„Singe
den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus“, so beginnt
die Ilias Homers, des vielleicht größten Dichters der
Menschheit.
Schliemanns Erbe
Auf den Spuren Homers –
Reisebericht
Vom Blute Poseidons (Thrakien)
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Wo Hera den Zeus verführte (Aiolien)
PAGEREF _Toc155975087 \h 4
Von Eetions heiliger Veste (Mysien)
PAGEREF _Toc155975088 \h 7
Wie Alexander den
Mimas zur Insel machte (Lydien)
PAGEREF _Toc155975089 \h 9
Die Pferde des
Mausolos (Ionien)
PAGEREF _Toc155975090 \h 10
Warum den pedasischen
Priesterinnen ein Bart wuchs (Karien)
PAGEREF _Toc155975091 \h 13
Wie Praxiteles die
Athene erschuf (Karien)
PAGEREF _Toc155975092 \h 14
In der Stadt der
wandelnden Toten (Karien)
PAGEREF _Toc155975093 \h 16
Der gekreuzigte
Polykrates oder Unter dem Amazonenfries (Karien)
PAGEREF _Toc155975094 \h 17
Vom Tod des Sehers
Kalchas (Ionien)
PAGEREF _Toc155975095 \h 18
Der Gefällte Löwe
des Lysippos (Mysien)
PAGEREF _Toc155975096 \h 19
Göttersitz auf dem
mysischen Olymp (Mysien)
PAGEREF _Toc155975097 \h 21
Durchs schollige
Askanien (Bithynien)
PAGEREF _Toc155975098 \h 21
Noch nie habe ich eine Reise so gut vorbereitet wie
diese, meine ohnehin gute Kondition durch tägliches
hartes Training noch mehr gestärkt, so daß meine
Belastbarkeit und Ausdauer diesem Vorhaben mehr als
gerecht würden. Doch nicht nur körperlich habe ich mich
in Bestform gebracht, sondern auch, was die Planung der
Sehenswürdigkeiten betrifft, habe ich akribisch genau
Vorarbeit geleistet. Die literarische Grundlage für
diese archäologische Reise sind die entsprechenden
Abschnitte aus Strabons Geographika, aber auch
die dazu passenden Passagen Plinius' des Älteren habe
ich eingepackt. Und da Strabon im wesentlichen auf
Homers Beschreibungen abhebt, durfte natürlich auch die
Ilias in meinem Reisegepäck nicht fehlen. Doch damit
nicht genug: Wer auf den Spuren der Argonauten wandelt,
dem gereicht Euripides' Medea zur Pflichtlektüre. Und da
wir ehemals persischen Boden betreten, ist auch Herodots
Geschichtsschreibung für eine eingehende Kenntnis der
Region unerläßlich. Natürlich bin ich nicht in der Lage,
die gesamten Werke mitzuführen, die vom Mithridatischen
Kriege handeln, und auch Alexanders Eroberungsfeldzug
berührt die Region nur am Rande, denn mein Ziel ist
Pontos, jene römische Provinz, die sich von Chalkedon
bis Armenien längs des Pontos Euxeinos, des Schwarzen
Meeres, hinzieht. Wie weit ich allerdings in den
äußersten Osten Kleinasiens vordringen würde, diese
Frage ließ ich mir offen, denn ich mußte, um dorthin zu
gelangen, zuerst Bithynien durchqueren und davor noch
die Troas. Und so wurde Troja die erste große
Anlaufstelle auf dieser Reise.
Der Abflug des Lufthansa-Fluges LH 3382 von München nach
Istanbul verläuft planmäßig. Mit dem Sitzplatz habe ich
diesmal kein Glück, ich sitze in der letzten Reihe,
umgeben von Familien mit schreienden Kindern. Etwa 15
min nach Abflug meldet der Pilot ein Problem; aus der
Küche ganz hinten seien Brandgerüche wahrzunehmen, so
daß er es für besser halte, umzukehren und in München,
wofür er bereits die Erlaubnis erhalten habe,
notzulanden. Nachdem ich nun am dichtesten am Brandherd
sitze, würde ich im Ernstfall auch als einer der ersten
ersticken, doch es bleibt mir nichts anderes übrig, als
auf meinem Sitzplatz auszuharren und darüber zu wachen,
ob die Rauchentwicklung nicht stärker wird. Doch nichts
von dem geschieht. Obwohl der Pilot sicher richtig
gehandelt hat und den Flug abbricht, haben wir nun doch
eine ganz erhebliche Verspätung in Kauf zu nehmen. Zudem
dirigiert uns die Verkehrsleitzentrale nach Frankfurt
um, also kann der Notfall nicht so schlimm gewesen sein
wie ursprünglich angenommen. Als wir über Frankfurt
Kerosin ablassen, glüht die von Nebelschwaden
eingehüllte Stadt in der untergehenden Sonne wie ein
Höllenfeuer oder wie nach einem Bombenangriff. Ich kann
mich weder mit meinem Hotel am Ankunftsort in Verbindung
setzen noch auch mit meinem Autovermieter, und abbrechen
kann ich den Flug auch schlecht, denn mein Gepäck
befindet sich bereits an Bord der Ersatzmaschine. So
also endet der Flug der „Flensburg“ mit dem amtlichen
Kennzeichen D-AIRY vorzeitig, aus einer überspitzten
Nervosität oder einer wirklichen Notsituation geboren.
In den frühen Morgenstunden komme ich nach nächtlicher
Irrfahrt in einer unbekannten Großstadt in meinem Hotel
an.
Nach einem späten Erwachen gilt es zunächst, den
Vororten Istanbuls zu entrinnen, doch das ist nicht so
leicht. Durch unfallbedingte Staus, unzählige
Sonntagsausflügler auf der Straße, gerät unser
Fortkommen ins Stocken. Es ist zudem drückend heiß,
nichts ist ausgeschildert, und das treibt uns, nachdem
wir uns die ersten paar Male verfahren haben, den
Schweiß auf die Stirn. Da wir uns bewußt für ein
Fahrzeug ohne Klimaanlage entschieden haben, können wir
den Fahrtwind erst so richtig genießen. Rasch haben wir
die letzten Trabantenstädte im Süden Istanbuls hinter
uns gelassen, als plötzlich, bei gänzlich wolkenlosem
Himmel, die Propontis vor uns auftaucht, tiefblau
eingefärbt und ohne nennenswerte Wellen. Ein leichter
Dunst, der über dem Meer schwebt, vermag dieser
Landschaft des nördlichen Thrakiens kaum etwas von dem
zu nehmen, was sie heute ohnehin nicht mehr besitzt,
nämlich Reiz: baumlos abgemagert, nach Feuchtigkeit
dürstend, kauert sich die Natur – beinahe als würde sie
sich schämen – furchtsam wie die Menschen, die sie
hervorbringt, karg vor uns nieder. Diese Welt paßt so
gar nicht zu den Mythen, den Sagengestalten und Heroen,
von denen Homer uns erzählt. Blaß und fahl nimmt sie
sich aus, und wer immer die Verse des Euripides aus der
Medea aus seiner Erinnerung abruft, würde wohl erst
recht nicht verstehen, worin der Reiz dieser Landschaft
bestanden hat, den sie vor undenklichen Zeiten einmal
gehabt haben mag. Wie recht müssen wir da dem Dichter
geben, der sagte, es wäre besser gewesen, „daß auf den
Waldhöhn Pelions die Fichte nie gefallen wäre.“
Die Wirklichkeit reißt mich aus meinen Träumen, als wir
Herakleia erreicht haben. Doch nichts ist geblieben vom
Glanz der griechischen Stadt, allein ihr heutiger Name,
Marmare Eregli, erinnert noch an Herakles, den stärksten
Mann der Antike. Die Ruinen, die wir entdecken, scheinen
aber vielmehr auf die byzantinische Stadt Perinthos
hinzudeuten, wohingegen sich die Reste der antiken
griechischen Stadt unter dem Schuttberg jenes Hügels
befinden dürften, der auf der weit ins Meer
vorspringenden Landspitze liegt. Der natürliche Hafen
der Stadt sowie ihre erhöhte Akropolis dürften
griechische Siedler nahezu eingeladen haben, hier eine
Pflanzstadt zu gründen. Wertet man die abgetragenen und
völlig überwachsenen Reste des einstigen Amphitheaters
tatsächlich als das, was es vorzugeben scheint, so ist
die Existenz dieser Stadt, die schon bei Strabon erwähnt
wird, jedenfalls gesichert. Hat man die wenig
ersprießliche Umrundung des Burgbergs vollzogen, so läßt
sich abgesehen von den vielen und den Abmessungen nach
recht stattlichen Schlangen, auf die man allenthalben
tritt, nur mehr wenig Aufregendes finden. Durch die
Überbauung sieht ein ungeschultes Auge auch die
deutlichen Spuren der Antike nicht, wenn sie sich ihm
nicht sinnfällig aufdrängen. Auch keiner der Befragten
kann uns etwas Genaueres über die Relikte der
Vergangenheit erzählen, die meisten wissen noch nicht
einmal etwas davon. Bei Tekirdağ, dem bei Herodot
erwähnten Bisanthe, verlassen wir die Hauptstraße und
halten uns in Nähe zum Meer, auf einer weniger gut
ausgebauten Straße zwar, dafür aber einer landschaftlich
um so reizvolleren. Hinter Kumbağ wird die Küstenstraße
mautpflichtig. Vermutlich sind es die hohen
Unterhaltskosten für diese hinsichtlich des
Geländefahrens keine Wünsche offenlassende Piste, die
die Regierung zu einer Mauterhebung zwingen. Natürlich
hat dieser ganze Küstenstrich zwischen Kumbağ und
Mürefte hohen Freizeitwert, zumal sich an den Abhängen
des Heiligen Berges, der, wie es bei Strabon heißt,
gleichsam eine Burgveste der Gegend ist, noch
ausgedehnte Wälder erhalten haben. Alles steht in
einzigartiger Blüte, Blumen prangen an den
abschüssigsten Kehren und nehmen letzteren einen Teil
ihrer Schrecklichkeit. Wir können es am Ende kaum
glauben, daß wir dieses Stück, das mit Furchen, Rillen
und Bodenwellen durchsetzt und von Gesteinsbrocken
übersät ist, gemeistert haben. Belohnt wird unser Mut
mit atemberaubenden Tiefblicken aufs blaue Meer, an dem
die Steilküste nicht so sehr zum Baden einlädt als zu
einem Picknickaufenthalt. Idyllische Dörfer, die in
ihrer Weltabgeschiedenheit vor sich hinträumen, bringen
gelegentlich Abwechslung in die sonst rauhe Szenerie. Es
ist aber weniger die Schroffheit des Ganos-Massivs als
seine Höhe, aus der es steil ins Meer abfällt und die
immer mehr abnimmt, je weiter wir die Dardanellen
hinuntergelangen. Die Gegenküste rückt näher, dort
drüben, wohin unsere Aufmerksamkeit gerichtet ist, liegt
Kleinasien, welches zu durchforsten wir uns zur Aufgabe
gesetzt haben. Den mehrheitlich zu einem Badeaufenthalt
einladenden Orten, die wir nacheinander passieren,
müssen wir leider eine Absage erteilen, zu knapp
bemessen ist unser zeitlicher Spielraum, denn das Hotel
in Çanakkale, der ersten Stadt auf asiatischer Seite,
die wir betreten, ist fest gebucht, und stornieren
lassen wollen wir die Reservierung nicht, nicht schon am
ersten Reisetag. Auf der Weiterfahrt legen wir noch
einen Stop vor Eceabat ein, bei einem verfallenen
osmanischen Fort, dessen Aufgabe es zu Zeiten des
Osmanischen Reichs war, die Meerenge zu überwachen.
Beinah dachte ich, wir könnten möglicherweise schon
Sestos erreicht haben, gegenüber von Abydos, doch seine
Reste finden wir nicht, auch später nicht. Hingegen
werden wir von einer türkischen Familie aufs
freundschaftlichste zum Essen eingeladen, doch ich
erfinde eine Ausrede, denn zu eng bemessen ist unser
Zeitplan. Ich glaube, daß ich unsere Gastgeber dadurch
gekränkt habe, aber für besondere Rücksichtnahme haben
wir leider keinen großen Spielraum. Um ehrlich zu sein,
habe ich für die Sehenswürdigkeiten auf europäischer
Seite auch gar keine Erkundigungen eingeholt, lediglich
um eine Besichtigung der Festung Kilitbahir unweit der
Fähranlegestelle kommen wir nicht umhin, zu
beeindruckend sind ihre Überreste. Ihre Aufgabe war es
gewesen, wie auch die der gegenüberliegenden
„Sultansburg“, die Durchfahrt der Schiffe an dieser
engsten Stelle des Hellesponts zu kontrollieren, und
diese Aufgabe mag sie seinerzeit auch bestens erfüllt
haben. Doch sind wir nicht an der Geschichte der Osmanen
interessiert, uns interessieren vorrangig die alten
Griechen, Perser und Trojaner, nur deswegen sind wir
hergekommen. Man muß diese engste Stelle der Dardanellen
allein schon deswegen gesehen haben, weil hier der
persische Großkönig Xerxes eine Schiffsbrücke über den
Hellespont errichten ließ, um sein Heer zum Angriff auf
Griechenland überzusetzen. Nicht auszudenken, was
passiert wäre, wenn die persische Invasion erfolgreich
verlaufen wäre. Das Abendland, wie wir es heute kennen,
hätte es so wahrscheinlich nie gegeben, denn die
persische Kultur, was immer sie auch zu bieten gehabt
haben mag, der griechischen vergleichbar ist sie
jedenfalls nicht. Es hätte keinen Alexander gegeben und
auch keinen Cäsar, und wie immer die Geschichte
ausgegangen wäre, unser kulturelles Erbe wäre verspielt
gewesen.
