Die Seefahrt muß uralt sein.
Als vor 40000 Jahren Australien besiedelt wurde, können die
heutigen Ureinwohner nur auf Booten oder Flößen
hinübergerudert sein, da das Meer dort Tiefen aufweist, die
selbst während der Eiszeit niemals trockengefallen sein
können. Das ereignete sich, lange bevor die ersten
Bootsfunde datieren. Folglich muß die Fortbewegung zu Wasser
viel älteren Datums sein. Der Pazifik wurde von Neu-Guinea
aus über Melanesien besiedelt, von Menschen, die ihrer
Abstammung nach mehr dem Europäer verwandt sind als dem
Asiaten. Sicher ist auch, daß die Kunst des Bootsbaus und
des Segelns in Europa erfunden worden ist, da es dort
zugleich die ältesten Schiffsfunde gibt, 9000 Jahre vor
unserer Zeitrechnung, im Grönsteiner Moor. Das Segel wurde
zuerst auf dem Nil eingesetzt, und nur über Ägypten kann
sich das Wissen, die Kraft des Windes für die Fortbewegung
zu nutzen, nach Ozeanien verbreitet haben, es sei denn, man
nimmt an, daß das Segeln in unterschiedlichen Regionen der
Erde unabhängig voneinander erfunden worden ist. Doch woher
hatten die Ägypter ihre Kenntnisse? Als Solon in Ägypten
weilte, hörte er dort von einer Sage, daß es weit draußen
auf dem Meer, vor den Säulen des Herakles, dem heutigen
Gibraltar, eine Insel gab, so groß wie ein Kontinent, auf
der eine hochentwickelte Zivilisation ein Staatswesen
gegründet habe, welches der Seefahrt mächtig war, den
Streitwagen kannte, die Erzgewinnung verstand und sich die
besten Gesetze gab, 9500 Jahre vor Christi Geburt, und die
damit bedeutend älter war als die ägyptische Kultur, die
damals noch auf der Stufe der Steinzeit stand. Von den
Seevölkern reden die Historiker, wenn sie unbekannten Boden
betreten. Woher sie kamen und wohin sie gingen, darauf gibt
es bis heute keine Antwort. Sicher zu sein scheint aber, daß
die Insel Atlantis und mit ihr eine ganze Kultur durch einen
Tsunami ausgelöscht worden ist, an „nur einem schlimmen Tag
und einer schlimmen Nacht“. Niemand konnte sich je
vorstellen, ehe nicht der Tsunami von 2004 Indonesien und
den gesamten indischen Ozean heimsuchte, welche Zerstörung
durch ein unterseeisches Beben entfaltet werden kann, und
nachdem die Atlanter ein hochentwickeltes Seefahrervolk
waren, welches auf einer Insel lebte, die über einen oder
mehrere große Häfen verfügte, ist es nur allzu denkbar, daß
etliche tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung ein ähnlicher
Tsunami auch die Küsten des Atlantischen Ozeans heimgesucht
hat, mit dem die gesamte Zivilisation der Atlantiden auf
einen Schlag beendet wurde. Ihr Wissen mußte von anderen
Völkern erst wiedererworben werden. Atlantis muß aber nicht
unbedingt dort gelegen haben, wo heute erdbebengefährdetes
Gebiet ist, weil die durch einen Tsunami ausgelöste
Flutwelle sich noch in Tausenden Kilometern Entfernung
verheerend auswirken kann. Eines jedoch scheint sicher zu
sein: Der Ursprung jenes Bebens muß seinen Ausgang von einem
äußersten Unruheherd vor den Säulen des Herakles, wie Platon
sagt, genommen haben, einer weit draußen auf dem Atlantik
gelegenen Insel des Mittelatlantischen Rückens, der sich von
Island bis tief in den Südatlantik erstreckt und dessen
südlichste Vertreter in den Vulkanen der Antarktis, etwa auf
Deception Island, zu suchen sind. Jener Riß in der
ozeanischen Kruste löste seinerzeit, als die Insel Atlantis
versank, eine gigantische Flutwelle aus, und mit ihr gingen
die „Seevölker“ zugrunde, deren Erbe wir noch heute im
Pazifik bewundern, vielleicht an den Ozeaniern Polynesiens.
Wir suchen Atlantis daher am falschen Ort, denn lange bevor
sich dieser Tsunami ereignete, war gerade die Eiszeit
vorbei, und der Meeresspiegel lag gut 100 m niedriger als
heute, vielleicht noch tiefer. Die Azoren, jene neun Inseln
draußen auf dem Atlantik, waren damals flächenmäßig
bedeutend größer als heute, und die Gewalt des Meeres hat
seitdem den Küstenverlauf abgenagt. Das versunkene Atlantis
liegt heute unter dem Meeresspiegel, wenn es denn je
existiert hat, und die Wissenschaft sucht möglicherweise an
der falschen Stelle, nämlich dort, wo heute die Küste
verläuft, und nicht unter dem Schutt, der sich in mehreren
tausend Jahren darüber abgelagert hat. –
Seit jeher war es unsere
Überzeugung, daß die Welt mehr Geheimnisse birgt, als bisher
gelüftet wurden, und daß es Dinge zwischen Himmel und Erde
gibt, die sich uns noch nicht erschlossen haben. Was also
liegt näher, als daß wir uns auf die Suche danach begeben.
