Home | Startseite | Impressum | Download | Mail | Gästebuch

Reise nach Bagirmi

Counter

Die große Zeit der Entdeckungen war noch nicht zu Ende, als das Innere Afrikas die letzten weißen Flecken auf den Landkarten der Kartographen zu tilgen begann. Männern von großem Wagemut ist es zu verdanken, daß der Schwarze Kontinent mit dem weiteren Vordringen des Weißen Mannes als letzte Bastion gegen den aufkeimenden Kolonialismus kapitulierte. Südlich des Tschadsees waren mit dem Einzug des Islam mehrere Königreiche entstanden, die, von Sendungsbewußtsein getragen, ihre Macht auszuweiten suchten und einander, zum Teil bereits mit Feuerwaffen, erbittert bekämpften. Das Schicksal der Ungläubigen, selbst wenn sie sich rechtzeitig vorher freiwillig unterworfen hatten, war nicht selten immerwährende Sklaverei, es sei denn, daß sie schon im Vorfeld wie wilde Tiere erlegt worden waren. Der große deutsche Afrikaforscher Gustav Nachtigal, der die deutsche Flagge über Togo und Kamerun aufziehen ließ, schildert nachfolgend eine Episode auf seiner Reise nach Bagirmi, die tiefe Einsichten in die damals dort herrschenden Zustände gewährt. Die aufgezeichneten Grausamkeiten sprechen für sich, und wie durch ein Wunder gelang es Nachtigal, dieser Hölle zu entfliehen, letztendlich, um uns darüber zu berichten.

Die Baumfestungen von Kimre

    »Der Aufenthalt in Bôtrô blieb ohne wesentlichen Nutzen für Mbang Mohammedu. Seine kriegerischen Unternehmungen waren von keinem wesentlichen Erfolg begleitet, und die politischen Unterhandlungen scheiterten beständig an dem berechtigten Mißtrauen der Leute. Selbst in der nächsten Nähe von Bôtrô hatten sich die Bewohner von Kimre - ebenfalls Gâberi dem Stamme nach - auf eine sichere Höhe ihrer Baumwollbäume zurückgezogen und hörten auf keine schönen oder drohenden Worte der Bagirmi. Abû Sekkîn, der sich aus Erfahrung den luftigen Festungen gegenüber ziemlich machtlos wußte, erbat kurz nach meiner Ankunft in nächtlicher Zusammenkunft Rat und Beistand von mir. Am 14. April wurde ein neuer Versuch gemacht, dieselben gewaltsam zur Unterwerfung zu bringen, und ich hatte als Augenzeuge Gelegenheit, mich von der Unzulänglichkeit der Angriffsmittel meiner Genossen zu überzeugen.
    Eine Stunde nach Mitternacht ertönte eine lange Posaune; alle Beutelustigen sammelten sich vor dem Lager, wenn auch nicht gerade mit militärischer Pünktlichkeit, und nach etwa einer Stunde konnten wir aufbrechen. Unser Marsch führte uns, soweit die Dunkelheit erkennen ließ, anfangs durch die Ackerfelder von Brôtô, dann über eine baumlose Ebene, deren Graswuchs auch nur spärlich zu sein schien, weiterhin durch Buschwald und endlich durch die Getreidefelder von Kimre. Mit Sonnenaufgang hatten wir den Wald, die natürliche Festung der Verfolgten, vor uns. Die Gegend war durch einen schwarzen, humusreichen Tonboden ausgezeichnet, von Wassertümpeln durchsetzt und von Elefantenpfaden durchschnitten. Auf den Getreidefeldern sproßte unter den spärlichen Regenfällen dieser Jahreszeit die junge Saat. Aus dem Walde stiegen hier und da Rauchwolken auf als Warnungszeichen für ferner Wohnende und als Beweis, daß unsere Annäherung nicht verborgen geblieben war.
