Im Nordwesten war wieder Graf Wilhelm von Holland der
Unruhestifter. Vom Kreuzzuge heimgekehrt und durch den Tod des Grafen Ludwig
von Looz von einem gefährlichen Nebenbuhler um den Besitz Hollands
befreit, versuchte er sofort, die Gräfin
Johanna von Flandern, deren Gemahl Ferrand
noch immer zu Paris im Kerker schmachtete, um ihre Hoheitsrechte über
seinen Anteil an W-Seeland zu bringen. Wilhelm erwirkte auf dem großen
Reichstage zu Frankfurt im April 1220 einen Rechtsspruch, durch welchen
Johanna,
wahrscheinlich weil bisher noch nicht beim Könige nachgesucht hatte,
ihres Reichslehens verlustig erklärt und dieses ihm selbst verliehen
wurde. Die Lage Johannas war eine recht
gefährliche. Von der Feindschaft ihres verhassten Schwagers Burkhard
von Avesnes hatte sie augenblicklich allerdings nichts zu fürchten,
da derselbe vor kurzem von ihren Leuten gefangen und sein Bruder Guido
bei derselben Gelegenheit getötet worden war. Höchst bedenklich
war es dagegen für die Gräfin, dass Wilhelm von Holland, welcher
in Frankfurt mit dem Herzog Heinrich von Brabant zusammengetroffen war,
obwohl er selbst schon in ziemlich hohen Jahren stand, dessen Tochter Maria,
die junge und schöne Witwe Kaiser
OTTOS IV., sich zur Gattin gewann und somit mindestens auf
das Gewähren lassen des BRABANTERS zählen durfte, wenn er den
Kampf mit Flandern beginnen sollte.
Man konnte nicht umhin, die Geschicklichkeit und die
Festigkeit zu bewundern, mit welcher die alleinstehende Gräfin
von Flandern den sie von allen Seiten bedrohenden Gefahren die Spitze
bot. Dadurch, dass sie sich mit ihrer Schwester Margarethe
versöhnte, bekam sie auch die Kinder aus deren ungültig erklärter
Ehe mit Burkhard von Avesnes in ihre Gewalt. Den Herzog Walram von
Limburg, welcher die Ansprüche seiner Gemahlin Erminsind von Luxemburg
auf Namur verfocht, fand Johanna, im
Einverständnis mit ihrem Vetter Philipp II. von Namur, am 13.
März 1223 mit dem östlich von der Maas gelegenen Teil der Markgrafschaft
ab. Sie hörte endlich nicht auf, auf die Befreiung ihres Gatten aus
der französischen Gefangenschaft hinzuarbeiten; im Jahre 1223 glaubte
sie auch damit am Ziele zu sein.
Sie hatte sich mit König
Philipp August
schon über die Höhe des Lösegeldes
geeinigt, für welches längst auch bei der Geistlichkeit ihres
Landes gesammelt worden war, und der Papst, der die Bedingungen der Freilassung
billigte, übernahm am 9. April 1223 dem König gegenüber
die Bürgschaft für Ferrands
künftige Treue. Da starb Philipp August und
sein Sohn Ludwig VIII. scheint der
Meinung gewesen zu sein, dass es für ihn vorteilhafter sei, Ferrand
nicht loszugeben. Vergebens wiederholte Honorius
III. am 22. April 1224 seine Verwendung, vergebens wurde sie durch
das ganze Kardinalskollegium unterstützt.
König
Ludwig wusste sehr wohl, dass die Kurie, welche ihn damals gegen
die Albigenser ins Feld zu schicken suchte, nichts Ernstliches gegen ihn
unternehmen werde, wenn er ihre Fürsprache überhörte. Dazu
kam, dass er als Sohn Elisabeths von Flandern,
der Schwester des als Kaiser von Konstantinopel verschollenen Grafen
Balduin, selbst Erbansprüche auf die Grafschaft hatte,
falls die Ehe der Tochter
Balduins
mit Ferrand kinderlos blieb wie bisher.
Die aus unrechtmäßiger Ehe entsprossenen Kinder ihrer Schwester
würden in diesem Falle die französische Krone nicht haben abhalten
können, die erledigte Grafschaft für sich einzuziehen.