Dies ist sogleich für uns der Einstieg, wo es von unseren
eigenen Erfahrungen mit Atlantis zu berichten gilt. In
diesem Jahr schicken wir uns also an, uns endlich Klarheit
zu verschaffen, auf einer 17-m-Jacht, die auf den Namen
Nautilus getauft ist, wie sie uns aus den Romanen von Jules
Vernes geläufig ist. Denn was liegt näher, als die Suche
nach Atlantis mit Jules Vernes’ Reise zum Mittelpunkt der
Erde zu verbinden, jedoch nicht ins Erdinnere, sondern
mitten auf den Atlantik hinaus, wo die Sage ihren Ausgang
nimmt.
Wer kennt sie nicht, die
Geschichten von Heinrich dem Seefahrer, dessen
Expeditionsreisen das Entdeckungszeitalter einläuteten?
Heute stehen die Bronzestatuen von Gil Eanes, der als erster
Kap Bojador umrundete, von Soaira da Costa, der die
Goldküste befuhr, und von Bartholomeo Diaz, dem als erstem
die Umrundung des Kaps der guten Hoffnung gelang, im
Nautik-Museum von Lissabon. Wir bestaunen dort die
Nachbildungen der Karavellen San Gabriel und San Raffael,
mit denen Vasco da Gama den Seeweg nach Indien erschloß, und
bewundern das überlebensgroße Bild von Albuquerque, des
ersten Vizekönigs von Indien.
Die Entdeckung der Azoren durch
die Portugiesen ist eine andere Geschichte. Am 15. August im
Jahre des Herrn 1532 entdeckte Gonçalo Velho Cabral die
Insel São Miguel und am Tage darauf Santa Maria. Ein anderes
Datum (1527) nennt Diogo de Silves als ersten. Die
Entdeckung der anderen Inseln erfolgte erst Jahre später.
Bereits auf Karten des Mittelalters sind die Azoren als
Inselgruppe verzeichnet, die Karte von al-Idrisi aus dem
Jahre 1154, einem arabischen Weltreisenden, weist neun
Inseln aus, genau an der Stelle im Atlantik, wo heute die
Azoren liegen. Die Inselgruppe liegt etwa 760 Seemeilen vom
portugiesischen Festland entfernt und ist von Lissabon aus
in gut zwei Stunden mit dem Flugzeug zu erreichen. Nach
Lissabon existieren Verbindungen von jeder größeren Stadt
Deutschlands aus.
Eine Wetter-Faustregel besagt,
daß, wenn über den Azoren ein ausgedehntes Hoch liegt, wir
auch in Deutschland schönes Wetter haben. Heute allerdings
scheint es genau umgekehrt zu sein, denn das Hoch liegt
diesmal über Island, und daheim ist es wärmer als in
Portugal. An Bord der TAP-Maschine verläuft alles gemächlich
und planmäßig, stimmt uns vorab auf den Süden ein. Lediglich
über die Sinnlichkeit der Stewardeß könnte man ins Grübeln
geraten.
Der Landeanflug auf Lissabon,
welches uns der Pilot in seiner Ansage als eine der
schönsten Städte Europas anpreist, ist atemberaubend. Die
Maschine zieht beinah um die ganze Stadt, die nicht sehr
groß ist, einen Kreis. Unter uns ist die langgezogene Brücke
über den Tejo, dann schweben wir sanft über die Altstadt,
bis wir schließlich ebenso sanft auf der Landebahn
aufsetzen. Die Fahrt mit dem Taxi ins Zentrum währt nur
kurz, das Hotel besticht durch seine Großzügigkeit. Noch
bleibt uns Zeit genug für eine Stadtbesichtigung.
