten Traum seines Vaters von der Wiedervereinigung
mit Rom vernichtete. In der Außenpolitik scheint er sich abwartend
verhalten zu haben. Schon bald kündigten sich Schwierigkeiten an,
doch der zum Angriff bereite Seldschuken-Sultan wurde durch einen neuen
Mongoleneinfall dazu gezwungen, statt anzugreifen, bei Kaiser
Theodor um Unterstützung gegen die Eindringlinge zu ersuchen.
Bulgarien mußte, nach einem zweiten Feldzug 1255/56,
einen Friedensvertrag unterzeichnen. Die Beziehungen besserten sich weiter,
als Zar Michael Asen 1256 ermordet
wurde und im Jahr darauf der Bojare Konstantin
Tich seine Nachfolge antrat; denn dieser löste sogleich
seine Ehe auf, um Theodors Tochter
Irene zu heiraten. Eine weitere dynastische Heirat, vorgesehen
schon für das Jahr 1249, aber erst sieben Jahre später feierlich
begangen, fand zwischen Irene Laskaris'
und Johannes Vatatzes' Enkelin Maria
und Nikephoros, dem Sohn Michaeis
II. von Epiros statt.
Diese Ehe sollte das Band zwischen Epiros und Nikäa
festigen. Leider hatte sie jedoch den gegenteiligen Effekt, da
Theodor unklugerweise im letzten Augenblick als Bedingung Durazzo
und die makedonische Stadt Serwia gefordert hatte. Die Mutter des Bräutigams,
die ihren Sohn ins Lager der Kaiserlichen an der Maritza begleitet hatte,
mußte zustimmen, da sie sonst in Gefangenschaft geraten wäre.
Als sie mit der Kunde zurückkam, dass man sie gezwungen habe, zwei
höchst bedeutende Städte des Despotats preiszugeben, wurde in
verständlicher Wut sogleich ein Feldzug gegen Thessalonike eingeleitet,
wobei das Despotat Epiros zusätzlich um serbische und albanische Unterstützung
nachsuchte. Innerhalb weniger Tage stand Makedonien unter den Waffen.
Zweifellos war Michael Palaiologos
der geeignete Feldherr für eine solche Situation. Der Kaiser war ihm
jedoch alles andere als gewogen. Er und Michael
kannten einander von Kindesbeinen an. Sie hätten verschiedener nicht
sein können. Theodor, der intellektuelle
und durch seine Krankheit eher introvertierte Thronfolger, erkannte in
dem glänzenden und gutaussehenden Aristokraten, der viele Fähigkeiten
zu besitzen schien, die ihm fehlten, den Konkurrenten. Außerdem hatte
er von seinem Vater das instinktive Mißtrauen gegenüber Michael
übernommen, das ans Pathologische grenzte, wenn er aufgebracht war.
Etwas früher in diesem Jahr hatte er ihn, ohne offensichtlichen Grund,
des Hochverrats angeklagt, so dass Michael,
der um sein Leben fürchtete, im Seldschuken-Sultanat Zuflucht suchte,
wo er das christliche Söldnerheer des Sultans gegen die mongolischen
Eindringlige befehligte. Michael hatte
Theodor
daraufhin
Treue geschworen und dieser ihm seinerseits mit einem feierlichen Eid für
die Zukunft Sicherheit gelobt. Doch erst nach einigem Zaudern übertrug
er ihm nun den Oberbefehl, und selbst danach konnte er seinen Argwohn nicht
völlig überwinden. Da er wohl fürchtete, Michael
könnte
sich gegen ihn wenden, überließ er ihm so wenig Truppen, dass
damit nichts auszurichten war. Zwar kämpften sie tapfer und gelangten
sogar bis Durazzo, allein sie vermochten die Flut aus Epiros nicht aufzuhalten.
Im Frühsommer stand Nikephoros'
Heer vor den Toren Thessalonikes, und Michael
Palaiologos, der erneut in Ungnade fiel und bald darauf mit
dem Kirchenbann belegt wurde, mußte fortan in einem nikäischen
Gefängnis schmachten.