Man kann die militärische Leistung der Griechen, uns vor
den Persern bewahrt zu haben, gar nicht hoch genug
einschätzen. Wen wundert es da, daß selbst dem mächtigen
Xerxes angesichts der Größe seines Heeres, das größer
war als alle Heere, die jemals ein Sterblicher angeführt
hat, die Tränen über die Wangen liefen, als er während
der Musterung von Landheer und Flotte von seinem hoch
über Abydos errichteten Sitz den gesamten Hellespont mit
Schiffen bedeckt sah und die Ebene von Abydos mit
Menschen übersät wie Garben auf dem Felde. Was er unter
sich sah, soweit er es überblicken konnte, belief sich,
allein gemessen an seinem Landheer, auf 1,7 Millionen
Menschen. Sieben Tage und sieben Nächte dauerte es, bis
das Heer unter den Peitschenhieben der Aufseher
übergesetzt war. Nie zuvor hatte die Welt eine größere
Menschenmenge unter Waffen gesehen. In seinem Übermut
ließ Xerxes den Hellespont geißeln, ihm sämtlich
dreihundert Peitschenhiebe verabreichen, und die Ruten
der Einpeitscher schwangen schnalzend durch die Lüfte,
zu Tausenden sah man sie ihre Geißeln im Rhythmus der
Zimbeln und Trommeten wieder und wieder auf die
Wasserfläche klatschen, den Gott zu züchtigen, dessen
Blut das Meer rot färben sollte. Und nun ist dieses
Wissen in Vergessenheit geraten, in den Tiefen der
Meeres, auf dem Grunde des Hellespont, liegen irgendwo
die goldene Schale und der goldene Mischkrug und das
persische Schwert, die Xerxes voller Verachtung den
Fluten übergab. Wehe ihm! Da er die Gottheit dadurch
erzürnte, konnte seinem Unternehmen kein Erfolg
beschieden sein. Das ist es, wessen wir auf der
Überfahrt stets gedenken sollten, auch wenn wir den
Hellespont in umgekehrter Richtung überschreiten, uns
Kleinasien erobern, wie es später Alexander tat.
„Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus, ihn,
der entbrannt, den Achaiern unnennbaren Jammer erregte
und viele tapfere Seelen der Heldensöhne zum Ais
beförderte, aber sie selbst zum Raub darstellte den
Hunden und dem Gevögel umher.“ Also beginnt die Ilias,
das größte Epos der Menschheit, Homers genialer Feder
entsprungen. Es ist ein Tag, der das Größte bringen mag,
um mit Schopenhauer zu reden, wessen Menschen sich
befleißigen können: alten Heroen nachzueifern, am
Schauplatz ihrer Wirkungsstätten einzukehren und dort zu
verweilen, wo die Gebeine der Verblichenen zu reden
beginnen: „Einst wird kommen der Tag, da die heilige
Ilios hinsinkt, Priamos auch und das Volk des
lanzenkundigen Königs.“ Was sich hier wie ein Unheil
ankündigt, hat 25 km südlich von Çanakkale
stattgefunden, auf einem bewaldeten Höhenzug, dem Hügel
von Hisarlık, dessen Lagebeschreibung so gar nicht mit
dem zusammenpaßt, was Homer darüber verlauten läßt.
Als erstes wird jeder sich fragen, der das erste Mal
nach Troja kommt: „Wo liegt das Ida-Gebirge?“ denn die
umgebende Landschaft hat weder Gebirgscharakter noch ist
irgendein Gebirge, zu dessen Füßen Troja gelegen hat,
auch nur in der Nähe. Zum zweiten hat man Probleme
damit, daß Ilion von zwei Flüssen umströmt gewesen sein
soll, denn beide größeren Flüsse fließen südöstlich an
Troja vorbei. Drittens erwartet man von einer Stadt, die
einer ganzen Nation getrotzt haben will, eine größere
Flächenausdehnung. Doch Strabon selbst gibt uns darauf
die Antwort. Alle Steine, sagt er, seien nach der
Zerstörung Trojas abtransportiert worden und hätten bei
der Errichtung des Achilleions Verwendung gefunden.
Warum ausgerechnet die Ruinen auf dem Burgberg von der
Abtragung verschont geblieben sind, erschließt sich uns
ebensowenig wie die Tatsache, daß die Menge der Steine,
aus denen das Achilleion erbaut wurde, bei weitem nicht
der Menge von Steinen entspricht, die abgetragen worden
sein muß, wollte man etwa eine ganze Stadt
abtransportieren. „Wo also ist der Rest an Steinen aus
Troja?“ müssen wir uns fragen. Dabei ist der Umfang des
Burgbergs, wie wir nach eingehender Erkundung
feststellen müssen, so gering auch wiederum nicht, daß
da nicht Platz für den Palast einschließlich einer
Oberstadt gewesen wäre. Freilich gilt es festzuhalten,
daß längst nicht alles ausgegraben wurde, was man zutage
hätte fördern können. Sich aus dem wenigen eine
hinreichende Vorstellung vom einstigen Aussehen des
alten Troja machen zu können, ist ohne Zuhilfenahme von
Rekonstruktionen auch gar nicht möglich. Ob dieses Troja
nun auch das des Dichters Homer ist, muß weiterhin eine
offene Frage bleiben, nach allem aber, was wir darüber
gelesen haben, ist mit ziemlicher Sicherheit davon
auszugehen, daß es mit demjenigen identisch ist, nach
dem die Wissenschaft so lange gesucht hat. Das
Schiffslager der Griechen muß allerdings kilometerweit
von der Stadt entfernt gewesen sein, vermutlich dort, wo
heute das Achilleion liegt; auch dürften die Flüsse
Simois und Skamander ihren Lauf seit der Antike geändert
und viel Schwemmland aufgeschüttet haben, wie wir es von
Milet kennen. Nach ihrem heutigen Lauf hätten die
Griechen jedesmal bei einem Angriff zuerst zwei Flüsse
überschreiten müssen. Wie dem auch sei, der
Ungereimtheiten gibt es immer noch viele, vielleicht hat
ja der Trojanische Krieg in echt auch nie stattgefunden
und sich lediglich in den Hirnen derer festgesetzt, die
Homers Erzählung gehört haben, mit einem Körnchen
Wahrheit daran. Vielleicht werden wir nie
herausbekommen, was es damit auf sich hat. Wo einst in
der skamandrischen Ebene Heere der Griechen und Trojaner
und ihrer Verbündeten aufeinandertrafen, liegen heute
fruchtbare Felder. Damit Streitwagen eingesetzt werden
konnten, mußte einst harter Untergrund vorhanden gewesen
sein. Versuchen wir uns nun vor unserem geistigen Auge
vorzustellen, wie Achilleus, Hektors Leichnam an seinen
Streitwagen bindend, diesen bis zum Schiffslager der
Griechen schleift. Die unsterblichen Götter – ihr Hauch,
den sie über dieser Landschaft verströmten, man spürt
ihn heute nicht mehr –, längst sind sie auf die Höhen
des nahen Olymps entschwunden, nachdem ihre Schützlinge
ihr irdisches Leben ausgehaucht hatten, ihre Asche über
den Fluren Trojas verteilt war, vielen Heldensöhnen zu
ewigem Ruhme gereichend. Unweit von hier, an den
Gestaden des ewig blauen Meeres, wo Thetis dem Wasser
entstieg, den Sohn zu trösten, wurde der Leichnam
Achills, der mit seinen Myrmidonen stets wie ein
Donnergewitter unter die Trojaner fuhr und ihre Reihen
ins Wanken brachte, verbrannt. Ihm zu Ehren wurde das
Achilleion errichtet, ein Mahnmal, das als ein Symbol
für den Sieg der Danaer über die Trojaner steht. Es
befindet sich an der Stelle, wo der Skamander sich ins
Meer ergießt, wo der Hellespont sich zum Ägäischen Meere
weitet.
Nach einer Irrfahrt von einer knappen Stunde haben wir
die Stelle endlich gefunden, Soldaten verwehren uns den
Zutritt. Der wachhabende Offizier weiß nicht einmal um
die Bedeutung des geschichtsträchtigen Bodens, auf dem
seine Kaserne steht. Da meint er nach längerem
Überlegen, dies sei die Festung Kumkale, und schickt uns
Richtung Yeniköy. Wir bemerken jedoch den Schwindel bald
und fahren, um uns dort einen Überblick zu verschaffen,
auf die nächstgelegene Anhöhe. Diese ist aufgelassenes
militärisches Sperrgebiet. Von den Bunkern und
Geschützstellungen, die von dort aus den gesamten
Hellespont überstreichen konnten, hat man einen
fantastischen Blick hinab auf die Küste, wo einst die
Griechen ihre Schiffe an Land gezogen haben und wo das
griechische Schiffslager sich befunden haben mag. Von
hier sind es noch mehrere Kilometer, die die Heere
marschieren mußten, wenn sie sich in der Skamandrischen
Ebene zur Schlacht aufstellten.
Gleich zu Beginn des Rundgangs, direkt am Eingang zum
Ausgrabungsgelände, überrascht das riesengroße Hölzerne
Pferd, welches die Griechen auf den Rat des
listenreichen Odysseus am Strand zurückließen, damit die
Trojaner es als Siegestrophäe in ihre Stadt mitnähmen.
In seinem hohlen Innern aber hielten schweigend sich
Danaer versteckt, bis die Zeit gekommen war, da die
Trojaner, vom Siegestaumel trunken und vom Weine
berauscht, in tiefem Schlafe liegend, nicht merkten, daß nachts
waffenklirrende Männer dem Bauche des Pferdes entstiegen
und dem mit der Flotte zurückkehrenden Heere die Tore
öffneten. Die wutentbrannten Achaier legten darauf die
ganze Stadt in Schutt und Asche, mordend und plündernd
keinen Stein auf dem anderen lassend, auf daß die
heilige Ilios hinsank, „Priamos auch und das Volk des
lanzenkundigen Königs“. Warum aber der Künstler nicht
versucht hat, dem Original in irgendeiner Weise gerecht
zu werden, und Aufbauten mit Fenstern auf sein Modell
gesetzt hat, was dem Ganzen den Hauch des Lächerlichen
verleiht, muß eine offene Frage bleiben.
Nachdem wir Troja und seine Umgebung ausgiebig
durchforstet haben – das in der Schwemmlandebene
gelegene Hasan Kalesi war unauffindbar –, machen wir uns
auf den Weg nach Alexandria Troas, von dem noch gut
Reste der Thermen des Herodes Atticus erhalten sind.
Dieser war einer der reichsten Männer seiner Zeit und
hat das nach einem Erdbeben eingestürzte Bauwerk aus
eigenen Mitteln glanzvoller und prächtiger als vorher
wiedererrichten lassen. Auch ein Apollontempel ist in
seinen Fundamenten noch gut erkennbar. Die einst
Antigoneia genannte Stadt war von dem Diadochen
Antigonos I. Monophthalmos zur Hauptstadt seines Reiches
auserkoren worden, durch spätere Erdbeben zerstört,
wurde sie jedoch aufgegeben.
Unser nächstes Ziel ist der Tempel des Apollon
Smintheus, worin einige Strabons Chryse erkennen wollen,
doch gesichert scheint diese Annahme nicht. Chryseis war
nach Homer die Tochter eines Priesters, sie wurde von
den umherstreifenden Griechen gefangengenommen und dem
Feldherrn Agamemnon zum Geschenk gemacht. Weil dieser
sie selbst auf Weisung des Sehers nicht freigeben
wollte, sandte Apollon mit seinen nie fehlenden Pfeilen
die Pest ins Lager der Griechen herab, und wer getroffen
wurde, den raffte die Krankheit unbarmherzig dahin. Erst
nachdem Chryseis von Agamemnon die Freiheit geschenkt
worden war und ihr Vater sie in seine Arme schließen
konnte, endete die Seuche unter den Griechen.
Nur einen Abstecher von Chryse entfernt lag auf der
Lekton genannten Landzunge ein von Agamemnon erbauter
Altar der zwölf olympischen Götter, von dem sich aber
nicht einmal mehr Ruinen erhalten haben. Alles, was wir
herausbekommen, ist, daß dieser auf dem markanten
Berggipfel gestanden hat, der über dem Hafenbecken
aufragt. Eine alte osmanische Festung, Babakale, die
sich heute in Händen des Militärs befindet, ist alles,
was es an diesem westlichsten Punkt Anatoliens zu sehen
gibt. Der gleichnamige Ort gruppiert sich malerisch um
ein natürliches Hafenbecken, das ehemals Seeräubern als
Stützpunkt diente. Auf meine Fragen nach dem Verbleib
antiker Spuren und Überreste des antiken Hamaxitos,
wobei ich mich in allen möglichen Sprachen ausdrücken
muß, bekommen wir von den Bewohnern keine schlüssige
Auskunft. Statt dessen führt man uns zu dem Hotel
Lekton, was uns wieder einmal beweist, daß sich die
Leute nicht im geringsten für ihre eigene Geschichte
interessieren, sondern viel lieber einen Deal mit uns
machen würden. Der französisch sprechende Besitzer des
Hafenrestaurants vermag uns noch am ehesten verwertbare
Andeutungen zu machen, doch sind seine Auskünfte
wiederum zu vage, als daß wir ihnen nachgehen wollen.