Nachdem Lissabon 1755 durch ein
schweres Erdbeben bis auf die Grundmauern niedergelegt
wurde, zeigt sich die Stadt heute in einem modernen Gewand,
welches nicht mehr den Charme und Glanz einer
mittelalterlichen Stadt entfalten kann. Lediglich die Burg
St. Georg hoch über der Stadt erinnert noch an die Mauren,
welche sie bis zum Jahr 1147 besaßen. Von den Lusitanen
erobert, gelangte sie in christliche Hände. Im Gefolge der
Kreuzzüge tauchte am 28. Juni ein starkes Kreuzfahrerheer
aus England vor der Stadt auf und richtete unter der
maurischen Bevölkerung ein Blutbad an. Dies gab den Auftakt
zur Reconquista, der christlichen Rückeroberung, mit der die
Mauren bis 1492, dem Jahr der Entdeckung der Neuen Welt, von
den katholischen Königen Ferdinand von Aragon und Isabella
von Kastilien von der iberischen Halbinsel vertrieben
wurden. Da aber noch heute sehr viel maurisches Blut durch
portugiesische Adern fließt, kann diese Vertreibung nicht
ganz gelungen sein, oder aber, die zum Christentum
übergetretenen Mauren durften bleiben. Schon lange vor
Errichtung des Kalifats von Córdoba waren indes die Römer
Herren im Lande, und so mancher Legionär wird in der Gegend
des heutigen Lissabon stationiert gewesen sein. Die Römer
ihrerseits bezwangen die Punier, die von Karthago aus die
iberische Halbinsel in Besitz zu nehmen suchten. Somit ist
auf dem Gebiet des heutigen Portugal ein Völkergemisch
entstanden – zuletzt durch afrikanische Einwanderer aus den
ehemaligen Kolonien bereichert –, dessen Kolorit den
heutigen Portugiesen ausmacht.
Die auf einem der höchsten
Hügel Lissabons thronende maurische Festung, welche später
den Namen des heiligen Georg bekam, wurde auf römischen und
punischen Fundamenten errichtet, deren sorgfältig behauene
Mauerquader uraltes kulturelles Erbe darstellen. Die Mauren
hingegen verbauten Feldsteine im Gemäuer, so daß sich das
Kastell heute in einem Stilgemisch verschiedener Epochen
präsentiert. Nicht zuletzt der umfassenden Aussicht wegen
wurden die ersten Tempel auf jener Höhe errichtet, von wo
aus später Kanonen das Hafenbecken bestreichen konnten. Die
maurische Burg genießt den Ruf, daß auf ihr, in einem ihrer
Türme, schon der alte Odysseus eingekerkert war, der auf
seinen Irrfahrten bis nach Portugal gekommen sein soll.
Woher die Fabel stammt, läßt sich heute nicht mehr
ergründen. Wohl zu jeder Zeit nahm man mythologische
Gestalten gern in Anspruch, um die eigene Vergangenheit
aufzuwerten.
Die Altstadt Lissabons, d.h.
diejenigen Stadtviertel, die von dem großen Erdbeben von
1755 verschont blieben, ist mit Sicherheit ein Spiegelbild
der schmutzigsten, heruntergekommensten und elendsten
Hauptstadt Europas. Die Straßenverläufe, die noch weitgehend
den arabischen Mustern folgen, die Häuser mit ihren
Kachelfassaden, den Balkonen und Erkern geben zwar ein sehr
reizvolles Bild für den Fotographen ab, aber die Angst geht
mit, wenn man abends allein durch die Alfama, so heißt
dieses Viertel, schlendert. Vielfach hängen die Menschen,
die hier wohnen, hauptsächlich Schwarze aus den ehemaligen
Kolonien, ihre Wäsche zum Trocknen auf die Straße, ein Bild,
wie man es sonst nur von Neapel kennt.
Einige Lichtblicke der sonst so
düsteren Architektur vermögen jene Bauten zu vermitteln, die
weit draußen vor der Stadt, am Ufer des Tejo in Belém
angesiedelt sind, vor allem der berühmte Torre de Belém, dem
die Touristen scharenweise zuströmen. Hier sind es
hauptsächlich die zahlreichen Japaner, die leicht zum
Alptraum werden können, weil sie kulturbeflissen in jedes
Bild laufen, ein Schreckgespenst für so manchen Fotographen.
Architektonischer Höhepunkt der Stadt ist zweifellos das im
manuelischen Stil errichtete Hieronymuskloster, dessen
Baumeister vortrefflich arabische Stilelemente in sein Werk
hat einfließen lassen. Wer Zeit und Muße hat und sich für
Kolonialgeschichte interessiert, der sollte in Belém auch
einen Besuch des Nautik-Museums einplanen. Hier werden
maurische Instrumente, Karten und sämtliche Schiffsmodelle
kriegerischer als auch ziviler Art ausgestellt, von den
Anfängen zu Lebzeiten Heinrich des Seefahrers bis ans Ende
der Kolonialzeit.
Der abendliche Rundgang durch
die Altstadt Lissabons hat mich hungrig gemacht, ein Grund
mehr, sich in eines der zahlreichen Restaurants zu setzen,
denn zum Sitzen im Freien ist es noch etwas zu kühl.