Warum hatte sich Michael
kampflos ergeben? Wahrscheinlich weil er - wie sich herausstellen sollte,
zu Recht - Theodor von seiner Unschuld
zu überzeugen hoffte. Vielleicht ahnte er auch, dass Theodor
nur
noch kurze Zeit zu leben vergönnt war; sollte es aber zu Streitigkeiten
um die Nachfolge kommen, war es für ihn besser, in Nikäa als
auf dem Balkan zu sein. Wie dem auch sei, die führenden Familien Nikäas
betrachteten die Behandlung eines herausragenden Feldherrn des Reichs zu
einer Zeit, da seine Anwesenheit in Thessalonike unbedingt erforderlich
gewesen wäre, als durch nichts gerechtfertigt und fühlten sich
in der Überzeugung bestärkt, dass der Basileus die Regierungsgeschäfte
nicht mehr verantwortungsvoll führen könne. Dieser hatte seine
Feindseligkeit ihnen gegenüber von Beginn seiner Regierung an nicht
verhehlt, und die Behandlung Michael Palaiologos'
kam ihnen als Beispiel seiner Impulsivität und Unzuverlässigkeit
gelegen. Obwohl von der Verwaltung weitgehend ausgeschlossen, waren sie
immer noch in den höheren Rängen des Heeres und der Flotte
stark vertreten. Sie hätten es daher wohl auf einen Militärputsch
ankommen lassen, wäre Theodor II. Laskaris
nicht plötzlich und ihnen höchst erwünscht im August 1258
im Alter von 36 Jahren seiner Krankheit erlegen.
Theodors und Helenas
Sohn Johannes war noch ein Kind. Daher
hatte Theodor mit dem für ihn
typischen mangelnden Fingerspitzengefühl für die öffentliche
Meinung den verhaßten Georgios Muzalon zum Regenten bestimmt und
auf dem Totenbett die führenden Mitglieder des Adels sowohl diesem
wie Johannes gegenüber Treue schwören
lassen. Doch sie achteten den ihnen im Weg stehenden Protovestiarios und
seinen Anhang als zu gering. Im Verlauf der Bestattungsfeierlichkeiten
für den verstorbenen Kaiser im Sosandrakloster neun Tage nach seinem
Tod fielen sie über ihn und einen seiner Brüder am Hochaltar
her, ermordeten sie und zerstückelten die Leichen. Es kam zu einer
Palastrevolution, in deren Verlauf der eilig befreite
Michael Palaiologos, höchstwahrscheinlich der Kopf dieser
Verschwörung, an die Stelle des Ermordeten trat.
Michael zählte
damals 34 Jahre und stellte gewiß in vielerlei Hinsicht die richtige
Wahl dar. Er stammte aus einer altbekannten Familie - ein Nikephoros Palaiologos
hatte während der Regierungszeit Michaels
VII. im 11. Jahrhundert als Statthalter von Mesopotamien gedient
-, verfügte über verwandtschaftliche Verbindungen mit den drei
kaiserlichen Geschlechtern DUKAS, ANGELOS
und KOMNENOS, und seine Frau Theodora
war eine Großnichte Johannes Vatatzes'.
Seine bisherige Laufbahn war allerdings nicht ganz so makellos verlaufen;
immerhin war er wegen Hochverrats angeklagt gewesen und zum Sultan geflohen,
ganz zu schweigen von seiner jüngsten Haft. Diese Umstände waren
jedoch allgemein bekannt, und es störte sich offenbar niemand ernstlich
daran. Dagegen hätte seine Komplizenschaft - um es einmal dabei bewenden
lassen - im Mordfall Muzalon schon ein düsteres Licht auf seine Persönlichkeit
werfen müssen. Georgios Muzalon war indes allgemein derart verhaßt
gewesen, dass nur wenige Michael ernsthaft
seine Tat zur Last legten. Beim Heer war er nach wie vor sehr beliebt -
vor allen Dingen bei den von ihm befehligten lateinischen Söldnern
- und auch beim Klerus gut angesehen. Sogar Theodor
Laskaris' schwankende Haltung ihm gegenüber legte man nun
zu seinen Gunsten aus. Er erhielt sogleich den Titel Megas Dux (Großherzog)
und wurde kurz darauf auf Drängen des Klerus zum Despoten ernannt.
Im November 1258 hob man ihn schließlich auf den Schild und rief
ihn zum Mit-Kaiser aus; die Krönung fand Weihnachten in Nikäa
statt. Als erstes erhielten er und Theodora
die von Edelsteinen schweren Reichsdiademe aufgesetzt, und dann erst legte
man dem jungen Johannes IV. eine dünne
Perlenkette auf den Kopf.