    Bevor wir den Wald betraten, mußterte der Fatscha sein Kriegsvolk, das sich hier allmählich sammelte. Wir zählten an Bagirmileuten und ihren Sklaven etwa sechzig Reiter, von denen viele mit Wattepanzern versehen waren, und ungefähr vierhundert Fußkämpfer, deren Bewaffnung in Lanzen und Handeisen, zum Teil auch in Schilden bestand. Eine annähernd gleiche Zahl von Heiden, doch ohne alle Reiterei, begleitete uns. Der Fatscha ließ halten, ergriff einen etwa dreißig Zentimeter langen, mit dunklem Tuch überzogenen Stab, gleichsam seinen Marschallstab, empfing aus der Hand eines Sklaven ein fächerähnliches, ebenfalls in einem Tuch aufbewahrtes Feldzeichen und sprengte, nachdem er dasselbe entfaltet hatte und begeistert schwenkte, vor der Menge auf und ab. Nach dieser eine Ansprache ersetzenden Handlung und nachdem die Feldzeichen wieder in ihre Behälter getan und einem Sklaven zur Aufbewahrung übergeben worden waren, setzten sich unsere Haufen in Bewegung, und wir betraten den Wald.
    An den Lichtungen befanden sich Ackerfelder, und reizend lagen weithin zerstreut im Schatten der prachtvollen Bäume die verlassenen Wohnstätten der Leute. Wo sie noch nicht der Zerstörung anheimgefallen waren - die Bewohner hatten bereits vor Wochen ihre erhabenen Kriegswohnungen bezogen -, entrollten sich die lieblichsten landschaftlichen Bilder durch einfache Zierlichkeit der Stroh- und Lehmbauten, die grasige Frische der nächsten Umgebung, die Kraft und Fülle der Waldbäume und die lauschige Heimlichkeit der Plätze, zu denen sich hier und da die Strahlen der aufsteigenden Morgensonne stahlen.
    Bald kamen wir auch in Sicht der Verfolgten, die scheinbar mit großer Gemütsruhe aus sicherer Höhe dem Anrücken des grausamen Erbfeindes zuschauten. Über alle Bäume empor ragte das Eriodendron, das dort ausschließlich zum Aufenthalt in den Zeiten der Gefahr gewählt zu werden scheint. Seine Höhe, der kerzengerade Wuchs des hartholzigen Stammes, die quirlförmige Anordnung der Äste in mehreren Stufen und ihre fast horizontale Richtung lassen diesen Baum besonders geeignet für solchen Zweck erscheinen. Die unterste Stufe, noch allzusehr im Bereich der Angreifer, wird meistens unbenutzt gelassen. In der nächst höheren werden möglichst waagrechte, benachbarte Äste durch darübergelegte Stangen zu einer Plattform vereinigt, auf der ein solides, dickes Strohgeflecht befestigt und darauf der Hausstand errichtet wird. Dieser besteht gewöhnlich in einer kleinen Hütte, die auch Getreidevorräte, Wasserkrüge und Hausgerätschaften (z.B. die Holzmörser zur Mehlbereitung) enthält, und selbst Haustiere, Ziegen, Hunde und Hühner werden mit hinaufgenommen. Oberhalb dieser Astteilung wird häufig am Stamme selbst aus starkem Geflecht von Zweigen und Stroh ein Korb nach Art eines Mastkorbes angebracht, der eine oder zwei Personen fassen kann und in dem der größte Teil des Wasservorrates aufbewahrt wird. Der oder die Hauptkrieger des Baumes befinden sich in diesem Behälter, dessen Seitenwandung etwa einen Meter hoch ist, schleudern von dort aus die harmlosen Wurfgeschosse aus Rohr und halten Handeisen und Lanzen bereit für den Fall, daß es den Angreifern gelingen sollte, die unterste Stufe zu erklimmen. Je nach Umfang und Höhe der Bäume wohnen eine oder mehrere Familien auf denselben. Während der Nacht, in der kein Angriff zu befürchten ist, steigen die Bewohner nach Bedürfnis herab, um ihre Vorräte an Wasser und Getreide, das in versteckten Gruben verborgen gehalten wird, zu erneuern. Zum Hinauf- und Herabsteigen dienen einfache Leitern aus dünnen Baumstämmchen, Schlinggewächsen und Pflanzenfaserstricken.
