Roger I. (ca. 1040-1101)
hatte sich in Kalabrien und Sizilien eine Grafschaft aufgebaut, deren Reichtum
ihn zum begehrten Bündnispartner europäischer Herrscherhäuser
werden ließ. Als jüngster von 12 Söhnen eines kleinen normannischen
Adeligen, Tankred
von Hauteville, hatte er sich auf kein Erbe stützen können.
Er folgte um 1055 seinen Brüdern, die in S-Italien ihr Glück
gesucht und gefunden hatten.
Als Roger I. um 1055
in den Süden kam, half er Robert
Guiscard bei der Niederschlagung eines Aufstandes. Bald
entstanden jedoch Konflikte zwischen den beiden Brüdern.
Roger wollte sich in Kalabrien
einen eigenen Herrschaftsbereich aufbauen, womit sein Bruder nicht einverstanden
war. Ebenso wie Apulien hatte Kalabrien bisher zum Byzantinischen Reich
gehört. Die einheimische Bevölkerung versuchte aus der Uneinigkeit
der Normannen Nutzen zu ziehen und sie zu vertreiben. Robert
Guiscard war also gezwungen, sich mit seinem Bruder zu verständigen
und trat ihm die Hälfte Kalabriens ab. Gemeinsam gelang es den Brüdern,
ihre Herrschaft zu festigen.
Roger I. hatte bisher
im Schatten seines älteren Bruders gestanden. Nun bekam er mit der
Eroberung Siziliens Gelegenheit zu eigener Initiative.
Nach der Einnahme Palermos einigten sich die Brüder
über die Aufteilung Siziliens, das allerdings erst zur Hälfte
erobert war.
Robert Guiscard hatte
aufgrund seiner Stellung als Herzog von Apulien, Kalabrien und Sizilien
formal die Herrschaft über die ganze Insel, wo aber in Wirklichkeit
Roger
I. recht frei schalten und walten konnte. Ähnlich wie in
Kalabrien behielt der Herzog die Hälfte der wichtigsten bisher gemachten
Eroberungen (Palermo, Messina und Val Demone) in seinem Besitz. Ende 1072
verließ er die Insel, die er nicht mehr wiedersehen sollte.
Nach der Vereinbarung von 1072 über die Aufteilung
Siziliens hätte die Hälfte des noch zu erobernden Teils der Insel
an zwei wichtige Unterführer des normannischen Heeres gehen sollen:
Serlo,
den Sohn des gleichnamigen Bruders Rogers I.,
und einen gewissen Arisgot von Pozzuli. Sie hatten sich unter anderem in
der Schlacht bei Cerami ausgezeichnet. Damit wäre die Herrschaft über
Sizilien aufgesplittert worden. Es kam aber anders. Serlon fiel
bald in einer Schlacht. Arisgot tat sich 1079 bei der Belagerung von Taormina
hervor, danach ist er nicht mehr bezeugt. Roger
I. konnte also in Sizilien einen
geschlossenen Herrschaftsbereich aufbauen. Im Unterschied zu seinem Bruder
in Apulien brauchte er nicht auf andere Normannen Rücksicht nehmen,
die sich eigene Grafschaften und Herrschaften erworben hatten. Zwar lassen
die Quellen keinen Zweifel daran, dass Roger I.
ein Lehensmann
Robert Guiscards war,
doch war die Stellung des Grafen von Sizilien in der Praxis stärker
als die des Herzogs von Apulien.
Um den Rest von Sizilien zu erobern, benötigte
Roger I. noch fast 20 Jahre. Er verfügte nur über
einige hundert Ritter und wohl ebensoviel Fußvolk; es muß allerdings
damit gerechnet werden, dass Malaterra deren Zahl untertreibt, um die Erfolge
der Normannen im hellerem Licht erscheinen zu lassen. An eine territoriale
Eroberung oder Besetzung war nicht zu denken. Die einzige Möglichkeit
bestand darin, von befestigten Stützpunkten aus die zahlenmäßig
überlegenen
Muslime unter Kontrolle zu halten. Im Süden der Insel konnte man nicht
auf die Unterstützung von Christen hoffen. Außerdem mußte
der Graf mehrmals Sizilien verlassen, um den Herzog von Apulien Hilfe zu
leisten. Roger I. ging daher vorsichtig
und abwartend vor. Den Städten bot er milde Kapitulationsverträge
an, wobei das Beispiel von Palermo Schule machte. Das eroberte Gebiet wurde
an strategisch wichtigen Punkten durch Burgen abgesichert. So dominierte
das Kastell von Paterno an den Hängen des Ätna die Ebene von
Catania, während die Burg Calascibetta das ihr gegenüberliegende
Felsennest Enna in Schach hielt. In Mazara wurde ein Kastell in der Stadt
angelegt; von hier schlug Roger 1075
einen Angriff nordafrikanischer Muslime zurück.