Nur wenige der bei der gemeinsamen Krönung Anwesenden
dürften daran gezweifelt haben, dass Michael
VIII. Palaiologos sein Volk wieder in die angestammte Hauptstadt
führen würde. Bevor dies jedoch geschehen konnte, galt es einen
Feind zu besiegen. Zu Beginn des Jahres 1258 war nämlich der natürliche
Sohn FRIEDRICHS II., Manfred
von Sizilien, in Epiros eingefallen, hatte Korfu besetzt und
mehrere Küstenstädte, unter anderem Durazzo, Awlona und Butrinto,
eingenommen. Der Despot Michael von Epiros,
der seinen Makedonienfeldzug nicht abbrechen wollte, da der Fall Thessalonikes
unmittelbar bevorzustehen schien, verbündete sich statt dessen mit
Manfred
gegen Nikäa, gab ihm die Hand seiner ältesten Tochter Helena
und überließ ihm die eroberten Gebiete gewissermaßen als
ihre Mitgift. Manfred griff sofort
zu und überstellte als Zeichen seines guten Willens seinem Schwiegervater
400 bewaffnete Ritter aus Deutschland. Schon bald danach schloß sich
dem neuen Bündnis Wilhelm von Villehardouin an, der lateinische
Fürst von Achäa im Norden des Peloponnes, der Michaels
zweite Tochter Anna zur Frau nahm.
Das eigentliche Ziel des Feldzugs stellte natürlich Konstantinopel
dar. Doch dies setzte die Einnahme Thessalonikes als der europäischen
Hauptstadt des Reichs von Nikäa voraus.
Zum Zeitpunkt seiner Thronbesteigung schien also praktisch
das ganze griechische Festland gegen Michael angetreten
zu sein. Noch vor Ablauf des Jahres 1258 hatte er Gesandte an die drei
Bundesgenossen in der Hoffnung geschickt, sie von ihrem feindseligen Vorhaben
abzubringen. Außerdem war eine Delegation nach Rom, das den HOHENSTAUFEN
stets unversöhnlich feindlich gesonnen war, mit dem bekannten Lockruf
nach einer Vereinigung von Ost- und Westkirche unterwegs. Allein, es war
zu spät für diplomatische Lösungen; die Gesandten kamen
mit leeren Händen zurück, was Michael
schon befürchtet hatte. Zum Glück hatte er als Alternativmaßnahme
im selben Herbst eine Großstreitmacht mit beträchtlichen ungarischen
und serbischen Kontingenten sowie den üblichen Regimentern aus kumanischen
und türkischen Söldnern zum Balkan entsandt. Sie stand unter
dem Oberbefehl seines Bruders, Sebastokrator Johannes Palaiologos',
sowie des Großdomestikos Alexios Strategopulos. Zu Beginn des Jahres
1259 befahl er ihnen, gegen den Feind vorzurücken.
Michael von Epiros weilte
mit seinen Truppen immer noch im Winterquartier bei Kastoria. Völlig
unvorbereitet flohen sie in die Hafenstadt Awlona, die sich noch in der
Hand Manfreds befand. Dort bat Michael
seine Verbündeten dringend um Hilfe; nicht vergeblich, denn Manfred
sandte sogleich eine weitere Reiterabteilung, und Fürst Wilhelm
eilte
persönlich an der Spitze eines großen Heeres von Achäa
herbei. Den Zahlen kann man bekanntlich nicht trauen. Wenn man jedoch die
Truppen der westlichen Verbündeten insgesamt auf 45.000 Mann
schätzt, dürfte man der Wahrheit wohl recht nahe kommen. Sie
waren der Streitmacht, die Johannes Palaiologos zur Verfügung
stand, der ihnen nach Norden bis Pelagonia (Bitolj oder Monastir) entgegenzog,
mit ziemlicher Sicherheit zahlenmäßig überlegen. Dort prallten
dann einige Wochen später - das genaue Datum ist unbekannt, vermutlich
jedoch im Frühsommer - die beiden Heere aufeinander.