Enttäuscht wenden wir uns ab und kehren nach Gülpınar
zurück, um von dort weiter nach Assos zu gelangen. Es
ist eine schwach befahrene Straße, die uns nach gut 55
km dort hinbringt. Schon von weitem sieht man den
Burghügel über dem Meer aufragen, gegenüber steht tief
in den Dunst der untergehenden Sonne getaucht das
gewaltig aus dem Meer sich erhebende Lesbos. Die
mächtigen Mauern aus dem zweiten vorchristlichen
Jahrhundert sind ein eindrucksvolles Zeugnis
griechischer Festungsbaukunst, einst waren sie bis zu
neunzehn Meter hoch. Assos hat im Lauf seiner Geschichte
nie Bedeutung erlangt, obwohl es als die am schönsten
gelegene griechische Stadt in Kleinasien und im gesamten
Mittelmeerraum gilt. Aristoteles hat sich hier insgesamt
drei Jahre aufgehalten und seine Schule gegründet, und
wahrlich, wer auf der Akropolisspitze zwischen den
Säulen des rekonstruierten Athenetempels steht und auf
den Golf von Adramyttion hinabschaut, den überkommt wie
jeden, der dieses erlebt und die gegenüber sich zu
ansehnlicher Höhe aufschwingende Insel Lesbos sieht, ein
Gefühl von erhabener Größe. Als die Sonne im weichen
Abendlicht ihren Glanz allmählich verliert, das Gestein,
aus dem die Mauern errichtet sind, noch tiefer karminrot
erscheinen läßt, fassen wir unser letztes Ziel des
heutigen Tages ins Auge, den hoch über Küçükkuyu
gelegenen Zeusaltar, von wo aus der Göttervater über den
Trojanischen Krieg wachte. Durch Pappelhaine und
Kiefernwäldchen des majestätischen Ida-Gebirges
aufsteigend, wo es allenthalben nach frischem Harz
duftet, gelangen wir auf himmlischen Pfaden zu dem auf
einem Felsabsturz gelegenen Altar, hinter dem sich nicht
mehr und nicht weniger verbirgt als ein mit Hammer und
Meißel behauener Felsklotz. Hier soll Hera den
Göttervater, um ihn vom Kampfgeschehen abzulenken,
verführt haben (ein wegen des großen Besucherandranges
nicht zur Nachahmung empfohlenes Vorhaben). Das Zirpen
der Grillen und das Rauschen des Windes lassen dafür die
fantastische Aussicht von dort droben desto schöner
empfinden. Unter uns befindet sich eine den
erschreckenden Anblick einer Verstädterung bietende
Ferienregion mit zahlreichen Hotel- und
Apartmentanlagen, die sich längs des gesamten
Steilküstenverlaufs bis Edremit hinziehen. Unter all
dieser Bebauung befinden sich irgendwo die Reste der
griechischen Städte Antandros und Astyra; wir indes,
wohl wissend, daß es sie geben muß, geben die Suche
danach in dem Gewirr von Häusern auf – es erschiene uns
wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Als ich an diesem Abend nach Sonnenuntergang endlich ein
Hotel finde, stoße ich unerwartet auf eine mit sehr viel
Gastlichkeit erfüllte Pension in intimer Atmosphäre. Der
junge Mann an der Rezeption erweist sich als äußerst
wißbegierig, will sogleich alles über mich wissen, und
schließlich stellt sich heraus, daß er sich für den
gleichen Studiengang entschieden hat wie ich dereinst.
Nun palavern wir hin und her, als sich unerwartet seine
Chefin vorstellt, eine äußerst attraktive und für eine
Türkin ausgesprochen emanzipierte Frau. Sie interessiert
sich sehr dafür, woher ich komme und wohin ich gehe.
Auch wenn ich kein Türkisch spreche, so wird mir aus
dem, was sie soeben zu ihrem Angestellten gesagt hat,
dennoch klar, daß es etwas Unfreundliches gewesen sein
muß, denn ihr Ton ihm gegenüber ist überaus dominant und
auf Züchtigung erpicht. Darauf angesprochen, ob sie
seine Chefin sei, antwortet mir unser Student, daß er
sie haßt. In ihrem Zorn finde ich sie noch attraktiver,
und sie übt einen eigenartigen Reiz auf mich aus. Sie
besitzt ein bestechend schönes, schmales Gesicht und
wirkt sehr edel, dazu ist sie blond und blauäugig, was
für eine Türkin eher selten ist; doch was mich neben der
gestrengen Art, wie sie sich gibt, am meisten an ihr
reizt, ist ihre ausladende Weiblichkeit. Sie ist eine
der Frauen, die man so leicht nicht vergißt. – Über
ihren Verführungskünsten verlor ich das Ziel
meiner Reise aus den Augen. Auf den Spuren der Argonauten wollte ich
wandeln, auf der Suche nach dem Goldenen Flies; das
sagenhafte Kolchis anzuschauen war ich ausgezogen, doch
nun zog es mich wie magisch gen Süden.
Am nächsten Morgen verließ ich, noch ehe sich etwas
regte, unerkannt das Haus, um mit dem Unbekannten und
der Weite, die vor mir lag, alleine zu sein. Wohlan, ich
hätte an dem schönen Strand von Ören, wie Odysseus bei
Zirze, noch länger verweilen können, denn es wartete auf
mich zu Hause keine Penelope. Der Tag als solcher war,
wohl auch, weil ich zu unkonzentriert war und in meinen
Gedanken nicht bei der Sache, was meine archäologischen
Recherchen angeht, kein guter. So finde ich weder Spuren
von Adramyttion noch solche von Thebe, beides bei
Strabon erwähnte Städte, obwohl sie beide auf meiner
Karte eingezeichnet sind. Doch das will nichts heißen;
oft schon genügt das bloße Wissen, wo man, sofern noch
etwas vorhanden ist, suchen muß, um fündig zu werden.
Die Ruinen von Thebe beispielsweise sind auf der Karte
zwischen Kızıklı und Büyükdere eingetragen.
Tatsächlich
versichern mir einige Einheimische glaubhaft, daß der
Ort mit dem ähnlich klingenden, verräterischen Namen das
alte Thebe sei, Eetions heilige Veste, doch als ich dann
nach Beweisen verlange, müssen alle, die ich danach
gefragt habe, passen. Keiner weiß, wo sich die Reste
befinden. Enttäuscht fahren wir zurück. Ein junger Türke
bietet uns seine Hilfe an, indem er meint, daß auf
türkischen Karten nicht immer die gleichen Namen
verzeichnet seien wie auf europäischen, doch wenn wir
ihn mitnähmen, würde er in einer Buchhandlung Einsicht
nehmen, und dann glaube er uns mehr darüber erzählen zu
können. Wenngleich wir seine Bemühungen beeindruckend
finden, sie bleiben erfolglos. Im ganzen Ort Burhaniye
scheint es keinen Laden zu geben, der Karten verkauft.
Wir verabschieden uns deshalb und geben das Vorhaben
auf.
Den gleichen
Fehlschlag erleben wir noch ein zweites Mal, als wir auf
der Suche nach Kanai bei Altınova Richtung Kıratlı
abbiegen und uns dann weiter nach Nebiler durchfragen.
Die ganzen Bergdörfer in dieser Region scheinen
menschenleer, ganz anders als was wir bisher gewohnt
waren; keine Menschenseele ist anzutreffen, alles wirkt
verlassen oder aufgegeben. Desto majestätischer
gestaltet sich die Natur: alte ausgefranste
Vulkanschlöte ringsum, die in wilden Formen die
Berggestalten prägen. Auch mag die Straße, an der sich
nicht eine einzige Beschilderung findet, zu selten
befahren werden. Binnen weniger Minuten erreichen wir
atemberaubende Höhen, die den Dunst der Niederungen
verblassen lassen, während der Himmel sich in einem
immer bestechenderen Blau zeigt. Unvermutet geraten wir
in unüberschaubares Röhricht, und wo Wasser fließt, sind
meist auch menschliche Ansiedlungen nicht weit. Die
urtümliche Felslandschaft, die sich dahinter verbirgt,
könnte in der Tat unseres Rätsels Lösung sein. Doch die
Unzugänglichkeit eines vor uns aufragenden Felsturms
hindert uns daran, ihm auf den Grund zu gehen. Um unsere
Erfolglosigkeit doch noch durch ein Erfolgserlebnis zu
verwischen, wenden wir uns sichereren Zielen zu, denn
nachdem wir auch Atarneus und Teuthrania nicht
ausgeschildert finden und kein Mensch weit und breit
hier englisch zu sprechen scheint, ja nicht einmal
unsere türkisch gesprochenen Brocken richtig zu deuten
weiß, bleibt uns nur der Burgberg von Pergamon als
Entschädigung. Den kenne ich noch von früher, so daß die
Besichtigung zur reinen Routinesache wird. Was es dort
zu sehen gibt, ist an anderer Stelle beschrieben.
Wieder mutiger
geworden, widmen wir uns erneut einer schwierigeren
Aufgabe. Im Dorf Dağıstan erkundige ich mich nach
Gambrion, aber die umständlichen Erklärungen der
Befragten führen uns nur in die Irre. Dabei waren wir
unserem Ziel schon so nahe, denn auf der Präfektur habe
ich ein Säulenkapitell entdeckt, das, wie könnte es
anders sein, gewiß aus Gambrion stammt. Damit meine
Neugier nur ja nicht zu rasch befriedigt werden kann,
lasse ich mich von einem alten Mann auch noch zum Tee
einladen. Es ist in der Tat etwas beklemmend, mit
jemandem Konversation zu treiben, der deine Sprache
nicht versteht und du nicht die seine. Bei all unseren
Mißerfolgen wagen wir es schon gar nicht mehr, nach
Apollonia zu fragen, geschweige denn, daß es einen
ersichtlichen Weg dorthin gäbe. Um nun aber das Maß
vollzumachen, verfehlen wir auch noch Teuthrania,
welches wir noch aus der Ferne sehen, zu spät
allerdings, denn umkehren werden wir deshalb nicht mehr,
sondern behalten uns dieses Ziel für die Rückfahrt vor.
An unbedeutenden
Stätten vorbei geht es weiter nach Çandarlı, wo das
genuesische Seekastell Pitane, das aus dem 13.
Jahrhundert stammt, die Aufmerksamkeit des Besuchers
weckt. Das kleine Städtchen ist übrigens ein netter
Badeort und lädt zum Verweilen ein. Gleich darauf
überqueren wir den Kaikos; für die aiolische Stadt Elaia
können wir keine Zeit mehr erübrigen. Der nun folgende
Abschnitt über Aliağa bis zur Abzweigung nach Phokaia
ist einer der häßlichsten bisher, doch nicht
landschaftlich, sondern weil sich hier die
Schwerindustrie angesiedelt hat, die kilometerweit
Rauchschwaden in die Natur pustet. In puncto
Umweltschutz hat nämlich die Türkei noch vieles
nachzuholen. Insbesondere das antike Kyme scheint
restlos ausgelöscht, zumal sich über ihm besagtes
Kohlekraft- bzw. Stahlhüttenwerk befindet. Dabei ist die
hier beginnende Rundfahrt über Phokaia landschaftlich
äußerst reizvoll, der Blick auf den Elaïtischen
Meerbusen atemberaubend. Geradezu grandios ist die
Einfahrt in die Bucht von Phokaia. Der Weitblick ist
hier derart ausgedehnt, daß das Auge über die
Sirenen-Inseln, die Karaburun-Halbinsel, auf die Insel
Uzun Ada, den Gülbahçe Körfezi und den Isthmus von Teos,
auf dem sich Klazomenai befindet, streicht.
Phokaia war die
erste Stadt, die die Perser unter Harpagos eroberten.
Nur geringe Reste an antiken Bauten haben sich erhalten,
das jüngst ausgegrabene Theater, das älteste in ganz
Aiolien, Teile der Stadtmauer und des Kybele-Tempels.
Der Kybele-Kult ist kleinasiatischen Ursprungs und wurde
später von den Römern als Magna-Mater-Kult übernommen.
In der Antike war Phokaia die nördlichste Stadt Ioniens.
Der Athena-Tempel direkt am Eingang zum alten Hafen muß
beeindruckend gewesen sein. Die Phokaier werden von den
alten Geschichtsschreibern (Herodot, Thukydides) häufig
genannt. Über der Stadt befinden sich seltsam geformte
Felsen, die Spuren einer Bearbeitung aufweisen. Welchen
Kulten hier nachgegangen wurde, scheinen diese
geheimnisumwitterten Felsformationen nicht preisgeben zu
wollen. Von den bizarren Felsgebilden bietet sich der
mitunter herrlichste Blick auf die Stadt und jene
Inseln, die durch die Odyssee als Sitz der Sirenen
Berühmtheit erlangten.
Als wir Phokaia
verlassen wollen, stehen wir unvermittelt an einer
militärischen Absperrung. Man will uns zunächst nicht
passieren lassen, frägt uns, wohin wir wollen. Plötzlich
scheint der in Weiß gekleidete Offizier durch die
Einflüsterungen eines Soldaten, der gerade seinen
Heimurlaub antritt, auf die glorreiche Idee zu kommen,
daß seine Leute umsonst mit uns mitfahren könnten. Man
wolle uns den Weg weisen, lautet die Begründung. Da ich
einen längeren Umweg vermute, als sich anschließend
herausstellt, bleibt uns nichts anderes übrig, als zwei
der Kadetten mitzunehmen. Es kommt weiters zum
Vorschein, daß einer unserer Offiziersanwärter seine
Prüfungen nicht bestanden hat und demnächst aus dem
Militärdienst ausscheidet. Was er danach machen wird,
weiß er noch nicht. Türken sind sehr hilfsbereit,
manchmal zu freundlich, so daß ich schon argwöhnte,
unser „Retter in der Not“ möchte uns bis Kuşadası
begleiten, und ich ihm klarmachen muß, daß ich ihn nicht
weiter mitnehmen wolle als bis İzmir. Sein Englisch ist
nicht gerade flüssig, dementsprechend anstrengend
gestaltet sich die Konversation mit ihm. Als er uns in
Konak verläßt, scheint er ein bißchen eingeschnappt zu
sein, doch war ihm unser Standpunkt, daß wir in erster
Linie hierhergekommen sind, um uns ungestört
Sehenswürdigkeiten anzuschauen, einfach nicht
klarzumachen.