Da geschah es, dass in der Fastenzeit des Jahres 1225
ein Einsiedler, welcher eine Zeitlang im Walde bei Vicogne bei Valenciennes
gehaust hatte, mit der Behauptung hervortrat, er sei Kaiser
Balduin, von dem man glaubte, er sei in bulgarischer Gefangenschaft
gestorben. Der Mann fand Zulauf und am Gründonnerstag, dem 27. März,
stellte er sich in Valenciennes einigen höheren Geistlichen und Laien
vor, welche Balduin gekannt hatten:
er überzeugte sie. Er war ein beredter und in allen ritterlichen Dingen
wohlerfahrener Mann; er wies an seinem Körper Narben auf, wie solche
der echte Balduin gehabt hatte; er
war unstreitig demselben sehr ähnlich, und wenn er etwas kleiner zu
sein schien, so schrieben diejenigen, welche an ihn glaubten, dieses Mindermaß
und ebenso dem Umstand, dass er das Französische fehlerhaft sprach
und in seiner Heimat nicht recht Bescheid wusste, den langen Lebensjahren
zu, welche er in Not und Drangsal aller Art unter Griechen und Ungläubigen
verbracht haben wollte. Sein Anhang wuchs ganz gewaltig, als die Gräfin
Johanna, die ihn in Valenciennes aufsuchte, ihn zwar nicht als
ihren Vater anerkannte, immerhin aber selbst zweifelhaft war, ob er es
nicht doch sei. Der Bischof von Lüttich, Hugo von Pierrepont, zu dessen
Beförderung der fremde Mann beigetragen zu haben sich rühmte,
wollte von ihm allerdings nichts wissen; Herzog Heinrich von Brabant dagegen
sprach sich entscheiden für seine Echtheit aus und gewährte ihm
öffentlich und im Geheimen seine Unterstützung. Wohin er kam,
zog man ihm in feierlichem Aufzug entgegen. Die Städte Lillie und
Gent und viele von der Ritterschaft huldigten ihm. Wurde auch noch hier
und da ein Zweifel laut, so überwog doch die ihm günstige Stimmung
in dem Maße, dass er zwei Monate lang tatsächlich in Flandern
und Hennegau das Heft in Händen hatte. Wer sich ihm widersetzte, den
bekämpfte er; wer sich ihm anschloss, dem stellte er als Kaiser von
Konstantinopel und Graf von Flandern Gnadenbriefe aus. Er verlieh Lehen,
erteilte den Ritterschlag, umgab sich mit fürstlicher Pracht, ging
zu Pfingsten als Kaiser unter Krone und ließ als solcher ein Kreuz
vor sich hertragen. Sein Emporkommen erregte in England die größte
Freude: schon am 11. April richtete Heinrich III.
an den angeblichen Grafen von Flandern die Aufforderung, sich mit ihm gegen
Frankreich zu verbünden.
König Ludwig VIII.
hatte bisher diesen Vorgängen ruhig zugesehen, und erst dann, als
die Gräfin Johanna, welche zu
spät ihre anfängliche Unentschiedenheit bereute, mit ihrer Schwester
vor dem angeblichen Vater nach Paris flüchtete, ihn als ihren Lehnsherrn
um Hilfe anrief und im Mai ihm den Ersatz aller aus der Wiedereroberung
Flanderns erwachsenen Kosten, außerdem die Hälfte der Kriegsbeute
zusagte, entschloß sich der König zu persönlichem Eingreifen.
Die Prüfung des Fremden, welche
Ludwig
trotzdem vorzunehmen sich verpflichtet hielt, kann unter
diesen Umständen nur als ein auf die Täuschung der Welt abzielendes
Gaukelspiel betrachtet werden, nicht als Ausfluss der Erwägung, dass
jener doch vielleicht Balduin sein
möchte. Er lud den angeblichen Grafen unter Zusicherung freien Geleits
auf den 30. Mai nach Peronne vor und kam selbst mit dem damals bei ihm
weilenden päpstlichen Legaten Romanus von S. Angelo und großem
Gefolge in diese Grenzstadt. Auch Balduin
fand sich mit zahlreicher Begleitung ein, unter welcher auch Herzog Heinrich
von Brabant gewesen, aber nicht in die Stadt hineingelassen worden sein
soll. Balduin selbst hatte über
den Empfang beim König nicht zu klagen; dessen Begrüßung:
"Herr, wenn Ihr mein Oheim seid, wie Ihr sagt, sollt Ihr willkommen sein,"
war wenigstens nicht geradezu unfreundlich. Aber in der großen und
glänzenden Versammlung, in welche er eintrat, sah er nur misstrauische
und feindliche Gesichter, den Bischof von Lüttich, welcher ihn von
Anfang an für einen Betrüger erklärt hatte, und seine Töchter,
welche ihn verleugneten. Das verwirrte ihn und er tat das Törrichste,
was er tun konnte. Er weigerte sich, auf die ihm vorgelegten Fragen zu
antworten: er sei erschöpft und bedürfe der Ruhe. Der Versammlung
konnte dieses Verhalten, selbst wenn sie nicht von vornherein an einen
Betrug geglaubt hätte, nur als Ausflucht erscheinen, zu dem Zwecke,
Zeit zu gewinnen und inzwischen Erkundigungen einzuziehen, und auch der
König selbst tat erzürnt, ließ jedoch den Verklagten wegen
des gewährten Geleits unversehrt aus Peronne abziehen.
Damit war dessen Zukunft entschieden. Nirgends zeigt
sich eine Spur davon, dass er auch nur daran gedacht hätte, sich,
gestützt auf die Anhänglichkeit seiner Untertanen, mit Gewalt
in Flandern und Hennegau zu behaupten. Er selbst war unsicher geworden
und machte dadurch auch andere an sich irre. Schon auf dem Rückweg
nach Valenciennes verlief sich seine Begleitung. Er hatte nur noch einige
Laienbrüder aus der Abtei Villers bei sich, als er von Valenciennes
wieder aufbrach, um nun, da von Frankreich nichts mehr zu hoffen war, den
Schutz des deutschen Gubernators anzurufen, welcher in dieser Angelegenheit
wegen des Hennegaus und Reichsflanderns auch ein Wort mitzureden hatte,
und von dem er vielleicht um so mehr erwartete, wenn ihm dessen Abneigung
gegen Frankreich und Hinneigung zu England bekannt war. Der englische König
aber hatte den angeblichen Balduin
anerkannt, und es konnte diesem zustatten kommen, dass eine englische Gesandtschaft
sich gerade in Köln aufhielt, als er dort eintraf.