Die Koalition brach beinahe sofort auseinander. Johannes
hatte Befehl von seinem Bruder erhalten, die Uneinigkeit zwischen den drei
Heeren auszunutzen, was er auch mit bemerkenswertem Erfolg tat. Eine glänzende
Guerillataktik besorgte den Rest. Der Despot Michael
und
sein Sohn Nikephoros ließen sich
ohne den geringsten Anhaltspunkt weismachen, ihre Verbündeten wollten
sie an den Feind verraten; sie entwichen im Schutz der Dunkelheit aus dem
Lager, flohen beinahe mit Mann und Maus und suchten schließlich auf
Kephallonia Zuflucht. Ein anderer Sohn Michaels
von Epiros, der sogenannte Bastard
Johannes, den VILLEHARDOUIN wegen seiner unehelichen
Geburt verhöhnt hatte, lief aus gekränktem Stolz zur Streitmacht
Nikäas über. Als es zur Schlacht kam, sah sich Johannes Palaiologos
als Anführer eines einigen disziplinierten Heers nur noch der französischen
und deutschen Reiterei VILLEHARDOUINS und Manfreds
gegenüber.
Sie war den kumanischen Bogenschützen schutzlos ausgeliefert. Manfreds
Ritter ergaben sich und gerieten in Gefangenschaft; dasselbe widerfuhr
dann auch VILLEHARDOUIN, den man in der Nähe von Kastoria in
einem Heuhafen aufgestöbert und nur an seinen vorstehenden Schneidezähnen
erkannt haben soll.
Johannes marschierte anschließend mit
seinen Leuten weiter durch Thessalien, während Alexios Strategopulos
direkt nach Epiros zog und mit seinen Truppen die Hauptstadt Arta einnahm.
Damit war der Sieg vollständig.
Um die Gunst der Stunde zu nutzen, marschierte Kaiser
Michael zu Beginn des Jahres 1260 dann persönlich an der
Spitze der Truppen auf Konstantinopel zu. Über diesen Feldzug ist
leider kaum etwas bekannt. Die Hauptquellen (Akropolites auf der einen,
Pachymeres und Gregoras auf der anderen Seite) sprechen von den Ereignissen
so unterschiedlich, dass man zuweilen kaum glauben kann, dass in ihren
Berichten vom selben Feldzug die Rede ist. Michael
war
es anscheinend gelungen, eine führende lateinische Persönlichkeit
bestechen zu lassen, damit sie auf ein verabredetes Signal hin eines der
Stadttore öffnete. Als dieser Mann jedoch im fraglichen Augenblick
dazu nicht in der Lage war, schwenkte er auf einen anderen Plan um und
griff Galata am jenseitigen Ufer des Goldenen Horns, Konstantinopel direkt
gegenüber, an. Doch auch hier wurde er herb enttäuscht. Ohne
einsatzbereite Flotte ließ sich die große Eisenkette, die das
Horn absperrte, nicht durchbrechen. Zudem leistete die lateinische Bevölkerung
in Galata, unterstützt von vielen weiteren, die jeden Morgen von Konstantinopel
hinüberruderten, mehr Widerstand, als Michael
erwartet
hatte. Nach kurzer Zeit beschloß er, keine Zeit auf eine Operation
zu verschwenden, die ihm selbst im Falle eines Erfolgs keinen großen
Vorteil eintrug, und blies zum Rückzug.
Den armen Balduin,
der zitternd in Konstantinopel der Dinge harrte, konnte der Abzug von Michael
Palaiologos und seinem Heer nicht trösten; seit den Ereignissen
in Pelagonia war ihm klar, dass die Rückeroberung der Stadt nur noch
eine Frage der Zeit war und dass diese Frist ablief. An Verbündeten,
von denen er einst Hilfe erwartet hatte, waren nur noch der Kirchenstaat
und die Republik Venedig übriggeblieben. Papst Alexander IV. aber
reagierte auf seine Hilferufe nicht; blieb also nur noch die Republik Venedig,
die sich für das Lateinische Reich stets mehr verantwortlich gefühlt
hatte als alle anderen und deren Flotte von 30 Schiffen immer noch vor
den Zufahrten zum Goldenen Horn und im Bosporus kreuzte. Bei der verzweifelten
Suche nach Mitteln, mit denen er seine Verteidigungsanlagen zu verstärken
gedachte, gelang es Balduin, einen
weiteren Kredit von den Kaufleuten am Rialto loszueisen, indem er seinen
Sohn Philipp als Sicherheit zur Verfügung
stellte. Doch schon bald geriet auch die Unterstützung durch Venedig
ins Wanken, denn Michael Palaiologos
benötigte unbedingt eine Flotte und nahm daher mit Venedigs Erzrivalen
Genua Verhandlungen auf. Am 13. März 1261 kam in Nymphaion ein Vertrag
zustande, nach dem Genua als Gegenleistung für seine Hilfe im bevorstehenden
Kampf alle bisher Venedig zugestandenen Handelsvorteile, ein eigenes Viertel
in Konstantinopel und den übrigen bedeutenden Häfen des Reiches
sowie freier Zugang zu denen am Schwarzen Meer in Aussicht gestellt wurden.