    Von einem ordnungsgemäßen Angriff, einem gemeinsamen Handeln unsererseits war keine Rede. Sobald wir den bewohnten Bäumen gegenüberstanden, begnügten sich die meisten damit, ihre Speere und Lanzen drohend zu schwingen und sich vorsichtig durch Schilde zu decken, in deren Ermangelung auch Stücke aus Strohgeflecht aus den halbzerstörten Hütten oder stärkere Matten benutzt wurden. Andere zerstreuten sich im Walde, in der Hoffnung, eine vergessene Ziege, einen Hund oder ein paar Hühner zu finden, auf eine Getreidegrube zu stoßen oder gar ein armes Menschenkind zu entdecken, das, von einem Baume herabgestiegen und vom Überfall überrascht, vielleicht den Zufluchtsort nicht hatte erreichen können. Die Bagirmi wie ihre heidnischen Bundesgenossen waren den Dingen gegenüber ratlos. Hunderte von bewaffneten Männern umstanden die einzelnen Zufluchtsstätten, mit Worten und Gebärden drohend, doch ohne den Mut, einen Angriff zu wagen, denn die ersten Ersteiger eines Baumes mußten, solange bewaffnete Verteidiger vorhanden waren, als verloren angesehen werden. Die Bäume zu fällen, fehlten die Werkzeuge, und die gewöhnlichen Waffen reichten nicht bis zur Höhe der Belagerten. Freilich verfügten der König und der Fatscha über eine Anzahl flintenbewaffneter Sklaven, doch ihrer keiner war imstande, eine Flinte anzulegen, zu zielen und zu treffen. Die Mordwaffe möglichst weit vom Körper haltend, sobald sie zu feuern beabsichtigten, konnten sie höchstens das Leben ihrer eigenen Genossen in Gefahr bringen. Am ehesten schien es den Belagerern noch gelingen zu können, die Strohbauten der Flüchtlinge durch Feuer zu zerstören, die Verteidiger dadurch höher in die Bäume hinaufzutreiben und diese so allmählich zu erobern. Wo hinlängliche Deckung es erlaubte, einigermaßen gefahrlos die untere Stufe eines bewohnten Baumes zu ersteigen, versuchte man auch, mittelst angezündeter Strohbündel, die an langen Stangen befestigt waren, Hütte und "Mastkorb" in Brand zu stecken, doch selten gelang es, und wenn Stroh und Holz wirklich einmal Feuer fingen, so löschten die Belagerten es ohne Schwierigkeit mit ihrem Wasservorrat.
    Schon begann ich über das Schicksal unserer armen Gegner beruhigt zu werden, als zu meinem Schmerze durch meine eigenen Leute sich das Blatt wenden zu wollen schien. Almâs und Hammu beteiligten sich am Kampfe, der für sie freilich nur ein Jagdvergnügen war, das weder die Gefahren und Anstrengungen anderer Jagden mit sich brachte noch bei der Stetigkeit der Ziele große Geschicklichkeit erforderte. Meine Empörung über diese feige Unmenschlichkeit machte keinerlei Eindruck auf die beiden Fanatiker; meine Macht fand hier ihre Grenzen, denn es handelte sich für jene um eine religiöse Berechtigung, über die zu urteilen der Christ nicht zuständig war. Sie hatten auch nicht das geringste Bedauern, diese "verfluchten Heiden" wie Perlhühner zu erlegen, hatten sie doch ihre Unterwerfung unter einen mohammedanischen König und die Gesetze des Islam verweigert. Wenn nicht glücklicherweise Almâs ein nur mittelmäßiger und Hammu ein sehr ungeschickter Schütze gewesen wäre, und wenn nicht beide ihre Munition frühzeitig verbraucht hätten, so würden viele der unglücklichen Kimreleute an diesem Tag ihr allzu großes Vertrauen in die Baumwollbäume mit dem Leben bezahlt haben.