Nach dem Abschluß der Eroberung von Sizilien (1091)
gliederte Roger I. ein ansehnliches
Kontingent muslimischer Soldaten in sein Heer ein, es handelte sich vor
allem um Bogenschützen.
Bei der Unterwerfung Maltas (1090) befreite
Roger I. dort gefangengehaltene Christen, wahrscheinlich
in die Hand muslimischer Piraten gefallene Pilger und Kaufleute. Er hoffte,
sie würden sich auf Sizilien niederlassen. Der Graf förderte
die zahlreichen kleinen griechischen Klöster, die während der
arabischen Herrschaft ziemlich heruntergekommen waren. Er ermunterte auch
die Einwanderung von Italo-Griechen aus Kalabrien. Daneben gründete
er einige große lateinische Abteien wie S. Bartolomeo auf der Insel
Lipari (vor 1085) und S. Salvatore di Patti an der gegenüberliegenden
Küste, die 1094 in Personalunion vereint wurden, ferner S. Agata in
Catania (1091), das gleichzeitig als Domkapitel diente, sowie das Nonnenkloster
S. Maria di Messina (vor 1101). Die im Nordosten der Insel gelegenen Abteien
trugen zur Latinisierung dieses vorher gemischt griechisch-arabischen Gebietes
bei.
Nach dem Sieg von Cerami (1063) schenkte Roger
dem Papst
Alexander II. (1061-1073) vier erbeutete Kamele, wofür sich
dieser mit der Entsendung einer Fahne bedankte, die der Graf in den späteren
Schlachten vorantragen ließ. Es könnte sich um die Petrusfahne
gehandelt haben, die die Päpste manchen Herrschern zur religiösen
Legitimierung militärischer Unternehmen schenkten. Tatsächlich
ist Roger auf einigen Münzen als Ritter mit einer Fahnenlanze dargestellt.
Erst nachdem er den größten Teil Siziliens
erobert hatte, "begann der Graf fromm zu werden". Er wollte, so Malaterra,
nicht undankbar sein für die von Gott erhaltenen Wohltaten. Um 1086/90
gründete er die Bistümer Syrakus, Catania, Agrigent und Mazara
del Vallo. Papst Urban
II. sanktionierte dieses Vorgehen. Durch die Opposition
HEINRICHS
IV. und des Gegen-Papstes
Clemens III. (1080-1100) befand sich Urban in einer schwierigen
Lage. Während der ersten Jahre seines Pontifikats hielt er sich unter
dem Schutz der Normannen vorwiegend in S-Italien auf. Dank seiner konzilanten
Haltung erreichte er es, dass der Graf 1096 das Bistum Troina mit dem alten
Bischofssitz Messina vereinigte und die Residenz des Bischofs dorthin verlegte.
Ein Versuch Urbans, mit der Ernennung eines Legaten auch Sizilien unter
die Kontrolle der römischen Kirche zu bringen, scheiterte am energischen
Widerstand Rogers I.
Der Papst war gezwungen, dem Grafen und seinen Erben die Ausübung
der apostolischen Legation zu verleihen. Die Grundlage für die Errichtung
einer vom Herrscher kontrollierten Landeskirche war gelegt. Damit hatte
der Graf von Sizilien eine Stellung erlangt, wie sie kein anderer Fürst
in Europa hatte.
Gegen Ende des 11. Jahrhunderts war Roger
I. eindeutig die dominierende Gestalt auf der süditalienischen
Bühne. Nur dank seiner Hilfe konnte sich sein Neffe und Lehnsherr,
Herzog
Roger Borsa (1085-1111), gegen seinen von der Thronfolge ausgeschlossenen
Halbbruder Bohemund I. durchsetzen.
Allerdings mußte er sich mit der Reduzierung des Herzogtums auf das
Gebiet des früheren Fürstentums Salerno abfinden. Der Graf
von Sizilien ließ sich seine Hilfe gut bezahlen:
Roger
Bursa mußte ihm die in seiner Hand befindlichen Teile
Kalabriens und Siziliens abtreten. 1096 versprach er Roger
I. die Hälfte Amalfis, wenn er ihm helfe, die Stadt, die
sich gegen seine Herrschaft erhoben hatte, zu unterwerfen. Die Belagerung
mußte jedoch aufgegeben werden, da Bohemund
und andere Normannen es vorzogen, am 1. Kreuzzug teilzunehmen. Als der
1098 volljährig gewordene Fürst Richard II. von Capua den Grafen
von Sizilien um Hilfe bat, sein väterliches Erbe antreten zu können,
verlangte Roger I. dafür das Anrecht
auf die Herrschaft über Neapel. Wo der Herzog von Apulien nicht in
der Lage war, Frieden zu stiften, griff der Graf von Sizilien ein. So schlichtete
Roger
einen Streit zwischen dem Grafen von Principato in Kampanien und
der Abtei SS. Trinita in Venosa im Nordosten der Basilicata, in der Robert
Guiscard und andere seiner Brüder begraben waren.
