Lexikon des Mittelalters: Band III Spalte 317
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COURTENAY
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Weitverzweigte französische Adelsfamilie, durch die Kreuzzüge vor allem im Lateinischen Osten (Edessa, Konstantinopel) bedeutend, desgleichen in England.
A. Die COURTENAY in Frankreich und im Lateinischen Osten
I. DIE ÄLTEREN COURTENAY
Während die heutigen Historiker die Familie
COURTENAY genealogisch manchmal den alten Grafen von Sens, die
die Burg Chateaurenard errichteten, zuordnen, führten die COURTENAY
dem
Kontinuator Aimons von Fleury zufolge ihren Ursprung auf einem
ministerialis
Atto, der die Burg Courtenay (dep. Loiret) auf Kirchenland erbaute
zurück; dieser Atto sei Sohn eines Kuchenbäckers (gastelarius)
gewesen, doch, zum Ritter geschlagen, heiratete er eine Adlige (zwischen
998 und 1031). Sein Sohn Josselin
war in zweiter Ehe mit Elisabeth
von Montlhery vermählt; diese gebar ihm vier Söhne:
Milo
Josselin (Joscelinus)
Geoffroy (Gaufridus Chapalii)
Renaud (Rainaldus); letzterer war 1086 Kanoniker
und verstarb 1113.
Der zweite Sohn Josselin, der 1101 das Kreuz nahm,
erhielt von seinem Vetter Baudouin de Bourcq(Balduin
II., König von Jerusalem), der der Sohn seiner Tanten von
mütterlicher Seite war, die Burg Turbessel; er heiratete eine
Armenierin und wurde 1118 Graf von Edessa. Sein Sohn, Josselin II.,
1131-1149 Graf von Edessa, starb in sarazenischer Gefangenschaft und
hinterließ eine Tochter, Agnes,
die Amalric, den künftigen König
von Jerusalem, heiratete, sowie einen Sohn, Josselin III. (+ 1199/1200).
Letzterer verlor die Grafschaft Edessa, errichtete jedoch ein weiteres
Herrschaftsgebiet innerhalb des Königreiches Jerusalem, als dessen
Seneschall er fungierte. Seiner Ehe mit Agnes, Tochter von Henri
le Buffle, entstammten zwei Töchter, die ihre Erbteile in ihre Ehen
mit fränkischen Großen einbrachten: Beatrix heiratete
Otto, Graf von Henneberg, Agnes, dagegen Wilhelm, Sire von Amigdala
im Königreich Sizilien. Beatrix und Otto veräußerten
1220 ihren Anteil an der „Seignerie du comte Josselin“ dem Deutschen Orden,
der damit seine Territorialherrschaft im Heiligen Land begründete.
Die ältere Linie der COURTENAY geht auf Milo
(+ 1127), den älteren Bruder von Josselin I. von Edessa,
zurück. Milo stiftete 1124 die Zisterzienserabtei Fontaine-Jean.
Sein älterer Sohn, Guillaume, Sire de Courtenay, starb 1148
auf dem 2. Kreuzzug; der jüngere, Renaud, der bereits Sire
de Chateaurenard war, erbte Courtenay. Aus seiner Ehe mit der Tochter
des Herren von Corbeil gingen zwei Töchter hervor: die jüngere
heiratete den Sire de Seignelay, während die ältere, Elisabeth,
1150 den jüngeren Sohn König König
Ludwigs VI., Peter (Pierre),
ehelichte; dieser wurde damit Herr von Courtenay, Chateaurenard und Montargis.
II. DIE COURTENAY ALS SEITENLINIE DER KAPETINGER
Das zweite Haus der COURTENAY war also ein Zweig
der KAPETINGER. Ebenso wie das ebenfalls
von Ludwig VI. abstammende Haus
DREUX führten die COURTENAY
nicht die königliche Linie im Wappen, vielmehr nahmen sie einen goldenen
Schild, belegt mit drei Scheiben, an; die war wahrscheinlich das Wappen
des alten Hauses COURTENAY, das auch die englischen COURTENAY,
die eine jüngere Linie der alten COURTENAY waren, führten.