    Ich war Augenzeuge der ersten Opfer des Tages. Von der Höhe seines Mastkorbes schleuderte der hochgewachsene, junge Vorkämpfer eines von mehreren Familien bewohnten Baumes seine harmlosen Rohrgeschosse, sich durch den Schild oder die Brustwehr des Korbes möglichst deckend. Zuweilen richtete er sich zu seiner ganzen Höhe auf, ballte zornig die Faust gegen seine Verfolger und rief ihnen Worte des Hohns und der Verachtung entgegen, die von ermutigenden Zurufen der Frauen aus der nächsten Umgebung begleitet wurden. In einem solchen Augenblick brach er, von einer Kugel Almâs getroffen, lautlos zusammen. Bald darauf wurde ein zweiter Verteidiger des Baumes, der sich weiter oben auf einem Seitenast befand, zum Tode getroffen, klammerte sich krampfhaft für einige Sekunden an die Zweige und stürzte dann, eine tote Masse, von der Höhe herab. Eine scheußliche Szene entspann sich: die Unsrigen fielen über den Leichnam her, und im Nu war er mit den Handeisen zerhackt und zerfetzt. Und die Wütendsten hierbei waren nicht die Bagirmi, sondern ihre heidnischen Bundesgenossen, gewissermaßen die Stammesangehörigen des Opfers, die sich bei einer anderen Gelegenheit desselben Schicksals versehen mußten. Ein Dritter, der letzte erwachsene Mann auf dem Baum, wurde durch einen Schuß verwundet, stieg mit seinen Angehörigen unter Aufwendung seiner letzten Kräfte zum Gipfel empor und klammerte sich dort schweigend an, während sein Blut in langen Linien die graue Rinde des Stammes herabrieselte. Da endlich wagten die feigen Verfolger den Baum zu erklimmen. Bald wurden die Ziegen, Hunde und Hühner herabgereicht oder herabgeworfen, der Tote und der Verwundete in die Tiefe geschleudert und den untenstehenden Genossen zur Zerfleischung überantwortet und die Frauen und Kinder nebst einem Greise allmählich herabgezerrt. Kein Schrei, keine Klage kam über die Lippen der Überlebenden. In verzweiflungsvoller Ergebenheit ließen sie sich mit Stricken binden, um mit dem Schmerz über den Tod der Ihrigen und den Verlust ihrer Heimat den Weg in die Sklaverei zu wandeln.
    Ein einziger Baum wurde ohne Beihilfe der Feuerwaffen allmählich erstiegen und so gewissermaßen erobert; doch befand sich auf demselben nur ein rüstiger Kämpfer, und dieser war wohl durch den Anblick des Unglücks auf dem benachbarten Baum entmutigt. Nachdem es gelungen war, seine Hütte in Brand zu stecken, zog er sich in eine größere Höhe zurück und wurde hier von einigen mit Lanzen angegriffen, während andere sich der hier und dort in den Verzweigungen versteckten Frauen und Kinder bemächtigten. Sobald jener verwundet und herabgeworfen war und durch den Sturz aus der Höhe oder unter den Handeisen der Unsrigen sein Leben ausgehaucht hatte, flohen zwei vierzehn- und fünfzehnjährige Knaben in die äußersten Wipfel und Zweige des Baumes und stürzten sich, als sie von ihren Verfolgern fast erreicht waren, mit verzweifeltem Heldenmut in die Tiefe. Kaum hatte ich vor dem gräßlichen Anblick, der mir das Herz zusammenschnürte, unwillkürlich für einen Augenblick die Augen geschlossen, als ich beim Wiederaufblick auch schon anstatt menschlicher Leichname nur formlose Massen erblickte; in wenigen Minuten hatten die Barbaren ihre Opfer der Köpfe beraubt, ihnen die Eingeweide herausgerissen, sie zerstückt und zerhackt.