Wir indes haben
bereits ein neues Ziel vor Augen, Klazomenai, das wir
nach einigem Herumfragen, aber auch, weil man mit der
Zeit einen ausgesprochenen Instinkt dafür entwickelt, wo
griechische Städte sich verbergen könnten, tatsächlich
finden (bei Troja, das keine griechische Stadt ist,
hätte uns dieser Instinkt allerdings im Stich gelassen).
Nur durch puren Zufall entdecken wir ein Hinweisschild,
das uns die Stelle bezeichnet. Wir haben insofern Glück,
als hier gerade Ausgrabungen stattfinden, aber selbst
unter Archäologen wird Englisch in der Türkei eher
selten gesprochen, was mich wundert, weil sämtliche
Publikationen heute überwiegend in dieser (meiner
Meinung nach gar nicht so sehr dafür geeigneten) Sprache
erfolgen. Mit einem Wink zeigt uns der Mann auf meine
Frage, wo sich denn die Akropolis befinde, den Standort
und meint weiter, daß man auf sie hinauffahren könne.
Gesagt, getan! Dort oben ist niemand außer uns, doch
konnten wir von unten noch nicht erahnen, welch
spektakuläre Aussicht sich dort oben bieten sollte. Der
gesamte Hermäische Meerbusen, von Kap Çeşmealtı bis
İzmir, ist zu überblicken, und in wunderbaren Blautönen
leuchten die Wasser der Ägäis. Es müßte wahrhaft
beeindruckend sein, wenn die antike Stadt mit ihren
weißen Marmortempeln noch halbwegs erhalten wäre, doch
aufgrund der Überbauung ist Klazomenai, die Stadt, in
der der Philosoph Anaxagoras lebte, wie vom Erdboden
verschluckt. Geblieben von dem, was einmal war, ist nur,
was wir uns kraft unserer Phantasie als wiedererstanden
vorstellen können.
Klazomenai ist
natürlich nicht das einzige, was diese an Ausgrabungen
reiche Gegend zu bieten hat, denn meine Karte läßt mich
wissen, daß auch das antike Erythrai ganz in der Nähe
liegt, von jenem lediglich durch den Berg Mimas
getrennt, auf der anderen Seite der Karaburun-Halbinsel,
an der Bucht von Lytri. Sein Name lautet heute anders,
Ildır, doch allein schon seine Anfahrt ist berauschend,
da es in einer Landschaft liegt, wo Meer und Gebirge in
völliger Harmonie miteinander leben. Eine junge Frau,
die keinen türkischen, sondern einen eindeutig
griechischen Einschlag hat – so lange können
Vererbungsmerkmale sich in der Tat erhalten –, gibt uns
bereitwillig Auskunft über die Lage der Ruinen, aber es
wäre auch ohnedies unschwer zu entschlüsseln gewesen,
daß sich die Akropolis nur auf dem Berg über uns
befinden kann. Zunächst betreten wir das antike Theater,
von dem kaum mehr beeindruckende Reste erhalten sind,
doch je weiter wir die Akropolis hinaufsteigen, desto
eindrucksvoller wird der Blick auf die unter uns
liegende Bucht von Erythrai, die mit Inseln des Lichts
übersät ist. Erythrai hat wie Phokaia seinen Beitrag zur
Flotte der Griechen vor Lade geleistet, die Erythraier
mit acht, die Phokaier mit drei Schiffen. Auch an der
sizilischen Expedition hat es auf seiten der Athener
teilgenommen. Berühmte Männer und Frauen der Stadt sind
die Wahrsagerin Sibylla und der Arzt Heraklides. Wer
sich aber einmal die Mühe gemacht hat, bis hierher
vorzudringen, der wird auch noch die Kraft aufbringen,
bis Çeşme weiterzufahren, wo eine ottomanische Festung
das einzige von Interesse ist. Gegenüber verschwindet
die Insel Chios im Dunst, so daß sich unterwegs außer
einem Badestop keine nennenswerten Perspektiven ergeben.
Als Rückweg wählen
wir nun die perfekt ausgebaute Autobahn, der wir bis zur
Ausfahrt von Seferihisar folgen. Der Weg nach Teos, das
wir suchen, ist gut ausgeschildert, doch die Begegnung
fällt eher enttäuschend aus. Lediglich Reste eines
Tempels wurden bisher ausgegraben. Alexander soll damals
befohlen haben, den Isthmus von Teos zu durchstechen, um
Erythrai zu einer Insel zu machen. Über den Verbleib von
Lebedos vermögen wir ebenfalls nichts in Erfahrung zu
bringen. Während ich es der Eintragung meiner Karte
gemäß hoch in den Bergen vermute, meinen die Bewohner
der Umgegend es mehr in der Nähe des Strandes ansiedeln
zu müssen. Da wir jedoch auch dort keine Relikte der
Vergangenheit finden, geht es weiter nach Notion, wo wir
angesichts der vorgerückten Stunde erst gar nicht mehr
mit der Suche beginnen. Mit einsetzender Dämmerung
kommen wir nach Klaros, von dem noch deutliche Reste des
Wasserversorgungssystems zu sehen sind. Auch einige
überlebensgroße Götterplastiken: der sitzende Apollon,
seine Mutter Leto und die großbrüstige Artemis –
vermutlich handelt es sich um das griechische Pendant zu
der früher verehrten Kybele – wurden hier gefunden und
an ihrem ursprünglichen Orte wieder aufgestellt. Die
ganze Tempelanlage steht heute unter Wasser, und ich
denke, daß das nicht immer so war, denn seit der Antike
ist der Meeresspiegel gestiegen. Bemerkenswert ist noch,
daß es hier von Fröschen nur so wimmelt, die so
zahlreich sind wie anderswo die Grillen.
Damit wäre auch
schon unser nächstes Ziel erreicht, Neapolis, heute
Kuşadası. Von unserem Hotel bietet sich eine traumhafte
Aussicht auf die Hafenbucht, und zum Dinner gibt es
wieder den gewohnten Fisch. Das Restaurant, welches wir
gewählt haben, besticht vor allem dadurch, daß die
Kellner hier ihre Gäste im Laufschritt bedienen. Egal,
wie jung oder alt, unabhängig davon, was sie gerade in
Händen halten, die Kellner laufen, flink wie die
Windhunde, zwischen den Tischen hindurch, so daß wir uns
fühlen wie zu Sultans Zeiten, als die Bedienten noch um
ihren Kopf bangen mußten, wenn sie sich nicht rührig
zeigten. Nicht ein einziges Mal konnte ich beobachten,
daß einer etwas verloren hätte oder zwei
zusammengestoßen wären, doch wirkt dieses Theater derart
lächerlich, daß wir uns köstlich darüber amüsieren. Da
wir so etwas noch niemals irgendwo gesehen haben, halte
ich es für aufzeichnenswert.
Als über Neapolis
die Sonne erwacht, zieht es uns hinaus nach Ephesos,
bekannt durch das Sterbehaus der Muttergottes, die
Briefe des Apostels Paulus und vor allem durch seinen
größten Sohn, den Philosophen Heraklit, der den
berühmten Ausspruch getan hat: „Alles fließt“,
wenngleich der Satz nicht stimmt, denn nur die Zeit
fließt, d.h. die zeitlich veränderlichen Vorgänge.
Selbst der Raum, wenn man so will, ist in Bewegung, da
das Universum sich ausdehnt. Ein gewisser Trost, wenn
auch ein schwacher, daß auch Philosophen einmal irren
können! Denn was Heraklit nicht wissen konnte: Energie,
Impuls und Drehimpuls sind konstant, ebenso wie die
Geschwindigkeit des Lichts, das Plancksche
Wirkungsquantum und andere Naturkonstanten. Reich ist
die Geschichte von Ephesos, das ursprünglich gar nicht
an dieser Stelle stand, sondern erst auf Befehl des
Lyderkönigs Kroisos von seinem ursprünglichen Ort am
Pionberg hierher verlegt wurde. Ursprung der ersten
Stadt war ein lydischer Kybele-Tempel am Westhang des
Hügels, auf dem jetzt das Kastell steht. Androklos, der
Führer der ionischen Griechen, verlegte die Stadt nach
ihrer Eroberung an den Hang des Pionberges, der damals
wahrscheinlich die Akropolis trug. Im 7. Jahrhundert
zerstörten die Kimmerier, ein keltischer oder
germanischer Volksstamm, die Stadt, bis sie 555 v. Chr.
in die Hand des Lyderkönigs Kroisos fiel. Erneut wurde
die Stadt verlegt, und zwar zwang Kroisos die
Bevölkerung, sich mehr in der Nähe des Artemisions,
eines der sieben Weltwunder, anzusiedeln, von dem heute
nichts mehr zu sehen ist. Nach Alexanders Tod verlegte
Lysimachos die Stadt ein drittes Mal an den Südwesthang
des Pionberges und benannte sie nach seiner Gemahlin
Arsinoe, aber ihr alter Name blieb. Um der Stadt mehr
Einwohner zuzuführen, zerstörte Lysimachos die
Nachbarhäfen Lebedos und Notion. 262 n. Chr. zerstörten
die Goten die 190 v. Chr. unter pergamenische und später
unter römische Herrschaft geratene Stadt und mit ihr den
unvergleichlichen Artemistempel. Danach konnte Ephesos
seine frühere Bedeutung nicht mehr wiedererlangen, da
durch die Anschlämmungen des Kaystros inzwischen auch
der Hafen versandet war. Wir hätten uns wirklich etwas
mehr Mühe mit der Besichtigung geben können, aber da ich
schon einmal hier war und alles noch so war wie früher,
hielten wir uns nur kurz damit auf.
Zurück in Kuşadası,
schlagen wir nun Kurs Richtung Samos ein, wo das
Panionion liegt, von dem wir aber nur mehr kaum
erkennbare Reste eines Odeions finden. In der Nähe liegt
auch die berühmte Zeus-Grotte. Obwohl es sicher
entspannender wäre, die lichten Pinienwälder auf der
Landspitze von Panionion zu durchstreifen und auf die
Insel Samos hinüberzublicken, fahren wir zurück, um das
Mykale-Gebirge herum, um uns auf der anderen Seite die
Stadt Priene vorzunehmen. Während meines ersten
Priene-Aufenthalts vor vielen Jahren haben sich mir
etliche Dinge nicht erschlossen, und dies nun
nachzuholen habe ich mir jetzt zum Ziele gesetzt.
Insbesondere würde ich gern den Akropolisberg besteigen,
doch da die Temperaturen in der Hitze des Julei auf gute
38 °C klettern, muß ich erneut davon abstehen, zumal
auch der Blick von oben herab auf die versandete
Latmos-Bucht aufgrund der Hitzeschlieren nicht allzu
vielversprechend sein dürfte. Zudem verbergen sich die
Ausgrabungen unter dem Grün der Pinienwipfel. Ein
solches Vorhaben kann demnach erfolgreich am ehesten in
den Frühlingsmonaten gestartet werden. Nichtsdestotrotz
ist die Lage von Priene am Maiandros einzigartig, und es
ist kaum zu ermessen, wie sehr sich offenbar der
Küstenverlauf seitdem verändert hat, denn der gesamte
Golf von Latmos ist heute versandet. Damit eine solche
Versandung aber möglich ist, müssen die Flüsse, die
heute überwiegend trockenfallen, gewaltige Wassermassen
herabgeführt haben. Zudem war der Meeresspiegel in der
Antike niedriger, d.h. es war kälter als heute. Es ist
also davon auszugehen, daß Priene wie auch andere Städte
der Umgebung einst direkt am Meer lagen. Mit der
Versandung seines Hafens schwand auch seine Bedeutung.
Dasselbe Schicksal
teilte die auf der anderen Seite des Golfes von Latmos
gelegene Stadt Milet, die wir, obwohl ich auch sie schon
kenne, da wir nun einmal in ihrer Nähe sind, nochmals
aufsuchen. Bis auf das gigantische Theater sind die
Ruinen von Milet nicht sonderlich spektakulär. Das
byzantinische Kastell auf dem Theaterhügel wird
bisweilen als störend empfunden. Nach der Seeschlacht
bei Lade, 494 v. Chr., gegen die Perser wurde Milet
vollständig zerstört, aber bereits im Jahre 479 v. Chr.
nach Plänen des Hippodamos in schachbrettartigem Muster
neu aufgebaut. Das Theater, welches wir heute noch
bewundern, ist allerdings kein griechisches, sondern ein
römisches und wurde von Kaiser Trajan gestiftet. Vom
alten, ionischen Milet sind ebenfalls noch Reste
vorhanden, und es wird vermutet, daß die Akropolis, auf
der die Tyrannen Thrasybulos, Histiaios und Aristagoras
residierten, auf dem langgestreckten Hügel stand, der
heute Kalabak-Tepe heißt. Außer dem Theater und den
Thermen der Faustina ist nahezu nichts besonders gut
erhalten in Milet, und die brütende Hitze macht eine
Besichtigung nicht gerade ersprießlich, doch war die
Ruinenstätte schon damals, als ich das erste Mal hier
weilte, ein drückendes Pflaster.
Unserem Routenplan
folgend geht es nun längs der Heiligen Straße weiter
nach Didyma. Vom dortigen Orakel würden wir uns gerne
die Zukunft voraussagen lassen, doch spricht Apollon
schon längst nicht mehr zu uns, der Gott ist verstummt.