Nur an enge Verwandte gab Roger
I. Lehen aus: Syrakus an seinen
unehelichen Sohn Jordan und nach dessen
Tod an seinen Neffen Tankred, den Sohn Wilhelms; Ragusa an
seinen Sohn Gottfried; Troina an einen
weiteren Sohn namens Malgerius;
Paterno, Butera und andere Orte an seinen Schwager Heinrich Del Vasto.
Großzügiger war Roger
gegenüber Klöstern und Kirchen. Ihre Grundherrschaften
konnten ihm nicht gefährlich werden. Bei der Verwaltung Kalabriens
und Siziliens stützte er sich auf normannische Landsleute wie Robert
Borrell, Robert Avenal, Wilhelm von Hauteville und Gosbert von Lucy; daneben
auf lateinische Geistliche. Seit den 80-er Jahren des 11. Jahrhunderts
griff der Graf immer stärker auf griechische Beamte aus der ehemals
byzantinischen Verwaltung zurück.
Durch die Eroberung von Sizilien war Roger
I. von einem mittellosen Abenteurer zu einem der angesehensten
Fürsten Europas geworden. Könige hielten um die Hand seiner Töchter
an. Dabei spekulierten sie vor allem auf die Mitgift, die vom sprichwörtlich
reichen Grafen zu erwarten war. So etwa König
Philipp I. von Frankreich, der nach der unrechtmäßigen
Verstoßung seiner Gemahlin Berta (1092)
um die Hand von Rogers
Tochter Emma
angehalten haben soll. Zwei Heiraten von Töchtern
Rogers mit Königen kam aber zustande. Als der 1087 zum
deutschen König gekrönte KONRAD,
der Sohn HEINRICHS IV., sich 1093 gegen
seinen Vater erhob und in Mailand zum König von Italien krönen
ließ, rieten ihm Urban II. und Mathilde
von Canossa, eine Tochter Rogers I.
zu heiraten. So könne er das erlangen, was ihm bisher noch
fehle, um ein richtiger König zu sein: eine Gemahlin und Geld. 1095
fand die Hochzeit mit Maximilla,
so der vermutliche Name der Braut, statt. KONRADS
gegen den Vater gerichteten Pläne scheiterten aber bald. Nach seinem
Tode (1101) kehrte die Grafentochter in den Süden zurück. Eine
andere Tochter Rogers, deren Namen
unbekannt ist, wurde 1097 mit König Koloman
von Ungarn (1095-1116) vermählt.
Für Malaterra war der Graf von Sizilien das Idealbild
eines Ritters: "Er war sehr schön, hochgewachsen, von gut proportionierter
Gestalt, äußerst redegewandt, klug im Entschluß, weitsichtig
in seinen Plänen, freundlich und leutselig zu allen, stark an Körperkraft,
im Kriegsdienst unbändig". Er heiratete dreimal. Von den beiden ersten
Frauen, den Normanninnen Judith
von Evreux und
Eremburga
von Mortain, hatte der Graf mehr als 10 Kinder. Als er um
die 50 war, vermählte er sich mit der kaum 15-jährigen Adelheid
del Vasto (1089/90). Zwei Schwestern Adelheids
wurden mit zwei Söhnen Rogers
verheiratet
bzw. verlobt: die eine mit dem trotz seiner unehelichen Geburt zunächst
als Nachfolger betrachteten Jordan,
die andere mit Gottfried, der jedoch
vor der Hochzeit starb. Adelheids Bruder
Heinrich bekam eine Tochter des Grafen zur Frau. Durch dieses komplexe
Heiratsbündnis verband Roger I.
seine Familie eng mit den ALERAMIDEN, einer mächtigen Adelsfamilie
aus N-Italien, die in Ligurien und Piemont beheimatet waren.
Aus der Ehe mit Adelheid
gingen zwei Söhne hervor,
Simon
und
Roger
II., und wahrscheinlich auch mindestens eine Tochter. Die
junge Frau des Grafen verstand es, die aus früheren Ehen geborenen
Söhne von der Erbfolge ausschließen zu lassen. Im
Juni 1101
starb
Roger I. Er wurde in Mileto in
Kalabrien beigesetzt. Dort hatte er eine Benediktinerabtei gegründet,
die zu seiner Grablege bestimmt war. Seine Gemahlin ließ ihn in einem
antiken römischen Marmorsarkophag beisetzen, über den ein aus
Porphyrstein errichteter Baldachin angebracht wurde. Dies war ein Hinweis
auf hohe Apirationen: Porphyr war eigentlich dem Kaiser vorbehalten.