    Endlich wurde der Baum entdeckt, der dem Häuptling von Kimre als Zufluchtsort diente. In einem unteren Stockwerk befand sich dicht gedrängt das Kleinvieh, das neugierig und harmlos über den Rand der Plattform herabschaute. Der Hauptverteidiger hielt von seinem Korb aus mit großer Geschicklichkeit die Brandgeschosse der Feinde ab und verhinderte mit bewundernswürdiger Umsicht die Angreifer, die - ermutigt durch die ungewohnten Erfolge des Tages - die untere Stufe erstiegen hatten, am weiteren Vordringen. Der Häuptling selbst saß mit zwei Frauen und vier Kindern in der Teilungsstelle dreier mächtiger Äste und schleuderte von dort seine unzulänglichen Handpfeile. Der geringe Vorrat der Bagirmi an Pulver und Blei wurde gegen diesen Baum erschöpft, doch glücklicherweise ohne wesentlichen Erfolg, so wenig gedeckt auch der Häuptling und die Seinen waren. Als es gelungen war, den jüngeren Krieger zu verwunden und zum Rückzug in die oberen Stockwerke zu zwingen, suchten auch die Bagirmi höher zu steigen, doch der Häuptling verlor keinen Augenblick seine Kaltblütigkeit und suchte die Stellung, so verzweifelt sie ihm auch erscheinen mußte, zu halten. Ohne jede Deckung dem Gewehrfeuer ausgesetzt, wurden die Frauen und Kinder nach oben geschafft, während der tapfere Mann zu Lanze und Wurfeisen griff und die Verfolger in Schranken hielt. Sein und der Seinigen Schicksal wäre gleichwohl auf die Dauer kaum zweifelhaft gewesen, wenn die Munition der Unsrigen länger vorgehalten hätte. Doch mit den Handwaffen allein den Baum zu erobern, hätte eine Opferwilligkeit der vordersten Angreifer erfordert, die durch die Aussicht auf die bescheidene Beute einer Ziege, eines Hundes oder eines kleinen Kindes nicht erzeugt werden kann. So waren, zu meiner großen Genugtuung, der Häuptling und seine Familie gerettet.
    Da die Bagirmi mit ihren im Vergleich zu früheren Versuchen bedeutenden Erfolgen sehr zufrieden waren, so wurde gegen Mittag die Jagd aufgegeben. Die meisten Baumfestungen waren unangegriffen gelassen worden, und wir kehrten nach Brôtô zurück, das wir gegen Abend erreichten. Ich selbst hatte durch mein Betragen bei den Bagirmi nicht gerade gewonnen, sondern im Gegenteil ihre an meine Beihilfe geknüpften Hoffnungen arg enttäuscht. Meinen Hinterladerkarabiner auf dem Rücken, weigerte ich mich sowohl selbst zu schießen, als andere damit schießen zu lassen; und in meiner tiefen Verstimmung suchte ich meinen Ekel an der feigen Grausamkeit meiner Begleiter nicht zu verbergen und führte in meiner schutzlosen Lage bedenklich unkluge Reden. Leider mußte ich später hören, daß meine Friedfertigkeit bei den Verfolgten nicht die gehörige Anerkennung gefunden hatte. Sie waren im Gegenteil geneigt gewesen, in dem harmlosen Fernrohr, das ich auf ihre Baumwohnungen richtete, eine nicht unwesentliche Beihilfe ihrer Feinde zu sehen. - Der Erfolg des Tages bestand übrigens nur in einem halben Hundert Sklaven, nicht aber in der Unterwerfung der Leute von Kimre, die ihren schönen Wald verließen und sich in ein südwestliches Nachbardorf namens Kariatu, das durch einen Erdwall geschützt war, zurückgezogen.
    Als ähnliche Unternehmungen in der Nachbarschaft, von denen ich meine Leute zurückhalten konnte, keine nennenswerten Erfolge gehabt hatten, schonten die Bagirmi auch ihre nächsten Nachbarn nicht mehr, die sich dem König unterworfen hatten. So beschlossen sie eines Tages, das in ungefähr südöstlicher Richtung etwa drei Stunden von unserm Lager entfernte Dorf Bê-Délüm zu überfallen, und da mir Almâs und Hammu versprochen hatten, sich nicht am Kampfe zu beteiligen, so schloß ich mich dem Zuge an. Da die Bedrohten leicht Kenntnis von unserm Vorhaben erhalten haben konnten und der verhältnismäßig sichern Zufluchtsstätten der Baumwollenbäume fast ganz entbehrten, so sollte der Überfall mit möglichster Schnelligkeit ausgeführt werden. Über ein schwieriges, loch- und furchenreiches, mit Buschwald bestandenes Gebiet erreichten wir, trabend oder galoppierend, nach zwei Stunden unser Ziel und sprengten mit verhängten Zügeln auf das Dorf zu, fanden es aber, zu meiner Befriedigung, bereits menschenleer. Da die Bewohner augenscheinlich erst im letzten Augenblick entflohen waren - sie hatten von den Haustieren nur die Pferde retten können -, so begann nun ein entsetzliches Treibjagden der Berittenen in der waldigen Umgebung, während die Fußgänger sich die Plünderung des Dorfes angelegen sein ließen. Bald waren zahlreiche kleine Kinder hier und da aufgelesen, Frauen und größere Kinder, die nicht schnell genug hatten laufen können, ergriffen und aneinandergefesselt, und Männer, die sich durch den Versuch, ihre Familien zu retten, verspätet hatten, im Dickicht erschlagen, oft erst nach verzweifelter Gegenwehr.