Für Genua bedeutete dies eine historische Übereinkunft, welche
die Grundlage für das genuesische Handelsreich im Osten legte. Für
Byzanz aber sollte sie sich letztlich als Katastrophe erweisen, da die
beiden seefahrenden Republiken allmählich die Reste der byzantinischen
Seestreitmacht aufsogen und auf seinem Rücken ihre jahrhundertealte
Rivalität weiter ausfochten. Doch das war Zukunftsmusik. Im Frühjahr
des Jahres 1261 muß Michael und seinem Volk das Bündnis mit
Genua wie ein Geschenk des Himmels vorgekommen sein.
Nach all den Verträgen und Bündnissen, all
der Zwietracht und dem Blutvergießen, all den heroischen Träumen
und enttäuschten Hoffnungen der vergangenen 60 Jahre kam es dann beinahe
zufällig zur Wiedergewinnung Konstantinopels. Im Hochsommer des Jahres
1261 hatte Michael Palaiologos den
inzwischen zum Cäsar ernannten Feldherrn Alexios Strategopulos mit
einem kleinen Heer nach Thrakien entsandt, um sicherzustellen, dass es
an der bulgarischen Grenze ruhig blieb; zudem sollte er vor den Mauern
Konstantinopels etwas mit dem Säbel rasseln und dabei die Verteidigungsanlagen
unter die Lupe nehmen. Als Alexios Selymbria erreichte, hörte er von
der griechischen Bevölkerung, die lateinische Garnison sei auf venezianischen
Schiffen zwecks eines Angriffs auf die nikäische Insel Daphnusia unterwegs,
einen nützlichen Stützpunkt, von dem sich die Zufahrt vom Schwarzen
Meer in den Bosporus kontrollieren ließ. Sie setzte ihn zudem von
einem Hintertürchen in den Befestigungsmauern in Kenntnis, durch welches
Bewaffnete leicht in die Stadt gelangen konnten. Der nach Michaels
Rückzug aus Galata im September 1260 für ein Jahr geschlossene
Waffenstillstand mit dem Lateinischen Reich war theoretisch zwar immer
noch in Kraft. Doch die Lateiner hatten ihn bereits durch ihren Angriff
auf Daphnusia gebrochen, und Alexios Strategopulos wollte die günstige
Gelegenheit auf keinen Fall ungenutzt verstreichen lassen. Noch in derselben
Nacht schlich sich eine kleine Abteilung seiner Leute unbemerkt in die
Stadt ein, überruinpelte ein paar Wachen und warf sie kurzerhand von
der Brüstung. Dann öffneten sie lautlos eines der Tore. Im Morgengrauen
des 25. Juli 1261 ergoß sich dann das übrige Heer nach Konstantinopel.
Es traf auf keinen nennenswerten Widerstand.
Balduin, der im Blachernenpalast
schlief, erwachte vom Tumult und ließ auf der Flucht um sein Leben
Kaiserkrone und Zepter zurück. Zu Fuß durcheilte er die Stadt
von einem Ende zum anderen und entging mit knapper Not der Gefangennahme,
obwohl er am Arm verwundet war. Irgendwie gelangte er zum Großen
Palast und fand im kleinen Hafen Bukoleon ein Handelsschiff vor, auf dem
er zusammen mit dem venezianischen Podesta und einigen anderen nach Euböa
entkam, Euböa befand sich in lateinischer Hand. Unterdessen setzte
Alexios Strategopulos und seine Leute das ganze venezianische Viertel in
Brand. Als die Seefahrer nach ihrer Rückkehr von Daphnusia ihre Häuser
zerstört und die Zurückgebliebenen verängstigt und dichtgedrängt
am Kai wiederfanden, verging ihnen die Lust auf einen Gegenangriff. Es
blieb ihnen nichts anderes übrig, als nach Venedig zurückzusegeln.