Irgendwann gibt man dem Drängen eines der vor jedem Lokal in
anbieterischer Weise werbenden Gastwirte dann doch nach und
läßt sich hereinbitten. Schweinekoteletts würden heute auf
der Speisekarte stehen, meint mein Gastgeber in gebrochenem
Deutsch. Da das Restaurant einen gepflegten Eindruck macht,
lasse ich mich nieder und werde sogleich freundlich
bewirtet. Der Ober mag sich vielleicht gewundert haben,
wieviel so ein Germane verzehrt, im Vergleich zu einem
kleinen Mauren, und versucht mich daher mit immer neuen
kulinarischen Genüssen in immer tiefere Kalorienfallen zu
locken, bis ich irgendwann nach dem sättigenden
Karamelpudding abwinke. Die Rechnung fällt dann dreimal so
hoch aus wie der Preis des Hauptgerichts, doch Reue kann ich
darüber nicht empfinden. Auf dem langen Fußmarsch zurück ins
Hotel würde ich die meisten Kalorien sogleich wieder
verbrauchen.
Der Weiterflug zu den Azoren
verläuft vollkommen reibungslos. Die Eindrücke beim
Landeanflug sind durchwachsen. Der Pico, der höchste Berg
Portugals, versteckt sich unter Wolken, die Fernsicht hält
sich in Grenzen. Mit dem Taxi erreiche ich in Kürze die
Marina. Aus der Luft sieht der Hauptort der Insel Faial,
Horta, sehr malerisch aus, doch fühlt man sogleich die Enge,
wenn man ihn erreicht hat. Horta liegt in einer allseits
geschützten Bucht, zwischen Vulkanhügeln eingebettet, die
Strände aus scharfkantigen, zerrissenen Basaltklumpen. Alle
Inseln sind sehr grün, aber nahezu unbewaldet. Früher gab es
auf den Azoren viel Wald, der allerdings den Rodungen des
Schiffsbaus zum Opfer fiel. Gegenüber ragt majestätisch der
Pico in den Himmel, dessen Spitze in blendendem Weiß
erstrahlt. Zur Linken erstreckt sich die Insel San Jorge,
die mit Faial und Pico eine von drei Dreiergruppen der
insgesamt neun Azoreninseln bildet. Die Temperaturen bewegen
sich um die 20 °C, dazu weht von See her eine frische Brise.
Es dauert geraume Zeit, bis ich den Liegeplatz der Nautilus
ausgemacht habe, aber sie ist aufgrund ihrer Größe mit einer
Länge von 17 m kaum zu übersehen. Als ich mit meinem Seesack
die Hafenmole entlangschlendere, kommt mir sogleich der
Skipper mit einem Teil der Crew entgegen. Eine freundliche
Begrüßung folgt, und zwei meiner Begleiter kenne ich bereits
aus dem Flugzeug. Eine Frau befindet sich auch darunter, sie
ist Sexualberaterin, wie sich später herausstellt, und
dürfte die einzige sein, die außer mir noch im Berufsleben
steht. Alle anderen sind Rentner oder haben es nicht mehr
nötig zu arbeiten, ich bin nach Gaetano der jüngste.
Sogleich teilt mir der Skipper mit, daß wir morgen erst
einmal hier liegenbleiben, denn es sei Wind mit 35 Knoten
angesagt: ein Tiefausläufer, der aber „relativ schnell
durchzieht“, wie unser Skipper meint.
Die SY Nautilus ist auf ihrem
Weg aus der Karibik zu den Azoren gekommen, und alle
Crewmitglieder bis auf eines haben ausgecheckt und sind nach
Hause geflogen. Geblieben ist lediglich Charly. In der
Karibik hätten sie viel Regen gehabt, erzählt dieser, und
wenig Sonnenschein. Zum allgemeinen Beschnuppern begeben wir
uns erst einmal auf ein gemeinsames Bier in eine Kneipe. Nun
handelt es sich bei meinen Mitseglern, wie sich schnell
herausstellt, um die ganz typische Klientel, die eine solche
Art von Reisen im allgemeinen mitmacht: gut gefüllte
Portemonnaies, selbstbewußt im Gefühl des eigenen Werts und
gesalbt mit den typisch deutschen Tugenden. Aufgrund ihrer
Lebenserfahrung sind alle von einem etwas größeren Ernst in
allen Fragen des Lebens, wogegen die Leichtigkeit der Jugend
fehlt. Schlauer Sprüche hingegen kann sich beinahe keiner
enthalten, und auch nicht jeder von ihnen ist ein guter
Zuhörer. Beim ersten gemeinsamen Abendessen tasten wir uns
gegenseitig ab, um herauszufinden, wo ein jeder steht. Dabei
sprechen die meisten, wie man dem einen oder andern bereits
an den Augen ablesen kann, mehr dem Alkohol zu, als einem
lieb ist. Die Art und Weise, wie man daselbst sein Essen
serviert bekommt, ist zudem etwas ungewöhnlich. Roher Fisch
wird serviert, auf einen heißen Stein gelegt und solange
gegart, bis er genießbar ist. Mir persönlich bekommt der
Fisch, der selbst nach längerem Garen immer noch ziemlich
roh schmeckt, nicht besonders, obwohl er auf jeden Fall
fangfrisch ist.