Peter I. (+ 1183)
verlieh 1170 Montargis die Freiheiten von Lorris und nahm 1179 das Kreuz;
seine Witwe, die ihn noch bis 1219 überlebte, gab 1185 den Bewohnern
von Courtenay die Freiheit. Das älteste der 13 Kinder aus dieser Ehe,
Peter
II., der spätere Kaiser von Konstantinopel, heiratete in
erster Ehe Agnes, Erb-Tochter der
Grafschaften Auxerre, Nevers
und Tonnerre; Peter
mußte
Montargis an den König abtreten, um dessen Zustimmung zur Heirat zu
erlangen. Aus dieser ersten Ehe stammte eine Tochter,
Mahaut,
die der Vater unter dem Druck des Königs mit Herve, Sire de Donzy,
vermählen mußte (1199), obwohl sei schon mit Philipp von Namur
verlobt war. 1192 verwitwet, verheiratete sich Peter
in
zweiter Ehe mit Yolande von Hennegau,
der Erb-Tochter der Markgrafschaft Namur. Unter den Kindern aus dieser
Ehe sind zu nennen:
Yolande, die spätere
Königin von Ungarn
Marie (oo Theodor
I. Laskaris)
Philipp und Heinrich,
beide Markgrafen von Namur,
Margarete, die ihre
Ansprüche auf Namur in die Ehe mit Heinrich von Vianden einbrachte
Robert und Balduin,
beide Kaiser von Konstantinopel.
1216 nahm Peter II. nach
dem Tode Heinrichs von Hennegau die
Kaiserkrone am; wurde jedoch vom Despoten von Epiros gefangengenommen und
starb 1219. Sein Sohn Robert,
der ihm als Kaiser nachfolgte, starb 1228; an seine Stelle trat
Balduin
(+ 1273). Dieser mußte, 1261 aus Konstantinopel vertrieben,
Namur 1263 dem Grafen von Flandern abtreten. Philipp
(+ 1285), der Sohn von Balduin
und Marie von Brienne, erbte Courtenay
und
die Ansprüche auf die byzantinische Kaiserwürde; er hinterließ
beide seiner Tochter
Catherine, die
er aus der Ehe mit Beatrix von Sizilien,
der Tochter Karls I. von Anjou, hatte.
Durch Catherines
Heirat mit Karl
von Valois (1301) die die Herrschaft Courtenay an das
Haus
VALOIS.
Zwei andere Söhne Peters
I., Robert und Guillaume,
begründeten die beiden Familien der Sires de Champignelles (dep.
Yonne) und de Tanlay. Robert
spielte unter Philipp August, Ludwig
VIII. und Ludwig IX. eine
gewichtige Rolle; Philipp August belehnte
ihn mit der normannischen Herrschaft Conches. Als bouteiller de
France befehligte er mehrmals das königliche Heer; er starb nach Gründung
der Zisterzienserabtei Beauvoir auf dem Kreuzzug (1239). Einer seiner Söhne,
Pierre,
war Sire de Conches; der zweite, Guillaume,
Sire
de Champignelles; ein dritter, Raoul,
begleitete Karl I. von Anjou auf seinem
Sizilienfeldzug und erhielt die
Grafschaft Chieti; ein vierter,
Robert,
war Bischof von Orleans (1258-1279); ein fünfter, Jean,
Erzbischof
von Reims (erwählt 1266), starb 1270 auf dem Tunis-Kreuzzug. Zwei
weitere COURTENAY aus dieser Linie
waren Erzbischöfe von Reims: Robert (+ 1323)
und Etienne (+
1352,
vor der Weihe). Pierre de Courtenay, Sire
de Champignelles, bekleidete noch 1411 da Amt des königlichen
Chambellan (1411), doch sah sich sein Sohn Jean
(+ 1472) genötigt seine wichtigsten Herrschaften an Jacques
Coeur und Jean Jouvenel des Ursins zu verkaufen. Die Herren von Bleneau,
eine jüngere Linie der COURTENAY von
Champignelles, und die Sires de Tanlay erhoben sich nicht über
den Regionaladel; sie hatten Besitzungen im Senonais, Tonnerrois und Gatinais.
Im 17. Jh. versuchten sie vergeblich, als Fürsten von Geblüt
(princes du sang) anerkannt zu werden; im 18. Jh. ausgestorben.
B. Die COURTENAY in England
Die englische Hochadelsfamilie COURTENAY geht auf
Renaud
de Courtenay zurück, ein jüngeres Mitglied des
älteren
Hauses COURTENAY, der sich 1161 in Sutton (Berkshire) niederließ.