Griechischee Chroniken berichten triumphierend, unter der verbliebenen
fränkischen Bevölkerung habe sich überall Panik ausgebreitet.
Einige hätten, als Mönche und Nonnen verkleidet, in Klöstern
Zuflucht gesucht, um der Rache der Soldaten des Cäsars zu entgehen,
andere sich verborgen, wo immer sie ein Versteck fanden, manche, so heißt
es, sogar in den Kloaken.
Ihre Ängste waren allerdings überflüssig,
denn es kam nicht zu einem Massaker. Nach und nach wagten sie sich aus
ihren Verstecken hervor und begaben sich - viele unter dem Gewicht ihrer
kostbaren Habe strauchelnd - zum Hafen, wo die 30 venezianischen Schiffe
auf sie warteten und zudem ein großes Schiff, das unlängst von
Sizilien eingetroffen war. Über ihre Zahl gibt es keine Angaben; alles
in allem mögen es 1.000 gewesen sein. Kaum waren alle an Bord, machte
sich auch diese Flotte auf den Weg nach Euböa. Anscheinend hatte man
sich nicht einmal Zeit genommen, Proviant an Bord zu nehmen, denn es berichtet,
dass viele der Flüchtlinge verhungerten, noch bevor sie Ziel erreichten.
Kaiser Michael schlief
in 300 Kilometer Entfernung in seinem Lager bei Meteorion in Kleinasien,
als die kaiserlichen Boten eintrafen. Laut Akropolites weckte ihn seine
Schwester Eulogia, ihn an den Zehen kitzelte, und überbrachte
ihm die Frohbotschaft. Zunächst glaubte er ihr kein Wort. Erst als
man ihm die von Balduin zurückgelassenen
Regalien übergab, war er von der Wahrheit der Nachricht überzeugt.
Er traf sofort Vorbereitungen, und schon drei Wochen später, am 15.
August 1261, zog er als der "neue Konstantin"
(wie er sich selbst als zweiten "Gründer" Konstantinopels nannte)
offiziell in die Hauptstadt ein. Der Einzug glich jedoch in keiner Weise
einem Triumph. Da er sich der ungeheuren historischen und symbolischen
Bedeutung des Ereignisses bewußt war, wollte er die Rückkehr
als einen Akt der Danksagung begehen. Nachdem er die Stadt durch das Goldene
Tor betreten hatte, hielt er inne, um die eigens zu diesem Anlaß
von seinem Großlogotheten, dem Chronisten Georgios Akropolites, verfaßten
Gebete zu hören. Dann schritt er hinter der großen Ikone der
Hodegetria (der Wegweiserin) her - von der es allgemein hieß, der
Evangelist Lukas habe sie eigenhändig gemalt - den traditionellen
Weg die Mese entlang durch die ganze Stadt bis zur Hagia Sophia, wo Patriarch
Arsenios eine zweite Krönungszeremonie vornahm. Diesmal wurden Michael
und
Theodora
jedoch alleine gekrönt und ihr kleiner Sohn als ihr Erbe ausgerufen.
Was aber, so ist man zu fragen geneigt, geschah mit Johannes
Laskaris, Michaels zehnjährigem
Mit-Kaiser? Michael hatte ihn, vernachlässigt
und verdrängt, einfach in Nikäa zurückgelassen. Gut vier
Monate später blendete man ihn - an Weihnachten; an eben diesem Tag
wurde er ekf Jahre alt [Man sperrte ihn in die Festung Dakibyze an der
Südküste des Marmarameers, und dort mußte er bis zu seinem
Tod fast 50 Jahre später, im Jahre 1305, ausharren.].
Das Lateinische Reich von Konstantinopel war von
Anfang an eine Mißgeburt. Das erbärmliche Ergebnis von Verrat
und Gier leistete in den 75 Jahren seines Daseins nichts und erwarb sich
keinerlei Ruhm. Nach 1204 gab es keine territorialen Gewinne mehr; es schrumpfte
vielmehr schon bald auf die unmittelbare Umgebung der Stadt, die bei seiner
Entstehung zerstört und verwüstet worden war. Angesichts all
dessen ist es ein Wunder, dass es überhaupt noch so lange bestand.
Von den sieben lateinischen Oberhäuptern hatte nur
Heinrich von Hainault - sieht man einmal von dem über 80-jährigen
Johannes
von Brienne ab - mehr als Mittelmaß aufzuweisen, und keines
scheint auch nur den bescheidensten Versuch unternommen zu haben, seine
griechischen Untertanen zu verstehen, geschweige denn ihre Sprache zu lernen.