    Obgleich die Beute sich immerhin auf wenigstens hundert Frauen und größere Kinder belief, so waren doch viele der Unsrigen leer ausgegangen, und es wurde infolgedessen beschlossen, auf dem Heimweg ein etwas westlicher gelegenes Gâberidorf heimzusuchen. Die Einwohner waren glücklicherweise schon frühzeitig entflohen, hatten aber ansehnliche Getreidevorräte offen zurückgelassen, so daß wir, mit Durra beladen, unser Lager erreichten.
    Hier hatten indessen die zurückgebliebenen Sklaven des Königs, mißvergnügt darüber, daß sie an diesem Tage beutelos bleiben sollten, sich durch einen schändlichen Akt des Verrats an den Gâberi von Môdê schadlos zu halten gesucht. Entrüstet über diese Treulosigkeit, suchte ich erst dem Fatscha Vorstellungen zu machen und begab mich dann, da ich von diesem als Antwort erhielt: "Ist denn Amân (d.h. Treu und Glauben) nötig gegen die Heiden?" zum König, von dem ich wenigstens die Rückgabe der den Leuten von Môdê geraubten Menschen erwirkte. Leider vereitelten die zügellosen Sklaven Abû Sekkîns meinen Erfolg noch an demselben Abend wieder, indem sie aufs neue Streit mit den Môdênachbarn suchten und ihr Dorf gründlich plünderten. Die brennenden Hütten und das herüberdringende Kriegsgeschrei erzeugten große Unruhe in unserem Lager. Bald verbreitete sich das Gerücht, die Leute von Bê-Délüm seien in der Nähe, um uns zu überfallen, bald sagte man, daß die vereinigten Gâberi von Môdê und Brôtô rachedurstig heranzögen.
    Die Bagirmi würden sich schwerlich eine so verräterische Handlungsweise gegen ihre nächsten Nachbarn erlaubt haben, wenn nicht die schnelle Abnahme des Getreidevorrats und die infolge der zunehmenden Niederschläge bevorstehende Unwegsamkeit der Gegend unsere Übersiedlung in einen andern Bezirk erwünscht gemacht hätten. Da, wo wir uns befanden, war unsere Lage nicht mehr lange haltbar. Je mehr die nahe Umgebung ausgesogen war und je mehr der Haß unserer Nachbarn schwoll, desto weiter mußten die Beutezüge ausgedehnt werden, desto spärlicher war ihr Ergebnis und desto mehr gewannen sie den Charakter kriegerischer Unternehmungen. Wenn morgens vor Tagesanbruch die Nahrungsbedürftigen zusammengerufen wurden, hielt es schon schwer, die Leute zum Mitgehen zu bewegen. Da es jedesmal zu Mord und Totschlag kam, so wollte der einzelne sich nur anschließen, wenn sich alle beteiligten, und wenn alle gingen, so blieb das Lager schutzlos dem Feinde ausgesetzt. Sehnsüchtig und den Gürtel enger und enger schnürend, warteten wir auf die Rückkehr der Unsrigen, die sich oft bis zum Abend hinausschob, und selten wurde ihre Anstrengung und unser Hoffen durch Getreide belohnt. Heute gab es ein Säckchen mit Bohnen, morgen ein Körbchen mit Erdnüssen oder eine geringe Menge Sesam, und oft mußten wir uns hungrig zur Nachtruhe niederlegen. Als endlich noch einer meiner beiden Lastochsen erkrankte und geschlachtet werden mußte, begann ich, inmitten unserer sonstigen Schwierigkeiten, der Zukunft mit Sorge entgegenzusehen; denn die bei der ausschließlichen Ernährung mit frischem Gras, das unter den häufiger werdenden Sommerregen überall aufsproß, abmagernden Pferde stellten keine großen Dienste als Reit- und Lasttiere in Aussicht.