Zum Ausklang des Tages begeben
wir uns noch auf eine Runde Gin in das berühmte Café Sport,
wo sich Atlantiksegler aus aller Welt zu einem heiteren
Plausch ein buntes Stelldichein geben. Alle, die hier
vorbeikommen, haben die angenehme Pflicht, ihre Wimpel zu
hinterlassen, mit denen die ganze Bar austapeziert ist.
Interessante Bekanntschaften kommen dadurch aber meist nicht
zustande. In der Nacht erreicht der angekündigte Wind sein
Maximum, die Wanten schlagen wie wild, während die meisten
von uns sich dem Schlaf des Gerechten hingeben.
Am nächsten Morgen gibt es
erstmal kein gemeinsames Frühstück, nichts wird organisiert.
Jeder schnappt sich irgendwas zum Knabbern, die einen brühen
sich heißen Tee auf, die anderen trinken einen Espresso. Bis
nach dem Einkaufen zu warten und gemeinsam zu frühstücken
ist anscheinend aus der Mode gekommen. Nachdem endlich die
Einkaufsliste erstellt ist, hat keiner so recht Lust
anzupacken. Ganze drei Leute werden entsandt, um die
Einkäufe zu erledigen. Ohne sich selbst treu zu bleiben,
fällt dem einen oder andern jetzt ein, nun doch endlich
etwas essen zu wollen, der Einkauf wird aufgeschoben. Mit
einem unkoordinierten Vorgehen habe ich zwar schon
gerechnet, aber es ist mir trotzdem zunehmend ein Greuel,
wenn ich von Reise zu Reise feststellen muß, daß unter
Deutschen langsam die Führungsstrukturen zusammenbrechen.
Alles gerät aus den Fugen, jeder sehnt sich scheinbar nur
danach, auch in einer Gemeinschaft tun und lassen zu können,
was er will. Ihre mangelnde Selbstdisziplin aber zu
entschuldigen, darin tun sie sich wahrlich nicht besonders
schwer. So warte ich denn im Freien sitzend vor dem Café
Sport geduldig ab, bis meine Mitsegler endlich ihren Kaffee
geschlürft haben und sich an unsere Vereinbarung erinnern.
Nachdem sie nun ihr Frühstück mit Fleiß in die Länge gezogen
haben, werden Vorräte eingekauft, gebunkert, und als der
stürmische Wind abgeflaut ist, die Sonne herauskommt und der
Pico sich wolkenfrei zeigt, klarieren wir aus, setzen die
Segel und nehmen Kurs auf Magdalena. Bei halbem Wind steuern
wir im Sonnenschein die zwei gespenstischen Felsen an, die
vor unserem Zielhafen bizarr aus dem Meer ragen. Einer von
ihnen ist durchbrochen, besitzt ein Fenster.
Das Meer zwischen Faial und
Horta ist kaum 100 m tief. Zu Zeiten von Atlantis mögen die
beiden Inseln, die allenfalls durch einen engen Kanal
voneinander getrennt waren, eine zusammenhängende Landmasse
gebildet haben. Seit der letzten Eiszeit sind die
Küstenlinien immer weiter zurückgewichen, und das Meer unter
uns birgt möglicherweise ein Geheimnis – das des versunkenen
Atlantis.
Als wir in Magdalena auf Pico
einlaufen, steht starker Schwell ins Hafenbecken. Unser
Anlegemanöver kann nicht gelingen. Zu hoch schlagen die
Wogen gegen die Kaimauer, an ein ruhiges Liegen ist hier
nicht zu denken. Daher müssen wir unser Vorhaben aufgeben
und wieder nach Horta zurückkehren. Der Wind hat
zwischenzeitlich aufgefrischt, eine Kaltfront zieht durch.
Fröstelnd und frierend sitzen wir in der Plicht, die
Enttäuschung, zurückkehren zu müssen, steht uns ins Gesicht
geschrieben.
Abends nach dem Einkaufen hat
natürlich keiner Lust zum Kochen, denn wozu haben wir
schließlich frische Ware eingekauft, wenn nicht, um sie alt
werden zu lassen. Und wieder strebt alles wie abgesprochen
zum Café Sport, denn nichts ist so groß auf diesem Schiff
wie die Trägheit. Der Mannschaft fehlt es erheblich an
Rührt-euch. Die Vorräte stehen in den Speichern, doch
keiner, der sie aufbraucht. Jeder wartet auf den andern,
damit man möglichst selbst nicht der erste ist, der einen
Finger rührt.