Im Lauf der Zeit zogen immer mehr fränkische Ritter wieder in den
Westen zurück; die Verbündeten wandten sich ab, und die Staatskasse
leerte sich. Der Untergang vollzog sich ebenso schimpflich wie der Beginn.
In einer einzigen Nacht wurde es von einer Handvoll Soldaten übermannt,
während die Verteidigung in eine Aktion von beinahe unglaublicher
Zwecklosigkeit verwickelt war.
Hätten sich die Missetaten dieser Karikatur eines
Reichs auf das eigene Gebiet beschränkt, ließe sich mit einem
flüchtigen Blick darüber hinwegsehen, und uns wäre ein langes
und unerbauliches Kapitel dieses Buches erspart geblieben. Leider war dem
nicht so. Sein dunkles Vermächtnis hat sich nicht nur auf Byzanz,
sondern auf die gesamte Christenheit ausgewirkt, ja vielleicht sogar auf
die Weitgeschichte, denn das griechische Reich hat sich vom Schaden, den
es während jener schicksalhaften Jahre ideell und materiell erlitt,
nie wieder erholt und auch nie wieder seine einstige Moral zurückerlangt.
Byzanz verlor nicht nur die nach der katastrophalen Niederlage von Mantzikert
noch verbliebenen Gebiete; viele wunderschöne Bauwerke lagen in Schutt
und Asche, herrlichste Kunstwerke waren zerstört oder in den Westen
geschafft. Fortan konnte die byzantinische Bevölkerung zwar noch immer
voll Stolz auf ihre ruhmreiche Vergangenheit zurückblicken, in die
Zukunft dagegen nur noch mit Furcht und zitternden Knien.
Und noch etwas hatte sie eingebüßt. Vor der
lateinischen Eroberung hatte ihr Reich eine unteilbare Einheit dargestellt,
unter einem einzigen Basileus, der über ihnen stand, halbwegs im Himmel
und den Aposteln gleich. Nun aber war diese Einheit zersprungen. Ein so
großartiges Gebilde ließ sich nicht länger aufrechterhalten.
Es gab die Kaiser von Trapezunt, die immer noch störrisch in
ihrem winzigen byzantinischen Mikrokosmos am Ufer des Schwarzen Meeres
auf ihre Unabhängigkeit pochten; und es gab die Despoten von Epiros,
die nach wie vor um die Wiedererlangung der Macht ihrer Frühzeit kämpften,
jederzeit Feinde Konstantinopels willkommen hießen und einen dauernden
Herd der Opposition darstellten. Wie hätte denn ein derart zerstückeltes
griechisches Reich seine lange erfüllte Funktion weiterhin ausüben
können, nämlich als letztes großes Bollwerk des Christentums
im Osten gegen den verdrängenden Islam zu dienen? Aber auch die Christenheit
hat sich durch den 4. Kreuzzug verändert. Schon seit langem gespalten,
polarisierte sie sich nun. Jahrhunderte vor und nach dem großen Schisma
von 1054 waren die Beziehungen zwischen den Kirchen des Westens und des
Ostens mal höflich distanziert, dann wieder schneidend scharf gewesen,
die Differenzen aber im Grunde theologischer Natur. Nach der Eroberung
Konstantinopels durch die Kreuzfahrer aus dem Westen änderte sich
dies grundlegend. Die byzantinische Bevölkerung betrachtete jene Barbaren,
die ihre Gotteshäuser und Altäre entweiht, ihre Heimstätten
geplündert und Frauen, Männern und Kindern gleichermaßen
Gewalt angetan hatten, nicht mehr als Christen. Es gab noch mehrere Versuche,
die orthodoxe Kirche gewaltsam mit Rom zu vereinigen. Einigen, etwa dem
von Michael Palaiologos im Jahre 1274,
war sogar kurzzeitig Erfolg beschieden. Solcher Erfolg konnte indes nicht
von Dauer sein, weil letztlich jeweils das, vor dem diese Bemühungen
schützen sollten, der griechischen Bevölkerung immer noch akzeptabler
erschien als die Vorstellung, sich Rom zu unterwerfen. Lieber der Sultansturban
als der Kardinalshut, sollten sie später sagen, und zwar in allem
Ernst.