Die Blütezeit der Familie fällt in das 13. Jh. bis 15. Jh.; sie
beherrschte in dieser Periode den englischen Westen (insbesondere Devon)
und spielte eine wichtige Rolle in den Kriegen Englands mit Schottland
und Frankreich. Heiraten und Erbschaften begründeten des Aufstieg
des Geschlechtes. Renaud heiratete in zweite Ehe die Enkelin König
Heinrichs I., Maud (+ 1224). Sein Sohn, ebenfalls mit
Namen Renaud (+ 1194), erweiterte seinen Besitz durch die Ehe mit
Hawise
(+ 1219), Herrin von Okehampton
(Devon, mit Besitzungen in Dorset,
Somerset, Berkshire und Buckinghamshire). Der Besitz dieser Hausgüter
im westlichen England wurde abgesichert durch die Heirat des Sohnes Robert
(+ 1242) mit Mary, der einzigen Tochter von William de Reviers,
dem Earl of Devon; nach dem Erlöschen der Linie de Reviers im Jahre
1293 erbte Hugh de Courtenay (+ 1340),
Roberts Urenkel, die
Baronie
Plympton (Devon mit Gütern in Dorset und Hampshire).
Hugh diente
zunächst loyal dem König, geriet aber bald in Opposition zu den
Königen
Eduard I. und Eduard II. Obwohl
er seit 1299 als Lord Courtenay zum Parliament geladen wurde, erlaubte
ihn erst 1335 König Eduard III. die
Führung des Titels ‚Earl of Devon‘.
Die COURTENAY gehörten in der Folgezeit zwar
nicht zu den reichsten englischen Großen, doch stiegen sie offenbar
zur wohlhabendsten der in Devon ansässigen Familien auf und bezogen
jährliche Nettoeinkünfte von ca. 1.500 Pfund aus landwirtschaftlich
genutztem Grundbesitz, Schiffseigentum und Textilverarbeitung, ihr Hauptsitz
war Tiverton Castle. Earl Hugh, sein Sohn Hugh II. (+ 1377) und
Mitglieder der COURTENAY-Familie waren bedeutende Feldherren, als
königliche Räte tätig und zeichneten sich bei der Verteidigung
W-Englands während des Hundertjährigen Krieges aus. Dort erweiterten
sie noch ihren Besitz durch vorteilhafte Heiraten und Landkäufe. William
(+ 1396), Sohn von Hugh II., durchlief eine große geistliche
Laufbahn, die in seiner Erhebung zum Erzbischof von Canterbury 1381
gipfelte. Nebenlinien des Geschlechts saßen in Powderham und Haccombe
(Devon). Seit der Zeit des Earls Edward (1377-1419) geriet die COURTENAY-Familie
durch
verschiedene Faktoren in eine Krise: Zersplitterung des Besitzes
für die Versorgung zahlreicher jüngerer Familienmitglieder (Hugo
II. hatte allein 8 Söhne und 9 Töchter), sowie wirtschaftliche
und familiäre Probleme (Witwenversorgung, 1377-1391 und 1433-1441;
Minderjährige an der Familienspitze, 1422-1433; Earl Edwards
mögliche Blindheit; die kurze Herrschaft von Earl Hugh III.,
1419-1422). Außerdem wurden andere Familien entweder durch König
Richard II. in Devon hineingedrängt (so die Holland Earls
of Huntingdon) oder durch die Könige aus dem Hause
LANCASTER begünstigt (besonders die Familie BONVILLES);
auch machten jüngere Linien der COURTENAY dem Hauptzweig seinen
Einfluß streitig. Glückloses und verfehltes politisches Handeln
während der Rosenkriege führten den weiteren Niedergang der Hauptlinie
der COURTENAY herbei: Thomas II. wurde in der Schlacht von
Towton gefangengenommen und 1461 hingerichtet, seine Familie enterbt. Nach
der nur kurz dauernden Wiedereinsetzung seines Bruders John (1470-1471),
die infolge der Wiedergewinnung der Gunst des Hauses
LANCASTER erfolgte, wurde der Titel des Earldom (aber nur ein
geringer Teil der Güter) durch Heinrich VII.
einer
jüngeren
Linie der COURTENAY übertragen (1485). Doch auch deren Rechte
und Güter verfielen wegen des Verdachts des Verrats der Konfiskation
(erstmals 1509, nach der Wiedereinsetzung im Jahre 1511 erneut 1539). Mit
dem Tod des Earl Edward (erhoben 1553, + 1556), der keine Erben
hinterließ, erlosch das Haus COURTENAY in England.