Am nächsten Morgen bin ich
wieder der erste, der aus seiner Koje kriecht, und während
ich schon geduscht zurückkehre, kommen die anderen gerade
erst aus ihn Kojen hervor. Früher war man es gewohnt, um 6
Uhr aufzustehen, um sieben gab es Frühstück und um acht
wurde abgelegt. Heute ist alles anders. Die Leute hören es
auch gar nicht mehr gern, wenn man ihnen etwas über
Disziplin und geregelte Abläufe erzählt, dazu ist diese
Mannschaft zu verlottert. Während ich bereits das Frühstück
auftische, stützt Volker sich am ausklappbaren Essenstisch
auf, der daraufhin zusammenbricht, wobei gut die Hälfte des
Geschirrs in die Brüche geht. Er schneidet sich dabei in die
Finger, ohne daß er es überhaupt merkt. Erst, als ich ihn
auf die Blutspuren aufmerksam mache, die er überall
hinterläßt, nimmt er in seiner Ungeschicklichkeit überhaupt
Notiz davon, reagiert aber, wie unter Schock stehend,
sogleich ungehalten, als ich ihm nahelege, zuerst seine
Wunden zu versorgen. Nachdem wir sämtliche Scherben mit
akribischer Sorgfalt aufgelesen haben, können wir unser
Etappenfrühstück fortsetzen. Als unser Skipper des Schadens
gewahr wird, herrscht er mich – offenbar in der Annahme, ich
hätte den Schaden verursacht – an, ich solle den
zerbrochenen Teller durch einen neuen ersetzen. Auch später
kommandiert er mich, wo er kann, von seiner Funktion als
Schiffsführer ausgiebig Gebrauch machend, wie seinen
persönlichen Laufburschen herum, denn er liebt es offenbar,
Befehle zu erteilen. Er, der mir als Landwirt und
Handelskaufmann im privaten Leben wohl kaum etwas zu sagen
hätte, kehrt nun den Herrn heraus: ein Spiel mit
vertauschten Farben.
Nach dem Frühstück herrscht
eitel Sonnenschein, der Wind ist ergiebig genug, um 8 Knoten
Fahrt zu machen. Am Morgen des Pfingstsonntags legen wir,
hoffentlich zum letzten Mal, unter maltesischer Flagge von
Horta ab, ein Großmeister und sechs Galeerensklaven, um
unter dem drohenden Vulkan schnell Fahrt aufs offene Meer
aufzunehmen. Unser Ziel ist die Insel Graciosa, die
Anmutige, die wir nach 46 Seemeilen erreicht haben wollen.
Die Seemannschaft hat sich
mittlerweile eingespielt, das Setzen des Groß gerät
allerdings zu einem Fiasko, weil die Jacht nicht gut im Wind
steht. Pünktlich, als wir die 100-Meter-Tiefenlinie
überqueren, die hypothetische Küstenlinie von Atlantis,
taucht die Spitze des Vulkans aus den Wolken auf, eine
mystische Stimmung umgibt uns. Wir müssen uns eingestehen,
daß wir mit dem heutigen Tag außerordentliches Glück haben:
die Temperaturen sind angenehm, die Farbe des Meers scheint
blau zu leuchten, Bedingungen also, wie man sie nicht
alltäglich antrifft. Doch was tut man nicht alles auf so
einer Seefahrt, wenn man scheinbar nichts zu tun hat? Nun,
man diskutiert, über Dinge, die zu bereden man sonst keine
Zeit findet. „Religion und Politik gehören nicht auf ein
Schiff“, läßt Rüdiger verlauten. Dabei hatte das Thema
Religion gar keiner aufgegriffen, und nun will er auch noch,
daß wir uns des Themas Politik enthalten. Der Trend heutiger
Schiffsführer geht offenbar dahin, die Leute zu Unfreien zu
machen und entsprechend zu erziehen, und zwar zu
Duckmäusern, die sich nicht mehr selbst bestimmen dürfen. Es
gibt kein Recht, die freie Meinungsäußerung zu unterdrücken,
auch nicht auf einem Schiff, und erst recht nicht, wenn man
als Schiffsführer dazu auserkoren ist, von seiner
Schlichterrolle Gebrauch zu machen. Mir fällt auf, daß die
Menschen generell immer ängstlicher werden; besonders die,
die Führungsrollen wahrzunehmen haben, verzweifeln zunehmend
an den an sie gestellten Aufgaben. Wie sonst ist es zu
erklären, daß unser Skipper nun auch den Alkoholgenuß
zwischen Ab- und Anlegen grundsätzlich verbietet. Nicht
einmal ein Bier will er uns während der Fahrt genehmigen.
Zur Rede gestellt, warum dies auf anderen Jachten des
Unternehmens gestattet sei, auf dieser dagegen nicht, weiß
er nur zur Begründung, dies sei seine persönliche
Entscheidung. Daß die Raucher aus Rücksicht auf die
Nichtraucher von ihrem Tun ablassen, vermag ich noch
halbwegs zu begreifen, daß eine Null-Promille-Grenze aber
auch auf einem Schiff eingeführt wird, welches mitten auf
dem Atlantik segelt, ist überhaupt nicht nachzuvollziehen.