Die Schwefelquellen, die dort Dämpfe austreten ließen,
die von einer Priesterin inhaliert wurden, welche
darauf, in Trance geraten, wirres Zeug redete, das von
den Priestern erst ausgedeutet werden mußte, sie sind
versiegt. Didyma, welches ein reines Tempelheiligtum
war, teilte das Schicksal der Zerstörung Milets durch
die Perser, die Tempelschätze wurden zuletzt, 262 n.
Chr., von den Goten geplündert. Wäre indes Apollon noch
zu Vorhersagen bereit, er hätte uns klarerweise durch
das Orakel verkünden lassen, daß wir die Stätte des
alten Teichiussa nicht finden würden, was in der Tat
auch eintrat. Zwar ist die Fahrt durch die
sonnenverbrannte, vegetationslose und durch nichts außer
durch feinsandige Strände sich auszeichnende Landschaft
von Altinkum vergebens, doch besitzt das Meer hier ein
so einzigartiges Blau, daß dieses als etwas Besonderes
herausgestellt werden muß.
Immer wieder
treffen wir auf deutschsprechende Türken, doch wenn
selbst sie neugierige Fragen nicht zu beantworten
wissen, dann kann es nach menschlichem Ermessen auch
nichts mehr geben, was zu entdecken sich lohnte. Nachdem
es nun an der Zeit ist, sich für die Nacht
einzuquartieren, fahren wir hinab nach Bodrum. Auf dem
Weg dorthin empfiehlt sich ein Abstecher nach Herakleia
am Latmos. Der Name Latmos bezeichnet nicht etwa nur den
See oder das Gebirge, sondern es heißt die ganze
Landschaft so, wie mir ein Einheimischer bestätigt. Da
dieses Gebiet äußerst wasserarm ist, muß das Wasser
folglich hoch in den Bergen gespeichert werden und dient
dann zur Bewässerung der Felder, die den wenigen
bäuerlichen Familien, die hier ihr armseliges Dasein
fristen, zum Überleben helfen. Man ist uns an diesem
Orte allem Anschein nach nicht wohlgesonnen, den Grund
hierfür finden wir schnell heraus. Als wir nach einer
Führung durch einen einheimischen Jungen zum Tee
eingeladen werden, erzählt uns der Hausherr, daß sich
hier im Ort schon fünf Deutsche angesiedelt hätten, die
aus dem Leid der verschuldeten türkischen Vorbesitzer
ihren Vorteil gezogen hätten, indem sie ihnen alles Land
weit unter Wert abgekauft hätten. Sich hier
niederzulassen ist durchaus verständlich, denn die
Gegend um Herakleia ist so einzigartig und schön, daß
man für immer hierbleiben möchte. Die Bergwelt ringsum
ist wahrhaft faszinierend, denn jedes der unzähligen
Felsgebilde, auf das wir stoßen, besitzt seine eigene,
besondere Gestalt. Von den antiken Bauwerken haben sich
nur noch die Fundamente erhalten, dazwischen sind
bäuerliche Anwesen eingestreut. Den wohl schönsten Blick
auf die Ausgrabungen hat man von der Anhöhe des
Athena-Tempels. Aufgabe der zwei byzantinischen
Festungen war wohl die Sicherung des späteren
Bischofssitzes. Herakleia lag ursprünglich am Meer, da
aber durch Verlandung des Maiandros der Latmische
Meerbusen vom Meer abgeschnürt wurde, verlor Herakleia
seine Bedeutung als Seestadt. Noch gut zu erkennen sind
Reste der von König Mausolos von Karien erbauten
Stadtmauer. Vom antiken Theater sind nur spärliche Reste
geblieben. Als die untergehende Sonne das byzantinische
Kastell im gleißenden Gegenlicht in ein gespenstisches
Szenario verwandelt und die Berge, die den See umgeben,
aussehen läßt wie in Gold getaucht, müssen wir diese von
der Hitze mit Hammer und Meißel bearbeitete Landschaft
zügig verlassen, um noch vor Einbruch der Dämmerung das
antike Halikarnassos zu erreichen, aus der der Vater der
Geschichtsschreibung, Herodot, stammt.
Das den Hafen
beherrschende Kastell St. Peter, das auf allen Bildern
so überaus romantisch aussieht, ist bei genauerem
Hinsehen weit weniger malerisch, als es auf den ersten
Blick den Anschein hat. Wohl wurde es von den
Johannitern aus Rhodos als Vorposten auf dem
gegenüberliegenden Festland errichtet, doch gestalteten
es die Türken nach seiner Eroberung derart weitreichend
um, daß sein Baustil heute übermäßig befremdend wirkt.
So mischen sich fränkische und osmanische Stilelemente,
in die sich bisweilen noch antike mengen, denn das
Kastell wurde aus den Steinen des Mausoleums, des
Grabmals des Mausolos, einem der sieben Weltwunder,
errichtet. Daß die Festung nach der Eroberung von Rhodos
1522 durch Sultan Süleyman den Türken kampflos in die
Hände fiel, dürfte der einzige Grund sein, warum es noch
so gut erhalten ist.
Bodrum steht auf
dem Gebiet des antiken Halikarnassos, einer ursprünglich
karischen Ansiedlung, von der sich aber nur geringe
Reste erhalten haben. Das Mausoleum ist, wie gesagt, bis
auf seinen gesicherten Standort abgetragen, lediglich
die Gänge in die Grabkammer hinab kann man noch
verfolgen. Das Bauwerk selbst muß, zumindest nach den
Rekonstruktionen, die versucht wurden, wahrhaft
eindrucksvoll gewesen sein, im unteren Teil ganz aus
grünem Granit bestehend, zuoberst von einem Rundtempel
bekrönt, der eine Quadriga trug. Die Johanniter
verbauten das Material, wie schon gesagt, in ihrem
Kastell St. Peter. An sonstigen Resten hat sich vom
antiken Halikarnassos nur das Theater erhalten, von dem
aus man einen großartigen Blick auf das alte
Johanniterkastell hat. Die Stadtanlage ist in einem
Kreisrund angelegt, worüber der Römer Vitruv in seiner
Architectura eine eindrucksvolle Schilderung
ablegt. Die karischen Herrscherdynastien von
Halikarnassos waren auf Inzucht gegründet, Mausolos
heiratete seine Schwester Artemisia, Idrieus seine
Schwester Ada. Halikarnassos brachte große Männer
hervor, wie den bereits erwähnten Herodot, den zu lesen
wir jedem an antiker Geschichte Interessierten wärmstens
empfehlen können und dessen Werk wir als unverzichtbares
Reiseutensil stets griffbereit mit uns führen. Es sagt
uns alles über die persischen Herrschergestalten, unter
denen die Griechen so viel zu erdulden hatten. Ein
anderer, weniger berühmter Sohn der Stadt, ist Dionysios
von Halikarnassos, ein Geschichtsschreiber und
Rhetoriker des 1. Jahrhunderts v. Chr.
Von Halikarnassos
tasten wir uns vor auf die Landspitze Termerion, wo sich
kümmerliche Reste des antiken Myndos befinden. Die von
einem Doppelhafen umgebene Stadt mit ihren zwei
geschützten Buchten liegt in ausnahmslos schöner Lage,
und es wundert uns, daß sie in keinem Reiseführer
auftaucht. Dabei wäre gerade sie ein Geheimtip für
Urlaubssuchende, die den Massentourismus fliehen wollen,
um hier einen beschaulichen Urlaub zu verbringen. Die
heute als Insel ausgebildete Landzunge zwischen den
beiden Buchten trug einst eine noch immer erkennbare,
mächtige Stadtmauer. Von hier genießt man eine
traumhafte Sicht auf das Vorgebirge Zephyrion und
hinüber zum Kap Skanderia auf der Insel Kos. Überhaupt
ist die gesamte Bodrum-Halbinsel mit lelegischen
Überresten geradezu übersät. Für eine Besichtigung der
bei Strabon genannten Städte Pedasos, Suangela und
Bargylia verbleibt uns allerdings keine Zeit mehr. Nur
zu gern wären wir der Geschichte Herodots auf den Grund
gegangen, wie es sein konnte, daß jedesmal, wenn den
Pedasiern ein Unheil drohte, der Priesterin der Athene
ein langer Bart erwuchs.
Obwohl es nur
unsere Absicht war, auf dem Rückweg über Bodrum Keramos
aufzusuchen, steuern wir nun, zumal wir die Abzweigung
nicht finden können, ein ganz anderes Ziel an. Doch auch
das antike Iasos, welches ebenfalls in keinem
Reiseführer verzeichnet ist, wartet mit Überraschungen
auf. Wer von der alten Akropolis, wo sich Reste einer
byzantinischen Festung befinden, die Aussicht auf den
Golf von Iasos genießt, wird beeindruckt sein. Ein Blick
auf eine andere Bucht eröffnet sich vom Theater aus.
Reste von Tempeln und Pflasterstraßen rund um die Agora
sind reichlich vorhanden, die den Besuch von Iasos
lohnen, das an Bedeutung hinter anderen Ausgrabungen der
Umgebung zurückbleiben mag, aber an landschaftlichen
Schönheiten, will man ihm nicht unrecht tun, diesen
nicht hintangestellt werden darf. Als die Sonne sich
anschickt, ihren täglichen Lauf zu beenden, erreichen
wir die byzantinische Ruine Beçin Kale, die wir im
weichsten Abendlicht erleben. Ganz golden erstrahlt der
Fels vor dem Hintergrund eines tiefblauen Himmels. Doch
schon fällt Dämmerung ein, und wir werden auch unser
heutiges Ziel nicht vor Einbruch der Nacht erreichen.
Marmaris, das
antike Physkos, ist landschaftlich herrlich gelegen,
eine Bucht, eingebettet in eine Gebirgskulisse,
vergleichbar nur mit Antalya, doch alles etwas mehr im
kleinen. Der Ort selbst ist touristisch überlaufen,
deutsche Wortfetzen, man hört sie hingegen kaum noch.
Noch vor zwanzig Jahren wäre es undenkbar gewesen, daß
eine türkische Familie einen Badeurlaub nach westlichem
Muster macht, doch jetzt haben sie, die Türken, einen
Standard erreicht, der dem unseren immer ähnlicher wird,
während unsere Urlaubsreisen sich beinahe schon
aufhören.
Unser erstes Ziel
am nächsten Morgen ist Knidos, das an der äußersten
Spitze des Knidischen Chersonesos gelegen ist. Eine
schlechte Straße führt uns dorthin, und rings um uns
leuchtet die Welt in allen Farben. Das frische Grün der
Pinienwälder, das wunderbare Blau der Ägäis und das
rötliche Gestein könnten kein schöneres Gemälde sein.
Immer wieder eröffnen sich herrliche Ausblicke auf
einsame Badebuchten – wir fühlen uns wie im Paradies.
Auf beiden Seiten rückt das Meer nun in greifbare Nähe,
schlanker wird der Grat. Eine Verkehrskontrolle! aber
man bleibt freundlich. Nun schwingt sich die Paßstraße
in spektakuläre Höhen auf, auch wird die Fahrbahn
breiter, großzügig angelegt, ermöglicht sie ein
rascheres Fortkommen. Die schmalen Straßen
von einst, eng aus dem Fels gemeißelt, sie waren
reizvoller, und abenteuerlicher war es, auf schlichten,
schlecht ausgebauten Pisten zu verkehren, die sich in
vielen Windungen an steilen Abhängen hinzogen, immer
dem drohenden Absturz nahe. Das Meer unter uns brodelt,
von der Sonne aufgeheizt. Scharfkantig zeichnen sich die
Konturen des Dorischen Vorgebirges ab. Kurz vor Datça zweigt eine schlechte, durch eine bäuerliche und
gebirgige Landschaft führende Straße Richtung Knidos ab.
Je weiter sich die Halbinsel ins Meer hinausschiebt,
desto klarer wird die Luft, desto intensiver leuchtet
das Himmelsblau. Eine Schlucht zieht sich zu unserer
Rechten hin, der Verkehr ist abgeebbt. Der letzte
Abschnitt führt auf einer erst im Bau befindlichen, noch
im Pistenzustand verbliebenen Bergstrecke hinab in den
antiken Hafen von Knidos. Beim Erreichen der ersten
Mauerreste eröffnet sich ein grandioser Ausblick auf die
vorgelagerte Küste, gegenüber liegt die Insel Kos, gen
Süden Nisyros und genau zur Sonne hin Telos. Sie alle
zählen zu den Inseln des Lichts, während in der Stille
und von fern nur das Rauschen der Brandung und das
Säuseln des Windes zu hören sind. Die antiken Ruinen von
Knidos sind sehr weitläufig. Die Stadt besitzt zwei
Theater und zwei Häfen, den Kriegshafen gegenüber von
Kos und den Handelshafen zum Dorischen Meer. Die Größe
der Stadt zeugt von ihrer einstigen Bedeutung. Hier in
Knidos wurde die Athene des Praxiteles gefunden. Ihren
Niedergang fand die Stadt erst mit Eroberung durch die
Araber.