Was in Köln mit ihm geschah, lässt sich nicht
mit Sicherheit feststellen. Nach dem einen Bericht soll er den Gubernator
gar nicht zu Gesicht bekommen haben, nach dem andern aber von Engelbert
nicht unbedingt abgewiesen worden sein. Auf seine Bitte habe Engelbert
den Bischof von Lüttich, welcher jenen stets als Betrüger bezeichnet
hatte, nach Köln vorgeladen, den Bischof vor der Hostie beschworen,
die Wahrheit zu sagen, und der Bischof daraufhin seine früheren Aussagen
widerrufen. Der so Gerechtfertigte soll von Engelbert die Zusicherung seiner
Unterstützung erhalten haben und zur Durchführung seiner Sache
an den Papst gewiesen worden sein. Man könnte verstehen, wenn es dem
Gubernator willkommen gewesen wäre, auch von dieser Seite her dem
Könige von Frankreich Verlegenheit zu bereiten. Aber man muss sich
doch auch wieder fragen, weshalb er in diesem Falle nicht dafür Sorge
trug, dass sein Schützling sicher nach Rom gelangte, weshalb er namentlich
es geschehen ließ, dass derselbe statt des gewöhnlichen Weges
vom Rhein nach Rom den weiteren und für ihn äußerst gefährlichen
durch die Champagne und das französische Burgund nahm. So lief er
ja seinen Feinden geradezu in die Hände.
Er wurde trotz seiner Verkleidung als Kaufmann schon
in der Gegend von Bar-sur-Seine erkannt, vom Ritter Clarembald de Chappes
festgenommen und mit Erlaubnis des französischen Königs der Gräfin
Johanna ausgeliefert, seiner Tochter,
wenn er das war, wofür er sich ausgab. Er kam ihr gerade recht. Denn,
obwohl sie für die Niederwerfung ihrer aufständischen Untertanen
über die Hilfe Frankreichs verfügte, welche sie sich gleich nach
der Zusammenkunft in Peronne durch noch weitere Zugeständnisse gesichert
hatte, erzielte sie zunächst nur geringe Erfolge. Immer mehr zeigte
es sich, dass die Leichtigkeit, mit welcher der angebliche Balduin
sich Flanderns und Hennegaus hatte bemächtigen können,
ihren wahren Grund in der Unzufriedenheit mit dem Regiment der Gräfin
und ihres Günstlings Arnulf von Oudenarde hatte. Darum übte
das Verschwinden des Prätendenten auf die Fortdauer des Aufstandes
keinen sonderlichen Einfluss aus, und die furchtbare Härte, mit welcher
Johanna verfuhr, die Verbannungsurteile,
gegen ihre Feinde unter dem Adel, die gewaltigen Strafgelder, welche sie
von den Städten erhob und auch wohl erheben musste, um die französische
Hilfe zu bezahlen, waren nicht geeignet, die Herzen ihrer Untertanen zurückzugewinnen.
Man schmeichelte sich wohl der Hoffnung, dass der rechte Landesherr demnächst
mit Hilfe aus dem Reich zurückkehren werde.
Der Gefangene wurde deshalb erst unter Spott und Hohn
im Lande zur Schau herumgeführt, bevor ein Pairsgericht unter Leitung
Arnulfs das Todesurteil über ihn sprach. Er wurde dann im Herbst zu
Lille gehängt, unter den Tränen des Volks, das noch immer an
ihm glaubte. Auf der Folter soll er seinen wahren Namen Bertrand de Rais
bekannt haben. Aber freilich Johanna
musste daran liegen, ihn um jeden Preis zum Betrüger zu stempeln,
und sonst zuverlässige Berichterstatter versichern, dass er weder
überführt worden sei noch gestanden habe. Es habe niemand aufgetrieben
werden können, der ihn unter jenem Namen kannte, und er selbst sei
bis zum letzten Augenblick dabei geblieben, der echte Balduin
zu sein.
Völlige Gewissheit wurde nie erlangt. War er ein
Betrüger, so bleibt zweifelhaft, ob er anderen als Werkzeug diente,
oder von sich aus auf den Gedanken kam, die Unbeliebtheit der Regentin
und die Ungewissheit über die Zukunft des Landes für sich auszubeuten.
Aber nicht bloß in Flandern und Hennegau, sondern auch in Frankreich
und England stand bei vielen die Überzeugung fest, dass der Mann,
welcher in Lille am Galgen geendet hatte, in der Tat Kaiser
Balduin gewesen sei, und sich die Gräfin des Vatermordes
schuldig gemacht habe.