Eine Seefahrt ist nämlich nicht nur lustig, sondern sie
macht auch durstig. Möglicherweise aufgrund seines
schlechten Gewissens, daß er uns soeben noch den Alkohol
verweigerte, will er nun das Geschehene wiedergutmachen und
serviert uns allen einen extra zubereiteten Capuccino. –
Sei es, daß ältere Herren kein
Gefühl mehr für physikalische Abläufe besitzen, sei es ihre
beinah stoische Gelassenheit, mit der sie alle Aufregungen
ertragen, passiert schon das nächste Malheur; denn just in
dem Moment, als der Capuccino auf dem Tisch, auf dem am
heutigen Tage schon genug Porzellan zerbrochen wurde, in
Schräglage gerät, denkt Gaetano offenbar nicht an die
Krängung, die eine Tasse wie auf der schiefen Ebene
abrutschen läßt, und fängt sie, die soeben ihre Haftreibung
überwunden hat, wie einen Tennisball auf, wobei ihr gesamter
Inhalt überschwappt und sowohl meine Hose, mein einziger
Pullover und selbst meine Schuhe noch über und über
vollgespritzt werden, was hinterher so richtig schöne
Flecken in der Kleidung hinterläßt. So etwas ist mir kurz
hintereinander jetzt schon zum zweiten Male passiert, und
stets waren ältere, ungeübte Mitsegler die Ursache. Es gibt
betretene Gesichter anschließend, aber entschuldigen tut
sich eigentlich auch keiner, denn so richtig einsehen will
seinen Fehler natürlich niemand. Lediglich die Nähe zur
Insel Graciosa, die wir nach achtstündiger Tagesfahrt
endlich erreichen, entschädigt mit ihren steil abfallenden
Küsten ein wenig für das Geschehene und macht die Sache
schnell wieder vergessen. Dennoch komme ich mir manchmal
mehr vor wie in einem Altersheim als wie auf einer
Segeljacht.
Als wir abends in Praia, so
heißt der Hafenort, in dem wir liegen, unser Abendessen
einnehmen, zeigt sich bei einigen meiner Mitsegler ihr
wahrer Charakter. Obwohl sie die Berge von Essen nicht mehr
zu verzehren in der Lage sind, bestellen sie immer noch
nach, um auch dieses wieder stehenzulassen. Es wäre zuviel
Sand in den Muscheln, so ihre Begründung. Natürlich muß das
Ganze noch mit einem ordentlichen Brandy begossen werden,
als Ausgleich sozusagen für den Alkohol, auf den wir
tagsüber verzichten mußten. Und immer ist Karel der letzte,
der mit dem Essen fertig ist, ihm schmeckt einfach alles,
und er weiß nicht, wann er genug hat. Dabei schleppt er
schon reichlich Übergewicht mit sich herum, und sein
Sportsgeist beschränkt sich auf vieles Sitzen. Alles, was er
tut, macht er sehr behäbig, so als müßte er erst darüber
nachdenken. Aber er ist ein guter Zuhörer.
Unsere Sexualberaterin, die
beim Überziehen der Persenning immer ausdrücklich darauf
besteht, daß wir sie am Po abstützen, benimmt sich an diesem
Abend ausgiebig daneben. Ganz nach Frauenart beschimpft sie
mich wie aus heiterem Himmel auf eine schnöde und ungezogene
Art, wie es sich vergleichsweise bei einem Partnerkrach
anläßt. Da sie bereits mit dem Skipper ein Verhältnis
eingegangen ist, habe ich bewußt darauf verzichtet, ihr den
Hof zu machen, und dafür werde ich nun gehörig abgestraft.
Habe ich mir doch mehrfach den Vorwurf anhören müssen, daß
wir beide gleich alt seien. Dabei verkörpert sie genau den
Typ von Frau, den ich am allerwenigsten schätze:
befehlerisch, andere korrigierend, immer einen Vorwurf auf
den Lippen und am liebsten die Rollen tauschend, von
mangelndem Selbstbewußtsein keine Spur. Am nächsten Morgen
versucht sie, wieder um schönes Wetter anzuhalten, sagt, sie
hätte sich in meiner Abwesenheit Sorgen um mich gemacht, und
da ich die Launen der Frauen nur allzugut kenne, gehe ich
großzügig, ohne die Erinnerung daran wachzuhalten, darüber
hinweg und nehme ihr Versöhnungsangebot an. Jeder ist nun
sogleich bemüht, wieder mehr in das Verbindende anstatt
Trennende zu investieren.