    Die vorrückende Jahreszeit drohte nicht minder unsere Lage unerquicklich zu machen. Der Lehmboden Somrais mußte bald unwegsam werden, und wenn wir auch bis zur Höhe der Regenzeit in Bornû noch fast zwei Monate hatten, so stand doch zu fürchten, daß der Weg dorthin demnächst große Schwierigkeiten mit sich bringen würde. Eine sofortige Abreise erschien aber als nicht ratsam, denn bedenkliche Gerüchte, nach denen 'Abd er Rahmâns Scharen sich nördlich von uns am Baili gezeigt hatten und eine kleine Karawane von Bagirmileuten, dreißig Köpfe stark, in Somrai niedergemacht worden war, sprachen für die Unsicherheit des Weges und die Unzuverlässigkeit der Somrai. Außerdem hatte Abû Sekkîn zwar gleich anfangs alle verkäuflichen Pferde unserer Karawane erworben, doch noch keines bezahlt.
    So wurde meine Stimmung allmählich bitter und düster, und meine Unterhaltungen mit Abû Sekkîn, wenn ich einmal bis zu ihm gelangte, waren nicht immer sehr freundschaftlich. Nachdem die obenerwähnte verräterische Handlungsweise seiner eigenen Leute gegen unsere allernächsten Nachbarn diese zu unseren erklärten Feinden gemacht und unsere Lage wesentlich verschlimmert hatte, fragte er mich eines Tages um meine Ansicht über die beste Art und Weise, aus diesen Schwierigkeiten herauszukommen. Ohne Schonung antwortete ich ihm darauf, daß der allmächtige Gott Fürsten und Menschen ohne "Amân" nicht segne, und daß wir Christen uns nur in ehrbare Angelegenheiten mischten. Er müsse selbst sehen, wie er zurecht komme, mich werde Gott schon zur rechten Stunde aus so treuloser Gesellschaft erretten. Derartige Bemerkungen, die ihm sehr ungewohnt klingen mußten, nahm er übrigens ebensowenig übel, als sie ernstlich Eindruck auf ihn machten.
    Die Bewohner der Dörfer Môdê und Brôtô hatten sich mit denen von Bê-Délüm in die benachbarte Ortschaft Tschîre, die von einem schützenden Wall umgeben war, zurückgezogen und beunruhigten von dort aus die Umgebung unseres Lagers. Ein Versuch, sie dort zu überfallen, schien unsererseits wenig ernst gemeint zu sein. Ich nahm teil an dem Zuge, um mich von dem Vorhandensein der Dattelpalme in Tschîre zu überzeugen; doch kaum waren wir nach etwa dreistündigem Marsch in die Nähe der Ortschaft gekommen und hatten fünf beim Kräutersammeln überraschte Frauen gefangengenommen, als wir beim Anblick von fünfzig bis achtzig heidnischen Reitern eilig den Rückzug antraten. Desto häufiger bekamen wir unliebsame Besuche von dort. Beständig umstrichen uns feindliche Reiter mit ihren schnellen, kleinen Rossen, stahlen jedes Stück Vieh, das nicht unter unseren Augen weidete, und erschlugen die Sklaven, die sich zu weit vom Lager entfernt hatten und nicht gerade zu ihrem Stamme gehörten. Es wurde von Tag zu Tag gefährlicher für die Frauen und Mädchen, selbst im nächsten Umkreis des Lagers, die Kräuter und Baumblätter zu sammeln, deren Abkochen den kümmerlichen Brei aus Erdnuß- oder Bohnenmehl einigermaßen schmackhaft machen mußte; ihrer manche kamen nicht wieder und wurden tags darauf erschlagen gefunden.«

Quelle: Gustav Nachtigal, Reise nach Bagirmi