Über Musentempel
und Demeterheiligtum führt ein kaum gangbarer Pfad auf
die Akropolis hinauf, die zu besteigen ich mir
vorgenommen habe, angesichts der sengenden Hitze aber
ein Unterfangen, auf das einzulassen ich mich nur im
Alleingang entschließen kann. Schon bald muß ich
feststellen, daß ich vom rechten Weg abgekommen bin und
mich in den Felsen verstiegen habe. Die kaum erkennbaren
Pfade, die nur an der Ziegenlosung erkennbar sind, sind
mit Dornen und Disteln übersät, und meine offenen
Sandalen sind dafür weiß Gott nicht das richtige
Schuhwerk. Zudem habe ich bereits wunde Stellen an den
Füßen, die bei jedem Auftreten Schmerzen verursachen. In
unendlich mühseliger Kletterei gelingt es mir
schließlich, den Gipfel zu erklimmen. Der rote Halbmond,
der dort flattert, scheint immer noch keinen Schritt näher gerückt, doch meine Wasservorräte sind begrenzt,
und je länger mein Umherirren auf Abwegen dauert, desto
rascher sind sie erschöpft. Doch schließlich –
vielleicht war mir Demeter wohlgesonnen, nachdem ich ihr
Heiligtum besucht habe – erreiche ich den Gipfel, wo
sich mir eine überwältigende Aussicht bietet. Da steigt
in mir das Gefühl auf, als wäre ich ganz alleine auf
einem unbewohnten Planeten ausgesetzt, verloren in den Weiten des
Alls. Tief unter mir liegt die vorgelagerte Halbinsel Triopion, die einmal eine Insel war und Befestigungen
trug, von denen heute nichts mehr zu sehen ist. Hinter
mir laufen die beiden gut erhaltenen Stadtmauern
zusammen, deren Verlauf man noch deutlich erkennen kann.
Ein frischer Wind gewährt etwas Abkühlung, doch schon
beim Abstieg muß ich mir mein Hemd nach Art eines
Turbans um den Kopf wickeln, um mich gegen die starke
Sonneneinstrahlung zu schützen. Und wie es meistens
geht, findet man beim Zurückgehen auch den Weg, den man
beim Anstieg verfehlte. Jedenfalls lassen sich anhand
der aufgestellten Wegweiser bestimmte Anlaufpunkte
ausmachen, so daß man nicht völlig in die Irre gehen
kann. Beim Hinuntergehen begegnet mir ein weibliches
Wesen, doch als es mich sieht, verbirgt es sich scheu in
den Ruinen des Theaters. Vermutlich habe ich es
erschreckt, halbnackt und mit einer sonderbaren
Kopfbedeckung. Wer aber einmal die mühselige Fahrt zum
Kap Triopion unternommen hat, sollte es sich auf dem
Rückweg nicht entgehen lassen, für einen Badestop einen
Abstecher zu der in der Nähe von Datça, dem antiken
Stadeia, gelegenen Bucht von Kargi zu machen. Im Ort
Datça versichert man uns, daß sich dort keine antiken
Ruinen mehr auffinden lassen oder aber, die antike Stadt
schlummert noch sanft unter der Erde.
Auf dem Rückweg
stoßen wir immer wieder auf malerische Badebuchten, von
denen eine einladender ist als die andere, doch unser
Ziel ist Turgut auf dem Rhodischen Chersonesos, wo sich
noch Reste zweier alter griechischer Städte befinden
sollen. Deren eine, Kastabos, finden wir überhaupt
nicht, alle Versuche, eine Auskunft einzuholen,
scheitern, doch mit der zweiten, Hydas, haben wir Glück.
Die Abendsonne senkt sich bereits über der herrlichen
Berglandschaft von Turgut, und im Ort überschlägt sich
alles vor Hilfsbereitschaft, uns den Weg dorthin zu
zeigen. Ein Einheimischer nimmt uns schließlich in
seinem Gefährt mit, um uns die Stelle des Aufstiegs zu
bezeichnen. Obwohl bereits Schatten hinter dem
Bergrücken einfällt, ist der Aufstieg zu den Ruinen von Hydas, dessen
Überreste man schon von weitem sieht, wenn
auch nicht schwierig, so doch schweißtreibend. Als wir
die ersten Mauertrümmer sichten, können wir uns keine
rechte Vorstellung bilden, welcher der beiden Wege, die
zunächst beide hoffnungsvoll aussehen, der richtige ist.
Spontan entscheide ich mich für den rechten, doch wie
sich bald herausstellen sollte, den verkehrten. Erneut
beginnt ein Kampf gegen die Widrigkeiten der Natur, denn
noch ist nichts erreicht, noch ist die Aussicht nicht
frei auf die tief unter uns liegende Bucht von Selimiye,
die vormals auch Hafen der Stadt gewesen sein muß. Durch
Gestrüpp und Dornbüsche, über spitze Felsen, zum Teil
auf allen Vieren, gelingt es mir mühselig, mich bis an
die innere Stadtmauer vorzuarbeiten. Doch nirgends ein
Einlaß! Also versuche ich die Stadtmauer kletternd zu
überwinden, jetzt aber ist der Weg, auch wenn er
weiterhin durch überwachsenes Gestrüpp führt, weitgehend
frei, so daß ich mich bis zur Akropolis vorarbeiten
kann. Kurz davor begrüßen mich zwei Engländer, doch sind
sie auf der unteren Terrasse verblieben, um nicht mehr
in die Dunkelheit zu geraten, während mich der Kampf
gegen die untergehende Sonne desto rascher vorantreibt.
Oben auf der Stadtmauer führt mein Weg entlang, zwischen
Tempelwänden hindurch, bis ich schließlich zum höchsten
Punkt der karischen Stadt gelange. Der Ausblick von dort
oben ist so herrlich, daß ich mit vollem Recht sagen
kann, dies ist –
ihrer Lage nach
– die schönste
Stadt auf unserer
bisherigen Reise. Die Berge ringsum sind allesamt
bewaldet, und zu dem üppigen Grün gesellt sich ein Blau
des Meeres von berauschender Schönheit. Viele Inselchen
gliedern die Landschaft zu reizvollen Grüppchen, und ein
vereinzeltes Segel weit draußen erfüllt unser Herz mit
Sehnsucht. Es tut uns in unserem Innersten weh, diesen
traumhaften Ort nun verlassen zu müssen, denn es bricht
die Nacht herein, und als wir unten ankommen, werden wir
zu einem fürstlichen Mahle in ein türkisches Restaurant
gebeten, ein Angebot, das wir nicht ausschlagen können,
denn hier bemüht man sich um uns, so als wären die
Götter vom Olymp herabgestiegen. Kein Vergleich mit den
Erlebnissen in den Touristenorten, wo die Menschen durch
Gewinnsucht bereits verdorben sind und sich auf jede
Weise unredliche Vorteile zu verschaffen suchen.
Von Marmaris machen
wir uns auf zur Erkundung der karischen Küste. Hier
liegt unweit Dalyan die antike Stadt Kaunos, die auf dem
Landweg nicht erreicht werden kann. Wie Herodot
berichtet, wurden die Kaunier von Harpagos unterworfen,
nachdem sie wie die Bewohner des Xanthosthales vorher
ihre Frauen und Kinder dem Feuertod übergeben hatten und
anschließend bis auf den letzten Mann kämpften. Der
gewaltige Schilfgürtel, der die Stadt heute umgibt,
schnürt einen Süßwassersee vom Meer ab. Wir mieten uns
für die Besichtigung ein Boot und lassen uns durch das
ausgedehnte Schilfmeer manövrieren, vorbei an den
lelegischen Felsgräbern, die ins vierte vorchristliche
Jahrhundert datieren. In einiger Höhe direkt über dem
Wasser gelegen, waren sie zu ihrer Entstehungszeit aus
der Felswand herausgehauen worden. Wie sie genau
entstanden sind, gibt immer noch Rätsel auf. Die
Steinmetze müssen praktisch, an Seilen hängend, mit
ihrem Werk begonnen haben, bis sie ein Podest
herausgemeißelt hatten, auf dem sie dann weitermachen
konnten. Bezeichnend ist der griechische Einfluß der
Säulengebung. Das Ende von Kaunos kam, als sich hier die
Malaria ausbreitete. Der Zitherspieler Stratonikos
verspottete die Bewohner deshalb als krankhaft und
sprach, als er die sehr bleichen Kaunier sah, von
umherwandelnden Toten. Die Lage der Stadt zwischen zwei
oder drei Felszügen eingebettet, die einen geschützten
Hafen einrahmen, ist einzigartig unter den karischen
Ruinenstätten. An Bauwerken sind vor allem das kolossale
Amphitheater zu nennen sowie eine Thermenanlage. Von der
Akropolis hätte man sicher eine noch viel bessere
Aussicht, doch bekämen wir ein schlechtes Gewissen,
unseren „Kapitän“ so lange warten zu lassen. Kaunos war
noch in späterer Zeit besiedelt, daher rühren auch die
Reste einer Kuppelkirche.
Zwischen Kaunos und
unserem Ziel Fethiye führen keine bezeichneten
Abzweigungen mehr zu irgendwelchen Sehenswürdigkeiten,
obwohl auf unserer Karte durchaus noch einige antike
Stätten verzeichnet sind, u.a. das bei Strabon erwähnte
Pisilis, Daidala und Kalynda und das bei Plinius
genannte Krya. Doch unser Tagespensum ist zu gewaltig,
als daß wir allen diesen vagen Hinweisen folgen könnten.
So steuern wir denn zielstrebig Telmessos an, von dem
nur verstreute Reste übriggeblieben sind. Telmessos ist
aber ganz leicht ausfindig zu machen, wenn man das in
der Nähe der Marina gelegene Theater als fiktives
Stadtzentrum nimmt. Was vom Theater übriggeblieben ist,
ist nicht sonderlich eindrucksvoll, wohl aber mag seine
Lage direkt am Meer durchaus ansprechen. Wir haben höher
gelegene Theater gesehen, die weit über die Inselwelt
aufs Meer hinausblicken ließen, und so empfinden wir
dieses hier als eher bescheiden. Wie stets bei lykischen
Städten geben die Felsgräber an den Steilwänden über der
Stadt, die wohl an den Hang gebaut sind, weiteren
Aufschluß über deren genaue Lage, auch die Hafenbucht
daselbst scheint ideal für einen Kriegs- und
Handelshafen gewesen zu sein. Dort, wo heute die
Burgruine steht, finden sich zudem große Quadermauern,
so daß anzunehmen ist, daß hier auch die Akropolis
stand, wenngleich die Berge der Umgebung noch um einiges
darüber hinausragen. Wie dem auch sei, von der Burgruine
genießt man eine traumhafte Sicht auf die Stadt Fethiye
mit ihrer weiten Bucht. Somit verlassen wir Telmessos,
das uns leider nichts Eindrucksvolles zu bieten hatte,
als das Endziel unserer Reise, das wir auf nunmehr
beinahe zweitausend Kilometern, die vielen Umwege
eingerechnet, erreicht haben. Das ist schon eine
Gedenkminute wert, denn hier schließt meine frühere
Reise durch Pamphylien, Isaurien und Kilikien an, womit
ich von mir sagen kann: Ich habe Kleinasien von Istanbul
bis an die syrische Grenze durchreist, längs der
ägäischen und der mittelländischen Küste, ein gewaltiges
Gebiet mit unzähligen Eindrücken, von denen nicht zwei
sich gleichen, obwohl ihrer viele ähnlich sind.
Nach einer kurzen
Verschnaufpause treten wir den Rückweg an, um dabei noch
aufzusammeln, was wir auf dem Hinweg aus Zeit- oder
irgendwelchen anderen Gründen links liegen ließen. Bei
Gökova, an der Abzweigung nach Marmaris gelegen, finden
wir die spärlichen Überreste von Idyma, im wesentlichen
einige wenige lelegische Felsgräber; von der alten
karischen Stadt hingegen können wir nichts mehr
entdecken. Hier beginnt nun eine atemberaubende Fahrt
längs der Küste, auf ungeteerten und schlechten Straßen,
die zudem stark durch Gegenverkehr belastet sind. Der
Küstenstrich, der sich ihnen entlang hinzieht, ist
Ausflugsgebiet der Einheimischen, die aus dem 30 km
entfernten Muğla anreisen, um hier ihren
Wochenendaufenthalt zu wählen. Und auch wirklich ist
dieser Küstenabschnitt landschaftlich überaus attraktiv,
womit wir uns vornehmen, wenigstens noch so weit zu
kommen, soweit wir es trotz der einbrechenden Dunkelheit
noch schaffen. In endlos anstrengender Fahrt, stets auf
Schlaglöcher achtend, ringe ich dem Fahrzeug und auch
mir einiges ab, um das gut 50 km entfernte Ören zu
erreichen, einen aufkeimenden Urlaubsort mit
Tiefstpreisen. Hier empfängt man uns königlich, so als
wären wir Götter.
Überall, wo sich
der Massentourismus noch nicht so sehr etabliert hat,
stoßen wir auf dieselbe gastfreundliche Gesinnung, wie
sie bei den Türken vorherrschend ist, und niemals fühlt
man sich hier betrogen. Als ich erkläre, wir seien
lediglich gekommen, um das antike Keramos aufzuspüren,
vermag uns niemand genauere Hinweise auf irgendwelche
Hinterlassenschaft zu liefern, was mich ersichtlich
verwundert, denn wie aus den antiken Quellen zu erfahren
ist, war Keramos, welches dem Keramischen Meerbusen
seinen Namen gab, Mitglied des chrysaorischen Bundes und
besaß einen Tempel des Zeus Chrysaoreus (der mit
goldenem Arm oder Schwert dargestellt wird). Antike
Reste finden sich auf der Landspitze, welche die
Schwemmlandebene begrenzt, die durch den an Ören
vorbeifließenden Fluß entstanden ist, und zwar dort, wo
die Burg steht. Große behauene Quader geben Hinweis
darauf, daß dies der Standort der alten Stadt ist. Es
gelingt mir nicht, den Burgberg zu besteigen. Ein
vermutlich schon in der Antike angelegter romantischer
Pfad führt am Hang des Akropolishügels entlang, und ich
mutmaße, daß er mich zur Nekropole geleiten wird, doch
sehe ich mich hierin getäuscht. Anfangs noch ausgeprägt
als Weg erkennbar, verlieren sich seine markanten Spuren
in der Undeutlichkeit, verlaufen sich in mehreren
Verästelungen, all denen zu folgen mir zu unergiebig
erscheint, da sich nichts, aber auch gar nichts
abzeichnet, was von Menschenhand geschaffen sein könnte.
Ströme Schweißes vergießend, von Dornen an der Stirn
geritzt, trete ich mir im Dickicht auch noch einen
Stachel ein. Blut quillt aus meinem Zeh hervor, und so
vergeude ich Tropfen meines edelsten Körpersaftes für
nichts. Gewiß hätte ich mich zum Aufspüren der
Tempelschätze der Führung des Lygdamis anvertrauen
sollen, doch was hilft mir das jetzt? – das Unternehmen
Keramos ist gescheitert.
Wertvolle Zeit
einbüßend, wenden wir uns nun nach Norden, von der Küste
ab, gen Mylasa. Nichts hat sich von der einst berühmten
Stadt erhalten, alles liegt irgendwo unter der heutigen
Stadt begraben, und man müßte schon die halbe Stadt
abreißen, wollte man Mylasa zutage fördern. In der
Antike war sie wegen ihres berühmten weißen Marmors mit
Säulenhallen und Tempeln geschmückt, mehr als irgendeine
andere. Hoch über dem antiken Mylasa liegt das Heiligtum
des Zeus Stratios, der mit einer Doppelaxt dargestellt
wird. Eine sehr schlechte Teerstraße führt dorthin, die
sich in schwindelnde Höhen aufschwingt, von tiefen
Abgründen begleitet. Kurz vor Erreichen unseres Ziels
sitze ich mit dem Fahrzeug auf. Nicht die Pisten, nicht
die ungeteerte Seitenstraße, die voller großer Steine
war, hatten uns bisher etwas anhaben können, eine
schlecht ausgebaute Teerstraße war uns zum Verhängnis
geworden. Ich bücke mich unter das Fahrzeug, um mir den
Schaden anzusehen, doch wir haben Glück im Unglück – nur
Plastikteile sind abgebrochen, nichts was herunterhängt!
– 497 v. Chr. fand in Labranda, auf dem Berg, eine
Schlacht zwischen dem karischen Heer und der persischen
Invasionsarmee statt. Dabei wurde der Zeus-Tempel
zerstört. Derzeit finden archäologische
Vermessungsarbeiten dort statt, so daß wir unsere
Anwesenheit selbst als störend empfinden und uns daher
unserem nächsten Ziel zuwenden. Das ist die Stadt
Euromos, von der allein ein Tempel des Zeus Lepsinos
erhalten geblieben ist, der allerdings zu den am besten
erhaltenen Tempelanlagen in ganz Asien zählt. Vom
Theater haben nur mehr zwei Sitzreihen die Zeiten
überdauert, und nur die mächtigen Quader der Stadtmauern
künden noch von der einstigen Bedeutung der Stadt, die
mit Mylasa und Halikarnassos um die Vorherrschaft
wetteiferte. Ein gut deutschsprechender Mann, der sich
uns als Führer aufdrängt, behauptet, Euromos, das alte
karische Kyramos, sei einst am Meer gelegen, was wir ihm
auch abnehmen, wenn wir uns die geographischen
Verhältnisse genauer betrachten. Sonst hätte es mich
überrascht, wie eine Stadt im Binnenland jemals
Bedeutung erlangt haben konnte. Von Kyramos wird nur
berichtet, daß es in der Seleukidenzeit dem
Chrysaorischen Bund angehörte. Am Latmos vorbei, dem
Wegweiser folgend, bleibt unsere Suche nach dem alten
Myus erfolglos. Es muß am Bafa-See gelegen haben, der
einst mit dem Meer verbunden war, bis der Maiandros
diesen vom Meer abgetrennt hat. Eine alte Burg, zu der
kein Weg hinzuführen scheint, ist alles, was vom antiken
Myus noch übriggeblieben ist. Die spärlichen Spuren
menschlicher Bearbeitung an den Felswänden wie
Grabkammern oder Felsnischen reichen nicht hin, um mich
an die Authentizität der von den Einheimischen
bezeichneten Stelle glauben zu lassen.
Über Söke gelangen
wir am Nachmittag nach Aydın, dem antiken Tralleis. Die
karische Stadt hat ihren Namen nach der Amazone Tralle,
sie war Sitz einer persischen Satrapie, ehe sie zur Zeit
der Römer zu einem blühenden Zentrum ausgebaut wurde.
Tralleis war Sitz einer Philosophenschule. Für die
Besichtigung braucht man eine Sondergenehmigung, es ist
auch nicht erlaubt, Photos zu machen. Das Verbot
ignorierend, kann ich mit versteckter Kamera ein Bild
von der einzig sehenswerten Ruine, dem antiken
Gymnasion, machen. Vom Theater, das sich an den
Akropolishügel lehnt, sind noch Reste auszumachen. Es
ist fast vollständig abgetragen und in der Altstadt von
Aydın verbaut. Welch wundersame Landschaft die
Ausgrabungen doch umgibt! Sandhügel, farblich dem milden
Ocker des Bodens angeglichen, ragen wie Zipfelmützen aus
der Umgebung auf und eröffnen einen weiten Ausblick aufs
immerblaue Meer.
Schon ist es Abend
geworden, als wir nach Ende der Öffnungszeiten in
Magnesia am Maiandros eintreffen, dem Ort, wo
Polykrates, der Tyrann von Samos, bereits tot, ans Kreuz
geschlagen wurde. Hier ist es der Tempel der Artemis
Leukophryene, der viertgrößte Tempelbau der Antike, der
unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, uns Bewunderung
abnötigt. Er wurde von dem Architekten Hermogenes von
Alabanda im ionischen Stil errichtet. Ihn schmückte
einst das Amazonenfries, eine der umfangreichsten
Reliefkonstruktionen der Antike.
Am Abend erreichen
wir Kuşadasi. Wieder dasselbe Hotel, dasselbe
Restaurant, doch irgendwie ist heute alles anders: das
Essen, die Freundlichkeit, die Stimmung. All das hat
nachgelassen, ist wie weggeblasen. Man begeht häufig den
Fehler, nach dort, wo man gute Erfahrungen gemacht hat,
zurückzukehren. Doch nichts im Leben bleibt unverändert.
Schluß jetzt mit philosophischen Ergüssen!
Am nächsten Morgen
brechen wir auf, leider viel zu spät. Über Klaros, wo
der Seher Kalchas vor Gram gestorben ist, weil es noch
einen besseren Wahrsager gab als ihn, steuern wir hinauf
nach Kolophon, dessen Ruinen wir erst erfragen müssen.
Südlich von Değirmendere werden wir schließlich fündig.
Es herrscht brütende Hitze, so daß uns die Besichtigung
große Mühen bereitet, der Schweiß fließt uns in Strömen
über den Rücken. Gut, daß Kolophon heute von
Pinienwäldern bedeckt ist. Als wir das erste,
festgefügte Mauerwerk sichten, sind wir uns unseres
Standorts fast sicher. Unversehens fällt mein Blick auf
einen verharzten Pinienzweig. Goldgelb bricht sich die
Sonne in dem glasklaren Tropfen. Kein Zweifel, das muß
Kolophon sein! Das Harz der Pinie, das hier seit
zweitausend Jahren unverändert von den Bäumen tropft und
zum Bestreichen von Violinsaiten Verwendung findet,
wurde hochberühmt, denn von ihm leitet sich der Name
Kolophonium her. Wie das genau zuging und warum gerade
dieses Harz es war, welches seinen Namen dafür gab,
wissen wir nicht. Die Ruinen, die wir hier vorfinden,
sind so spärlich – ja man könnte sagen, daß Kolophon
noch gar nicht richtig ausgegraben ist –, daß ich nicht
einmal ein geeignetes Photomotiv finde. Wenngleich unser
Blick auf einen weitentfernten See fällt, so ist der
Ausblick von der Akropolis bei weitem nicht so
spektakulär, wie wir es von anderen Griechenstädten
gewohnt sind. Bis zur höchsten Spitze der Akropolis
arbeite ich mich vor, wo sich noch Reste eines Turms
auffinden lassen, das Theater aber, welches 1886
freigelegt wurde, finden wir nicht. Enttäuscht verlassen
wir die Ausgrabungsstätte, von der ich zwar wußte, daß
es nicht viel zu besichtigen gibt, daß sich aber nicht
einmal ein einziger antiker Säulenstumpf auffinden
ließe, damit hatte ich nicht gerechnet.
Der weitere
Tagsverlauf bringt insgesamt nicht mehr viel. Larissa
lohnt, wenn es um bauliche Überreste geht, ebenfalls
kaum der Besichtigung, jedoch ist der Aufstieg auf den
isoliert in der Maiandrosebene stehenden Akropolishügel
faszinierend, nicht nur der fantastischen Felsgebilde
wegen, die den Burgberg zum Meer hin wie eine natürliche
Palisadenwehr umgeben, sondern auch des weitreichenden
Ausblicks wegen, der sich bis zum Meer erstreckt. Die
ganze Stadt muß auf dem Burgberg gestanden haben, da
dieser steil nach allen Seiten abfällt. Als wir nach den
Schottersteinen endlich Reste von Quadermauern und
fugenrein gefügtem Mauerwerk entdecken, sind wir sicher,
daß hier die Stadtanlage gewesen sein muß. Reste von
Marmor und Säulenstümpfen finden wir allerdings auch
hier nicht. Nicht ein Stein, der liegengeblieben wäre!
Wie prächtig muß diese Stadt einst gewirkt haben, wenn
sie vom Meer her, das sich in der Antike weit näher an
die Stadt heran erstreckt haben muß, angesteuert wurde.
Heute bringt die weite, fruchtbare Schwemmlandebene des
Maiandros reiche Erträge hervor. Wieder ist kein
Hinweisschild aufgestellt! Man schämt sich offenbar von
offizieller Seite, wenn nur geringe Reste vorgezeigt
werden können. Doch kommt es darauf gar nicht an,
ausschlaggebend für das innere Erlebnis ist vielmehr die
Aura, die einen Ort umgibt und ihn zu etwas
einzigartigem macht. Doch muß man derartiges auch
erfühlen können, und nicht jedermann ist solches
gegeben.
Nachdem nun eine
Schlechtwetterfront aufgezogen ist, legen wir an diesem
Tage ein größeres Wegstück zurück, so daß wir abends
wieder in Çanakkale eintreffen, wo wir vor zehn Tagen
unseren Ausgang nahmen. Über der heiligen Ilion geht
Regen nieder, dazu zeigt sich der Hellespont in einem
märchenhaften Gewande, mit Wolkenbänken, die in der
untergehenden Sonne wie reinste Seide glänzen, wie
lichte Inseln über ihm schweben. Am Abend prasselt sogar
ein richtiggehender Platzregen nieder, der ein wenig
Abkühlung bringt.
Am nächsten Morgen,
als die Sonne erwacht, gehen wir daran, eine
Bithynienrundfahrt zu unternehmen und das Marmarameer zu
umrunden, freilich im Gegenuhrzeigersinn. Zunächst
halten wir Heerschau in Abydos, doch mehr als einen
Blick auf den Hellespont zu erhaschen ist uns nicht
vergönnt. Einem blauen Bande gleich, zieht er sich hin,
er, der früher einmal ein ausgetrocknetes Flußtal war,
das sich mit Meerwasser gefüllt hat, eine der
bestbewachten Wasserstraßen der Welt! Wellig ist die ihn
ungebende Landschaft, ein freier Zugang kaum möglich,
sonderlich nicht bei Nara, wo einst Abydos lag, alles
hier ist militärisches Sperrgebiet. Die Soldaten weisen
uns freundlich ab, als ich mich fadenscheinig nach den
Ruinen erkundige. Ein antikes Theater, das zudem modern
überbaut ist, ist alles, was von dem antiken Abydos
geblieben ist.
Im weiteren nehmen
wir den Weg entlang der kleinasiatischen Seite der
Dardanellen nach Lampsakos, von dem sich ebenfalls kaum
noch Spuren entdecken lassen. Hier schritt 334 v. Chr.
Alexander von Makedonien über den Hellespont, und in den
Märztagen des Jahres 1190 folgte ihm Friedrich I.
Barbarossa auf dem dritten, dem deutschen Kreuzzug, um
von hier aus den beschwerlichen Weg durch Kleinasien
anzutreten. Der Philosoph Anaximenes, der aus Lampsakos
gebürtig war und Alexander auf seinem Zug begleitete,
konnte seine Heimatstadt noch vor der Zerstörung
bewahren, das Ende kam, als Lampsakos im Zweiten
Makedonischen Krieg von Philipp V. eingenommen wurde und
von da ab römischer Hilfe nicht mehr entbehren konnte.
Früher hieß Lampsakos Pityusa, auf der
gegenüberliegenden Seite des Thrakischen Chersonesos lag
das Städtchen Kallipolis. Aus Lampsakos stammten neben
dem bereits erwähnten Anaximenes der Geschichtsschreiber
Charon, Adeimantos und der Redner Metrodoros, ein
Schüler Epikurs. Epikur war gewissermaßen selbst
Lampsakener, da er lange in Lampsakos verweilte. Agrippa
entführte aus Lampsakos den Gefällten Löwen, ein Werk
des Lysippos, und versetzte ihn in einen Hain an der
Meerenge. Die bei Strabon erwähnten Orte Arisbe und
Kolonai, eine Gründung der Milesier im Hinterland von
Lampsakos, besuchen wir nicht, die alte Stadt Parion
scheint wie vom Erdboden verschluckt.
Kurz vor
Balıklıçeşme zweigen wir nach Kemer ab, dem antiken
Adrasteia. Ein Vermessungsingenieur beschreibt uns den
Weg dorthin, der unter Umgehung einiger Ortschaften auf
staubiger Piste verläuft. Er holt seinen Notizblock
hervor und zeigt uns die Aufzeichnungen, die er von den
jüngsten Ausgrabungen dort angefertigt hat, darunter
eine Statue des Merkur. Wir können jedoch die von ihm
aufgezeichnete Stelle nicht finden, und auch von den
Ortsansässigen weiß wieder keiner Bescheid. Das einzige,
was von Adrasteia noch geblieben ist, sind Spuren eines
Aquädukts, die am Ortseingang auf den Stadthügel führen.
Die Stadt war in schöner Lage und verfügte über einen
sicheren Hafen. Hier soll König Adrastos einen Tempel
der Nemesis erbaut haben. Adrasteia besaß ein Orakel des
Apollon Aktaios, der Tempel aber wurde abgebrochen und
alles Gestein nach Parion geschafft, eine Pflanzstadt
der Milesier, Erythraier und Parier. Über dessen
Verbleib können wir nur Rätsel anstellen, ich persönlich
aber glaube, daß es an der Bucht des heutigen Şevketiye
gelegen war. Der ganze Küstenabschnitt bis Karabiga ist
herrlich, doch nur auf Pisten zu befahren.
Gänzlich überrascht
uns Priapos, nicht nur seiner aus Ziegeln errichteten
Mauern wegen, aus denen auch die Türme gemauert sind,
sondern wegen seiner einmaligen landschaftlichen
Schönheit. Es ist auf einer Landspitze gelegen, die sich
ins Meer erstreckt, und besitzt allseits steil
abfallende Ufer. Priapos war eine Pflanzung der Milesier
oder Kyzikener. Hier wurde Gott Priapos verehrt, der
Sohn des Dionysos und einer Nymphe, denn die ganze
Gegend bis Lampsakos ist sehr rebenreich, weshalb Xerxes
dem aus Athen vertriebenen Themistokles Lampsakos gab,
damit er ihm Wein liefere. In der Nähe von Priapos fand
334 v. Chr. die Schlacht am Granikos statt, zwischen
Alexander, göttliche Verehrung genießend, und dem
persischen Satrapen Mithridates, die den Auftakt gab zur
weiteren Eroberung Kleinasiens. Wir nähern uns nunmehr
Zeleia, dem heutigen Sarıköy, wo das Ida-Gebirge endet,
und überqueren den Aisepos, den heutigen Gönen Çay.
Hiermit haben wir das Ende der Troas erreicht und
betreten nun Mysien.
Die Halbinsel
Arktonnesos war einst eine Insel, die Alexander durch
zwei Brücken mit dem Festland verband. Später bildete
sich durch Sandverwehungen eine Landbrücke aus. Die
antike Stadt Kyzikos schmiegt sich eng an den
Arktonoros, den Bärenberg. Über ihr liegt der Dindymos,
auf welchem der Tempel der Göttermutter Dindyme steht,
welchen die Argonauten errichteten. Im Mithridatischen
Krieg wurde hier die Entscheidungsschlacht zwischen dem
römischen Feldherrn Lucullus und Mithridates Eupator
ausgetragen, die die Römer für sich entschieden. Als
nach vergeblicher Belagerung – Mithridates hatte
vierhundert Schiffe herangeführt – eine Hungersnot
ausbrach, mußte letzterer nach hohen Verlusten abziehen.
An Ruinen ist von der einst großen Stadt nicht mehr viel
vorhanden, der von Kaiser Hadrian errichtete Tempel des
Zeus wurde abgetragen. Nur mit Hilfe eines Einheimischen
gelingt es uns, noch Reste aufzuspüren. Unser Führer
frägt mich, ob wir Deutsche seien, und erzählt mir dann
auf türkisch eine rührende Geschichte von seiner
Abschiebung aus Deutschland, von der ich nur die Hälfte
verstehe. Ich hätte dem alten Mann, bei dem sich nur
noch zwei Schneidezähne im Oberkiefer befinden, eine
solche Rührigkeit nicht zugetraut. Nachdem er sich so
emsig um uns bemüht hat, entlohne ich ihn mit einem
fürstlichen Trinkgeld, das er entgegen dem Herkommen
nicht ausschlägt. Als wir nach Bandırma aufbrechen,
steht er noch lange auf der Straße und winkt uns
hinterher.
Von Bandırma, dem
antiken Panormos – heute eine Hafenstadt ohne besonderes
Flair – fahren wir hinauf an den Daskylitis, einen von
drei großen Seen, an dem das antike Daskyleion lag,
schon bei Strabon erwähnt und vom Karadere umströmt.
Dort ist gerade ein Team von Archäologen mit
Ausgrabungen zugange, allem Anschein nach ein
türkisches. Einst waren es deutsche und britische
Archäologen, welche den Ruhm einheimsten, die ersten
gewesen zu sein, die die antiken Stätten ausgruben.
Nunmehr sind es, eine Konsequenz unsinniger
Bildungsinitiativen, mit welchen man jene
Entwicklungsländer aus ihrer Lethargie herausholte oder
aus ihrem Dornröschenschlaf wachrüttelte, einheimische
Wissenschaftler, die ihnen dieses Privileg streitig
machen. Seit der Zeit des Kolonialismus haben alle
großen Nationen Europas auf nahezu allen Gebieten nur
noch zu ihrem eigenen Nachteil gehandelt, und zwar
deshalb, weil sie sich nicht mehr als Nationen
begreifen. Von den drei Seen, die Strabon erwähnt, sind
mittlerweile zwei zusammengewachsen, nämlich der
Miletopolitis, an dem Miletopolis gelegen war – eine
Gründung der Milesier, wie der Name schon sagt – und der
Apolloniatis. Es gibt noch zwei weitere
Ausgrabungsstätten in der Nähe, die den Namen
Miletopolis tragen, eine nahe der Stadt Manyas, die
andere bei Mustafakemalpaşa, woraus wir schließen, daß
man sich hinsichtlich der wahren Lage der Stadt wohl
noch nicht einig ist. Um dies herauszufinden, sind wir
auf sehr schlechter Straße bedeutende Umwege gefahren,
durch das sanft gewellte, bisweilen waldreiche Ackerland
Bithyniens. In Manyas finden sich kaum antike Überreste.
Aus dem, was uns die Einheimischen auf türkisch
erzählen, werden wir nicht schlau, also fahren wir,
wieder auf sehr schlechter Straße, bis Susurluk, welches
am Makestos liegt.
Richtung Bursa
liegt der Apolloniatis, an dem einst auf einer Insel
Apollonia lag. Zwiefarben aber ist der Apolloniatis,
blau an seinen Rändern, grün in der Mitte. Der Zufluß
des Apolloniatis ist der Rhyndakos, der sich gegen die
Insel Besbikos, heute İmralı Adası, in die Propontis
ergießt. Apollonia aber ist jetzt von den Häusern von
Gölyazı überbaut, einem sehr malerischen, noch sehr
ursprünglichen Ort, der viele Fotomotive bietet. Überall
unter den halb verfallenen Häusern stößt man auf
Quaderfundamente der Antike. Von hier aus hat man
bereits einen schönen Blick auf den mysischen Olymp, der
ungewöhnlich hoch gegen alle Berge der Umgebung in den
Himmel emporragt, den Göttern ein Sitz. Ein Stück Wegs
zurück, zweigen wir nach rechts Richtung Mudanya ab.
Nach einem Abstecher zur Bucht von Esence, das an das
alte Dascylium erinnert, treffen wir bei Zeytinbağı auf
die Küstenstraße, der wir über Mudanya bis Gemlik
folgen. Das nikomedische Apameia kennt niemand mehr,
auch wir können es nicht finden, wahrscheinlich ruht es
unter der Stadt Mudanya.
Von Gemlik, einer
schmutzigen Hafenstadt, die in der Antike Kios hieß und
die später von Prusias nach sich umbenannt wurde, wenden
wir uns dem Landesinnern zu, wo hinter einer
Landbarriere bald der stürmische See Askanios auftaucht,
der nirgends gefunden wird als nur in Bithynien. Das
schollige Askanien zu seinen Ufern, ist er das
Herkunftsland gewaltiger Helden, die einst gen Troja
zogen, den Trojanern als Bundesgenossen zueilend. Am
äußersten Ende des Sees Askanios liegt Nikaia, das von
vier Kilometer langen Stadtmauern umgeben ist, welche
die Form eines Quadrats bilden. Vom Stadtmittelpunkt, in
dem sich die beiden Hauptstraßen kreuzen, kann man alle
vier Stadttore zugleich sehen. Das Theater ist verfallen
und stark beschädigt. Die Mauern kann man von keinem
Punkt der Stadt aus vollständig überblicken. Von der
antiken Stadtmauer sind zudem kaum noch Reste vorhanden,
vielmehr wurde sie von den Seldschuken ausgebaut, die
Stadt selbst mit einem doppelten Mauerring umgeben.
Nikaia war die erste Eroberung der Kreuzfahrer auf
asiatischem Boden und wurde als erste dem byzantinischen
Kaiser zurückerobert. Da die Stadt trotz langer
Belagerung immer noch vom See aus versorgt wurde, ließen
die Kreuzfahrer vom Kaiser Schiffe anfordern, die vom
Meer über die Landbrücke gezogen, dann zu Wasser
gelassen und vor die Stadt gebracht wurden, so daß diese
auch von der Seeseite her eingeschlossen war. Damit war
der Fall Nikaias besiegelt. Nachdem wir kein Hotel
finden können, das unseren Ansprüchen genügt, fahren wir
in der untergehenden Sonne, die den See schon bald in
ein romantisches Dunkel hüllt, nach Gemlik zurück.
Dorthin hatte Hannibal sich geflüchtet, als er mit der
Flotte des Antiochos in einem Seegefecht gegen Rhodos
unterlegen war und um seine Auslieferung fürchtete. Über
Kios liegt ein Berg, der in der Antike Arganthonios
hieß, und hier soll ein Gefährte des Herakles namens
Hylas, als er zum Wasserholen ging, von den Nymphen
entführt worden sein. Das Hylasfest ist längst in
Vergessenheit geraten, und niemand weiß heute mehr, daß
die Stadt von Kios, der ebenfalls ein Gefährte des
Herakles war, gegründet worden ist, als dieser von
Kolchis zurückkehrte und hiergeblieben war. So
jedenfalls berichtet es die Sage der Argonauten.
Die Landspitze
Bosburun, welche den Golf von Gemlik vom nächsten
trennt, ist noch immer dicht bewaldet, und es bedarf
keiner großen Phantasie, sich tief unter der Steilküste
die Argo vorzustellen, wie sie gerade vorbeisegelt, nach
Jolkos hin, an ihrem Buge Medea sitzend, „zu Jason heiß
in wilder Liebesglut entbrannt.“ Welch ein Weib! von
Euripides besungen. Durch lichte Pinienwälder
schweifend, lassen wir den einen Meerbusen hinter uns
und fahren in den nächsten ein, den Astakenischen, an
dem die Stadt Astakos lag, von Lysimachos zerstört. Die
Bewohner dieser Stadt siedelte ihr Erbauer nach
Nikomedeia um. Tief im Innern des Astakenischen Busens
lag die Hauptstadt Bithyniens, Nikomedeia, das in
römischer Zeit, als Diokletian hier regierte, so
prächtig gewesen sein soll, daß es mit Rom und
Antiocheia konkurrieren konnte. Doch nichts vom Glanz
alter Zeiten ist geblieben. In der Sangariosebene, die
Bithynien auf der Nordseite begrenzt, dringen wir nicht
weiter vor, sondern wenden uns westwärts, Istanbul zu.
Nach kurzer Irrfahrt durch die Vorstadt Kadıköy, dem
antiken Chalkedon, wo einst der berühmte Chalkedonische
Tempel lag, gelangen wir auf der Brücke über den
Bosporus nach Istanbul, dem antiken Byzantion, wo wir
thrakischen Boden betreten. Die Türken haben die Stadt
1453 unter Mehmet II. erobert. Die langen Mauern
Theososius' II hielten dem Kanonenbeschuß nicht lange
stand, große Breschen wurden in sie gerissen, Türme
stürzten ein. Es war das Ende des oströmischen Reiches,
die abendländische Kultur geriet für Jahrhunderte ins
Wanken, solange die Türkengefahr nicht gebannt war.
Diese theodosianischen Mauern, von Manuel Komnenos
nochmals verstärkt, umgeben die Stadt auf einer
Gesamtlänge von 20 km. Wer aber kann von sich sagen, er
habe Byzanz vollständig umschritten? Nach gut
vierstündiger Wanderung treffe ich wieder an meinem
Ausgangsort ein. Unsere Reise durch das westliche
Kleinasien, durch Ionien, Karien und Lykien, zurück
durch die Troas und einmal ums Marmarameer herum, sie
ist beendet. Mehr als 3000 km haben wir in diesen 14
Tagen zurückgelegt, mehr als sechs Dutzend verschiedene
Ruinenstätten und Ausgrabungen aufgesucht, allen voran
Troja, und dreitausend Jahre Menschheitsgeschichte
ließen wir in dieser Zeit an uns vorüberziehen. Mir war,
als hätte ich am Feldzug Dareios' teilgenommen: die
verbrannte Erde Ioniens, die dunklen Schluchten Kariens,
das weithin schiffbare Meer, all das nährt in mir das
Gefühl tiefer Verlassenheit. Die Türkei ist ein Land,
das stark im Umbruch begriffen ist, die Zerstörung
seiner Natur schreitet schnell voran, um wieviel
wichtiger war es daher, uns seine Kulturen noch
anzueignen, um sie zu besitzen.
Copyright © 2007,
Manfred Hiebl. Alle Rechte vorbehalten.