Noch während wir beim Frühstück
sitzen, tritt ein Einheimischer an uns heran, namens João,
um uns zu dem abendlichen Pfingstfest einzuladen. Alles sei
frei zum Verzehr und an Getränken, meint er, mit Ausnahme
von Bier, und wir nehmen ihn wie ein Crewmitglied freundlich
in unseren Kreis auf. Sodann wird beschlossen, die
Pfingstfeierlichkeiten auf Graciosa zu begehen, d.h. wir
werden uns einen Tag auf der Insel aufhalten. Diese
Gelegenheit nehme ich wahr, um mich der Last meiner
Mitsegler vorübergehend zu entledigen, für die es ohnehin
das höchste ist, herumchauffiert zu werden. Ich hingegen
ziehe es vor, in die Caldeira hinaufzuwandern, Furna do
Enxofre genannt, deren höchste Erhebung sich 402 m über den
Meeresspiegel erhebt. Da die Insel nicht besonders groß ist,
kann man alle Wege gut zu Fuß zurücklegen.
Schon gestern war mir
aufgefallen, daß die Häuser, allesamt aus schwarzem
Basaltstein erbaut, eine merkwürdige Mischung aus
unbehauenen Feldsteinen und sorgsam bearbeiteten, polierten
Quadersteinen darstellen, so als wären letztere aus einer
hinterlassenen Ruinenstadt zusammengetragen. Da die
fugenreine Bauweise ein älteres Zeugnis darstellt, wirft
sich die Frage auf, wo denn jene Ruinenstadt einmal gelegen
haben könnte, denn auf portugiesische Zeit dürften jene
Quader wohl kaum datieren. Entgegen der offiziellen Lesart
mag es sich so verhalten, daß es sehr wohl ältere Ruinen auf
der Insel gab, welche aber von der damaligen portugiesischen
Regierung bewußt geheimgehalten wurden, um nicht die
Begehrlichkeiten fremder Nationen zu wecken, die dann auf
dem Archipel ihre Besitzansprüche hätten anmelden können.
Beinah in jedes der heutigen Häuser sind solche Quader
verbaut, wie man sie auf dem portugiesischen Festland nicht
vorfindet, so daß es sich bei besagter Ruinenstadt durchaus
um eine größere Ansiedlung gehandelt haben mag, vielleicht
ein Erbe der Atlantiden, deren Hauptstadt durch eine von
einem Seebeben ausgelöste Flutwelle und eine plötzliche
Absenkung des Meeresbodens vernichtet worden ist, an derzeit
unbekannter Stelle.
Nach anstrengendem Fußmarsch
erreiche ich endlich die Caldeira, die nur durch einen durch
den Kraterrand getriebenen Stollen betreten werden kann. Ich
nenne ihn für mich das „Tor zu Atlantis“. Als ich am anderen
Ende des Stollens wieder ans Licht trete, werde ich
überrascht von einem märchenhaften Reichtum an seltenen
Pflanzen und Bäumen, den ich daselbst nicht erwartet hätte.
Es muß sich um die ursprüngliche Vegetation handeln, wie sie
bei Ankunft der Portugiesen vorherrschte. Mächtige
Regenwälder stehen im Innern der Caldeira, eine rechte
Mischung aus Laub- und Nadelhölzern. Dazu ertönt von
überallher ein buntes Durcheinander an Vogelstimmen, und man
vernimmt das unaufhörliche Zirpen der Grillen und das Quaken
der Frösche. Abgesehen von den Lauten der Natur ist es die
Abgeschiedenheit selbst, das Fehlen jeglicher menschlichen
Anwesenheit, welches den Ort so fantastisch macht. Hier ist
die Welt noch in Ordnung, wäre man versucht zu sagen, und
Touristen gibt es auf der gesamten Insel außer uns keine.
Inmitten der Caldeira hat sich bereits ein neuer Vulkan
aufgetürmt, von dessen Aussichtskanzeln man einen Tiefblick
genießt wie von einer Burg, die von einem mächtigen
Grabensystem umgeben ist. Der ursprüngliche Vulkan muß eine
gewaltige Höhe besessen haben, vielleicht war er einmal so
hoch wie der Pico, ehe der Gipfelaufbau in grauer Vorzeit
weggesprengt wurde und den mächtigen Einsturzkrater
hinterließ. Am tiefsten Punkt des Kraters führt ein steiler
Weg hinab ins Innere des Vulkans, durch dessen Schlund die
Erde permanent giftig-grüne Schwefeldämpfe aushaucht.
Plötzlich höre ich Stimmen.
Meine Mitsegler sind mittlerweile auch heraufgekommen, doch
dürften sie längst nicht so viele Eindrücke gesammelt haben
wie ich, der ich den ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt habe.
Mein Radius ist dafür begrenzter, aber meine Kräfte erlauben
mir noch, zu Fuß nach Lagoa zu wandern, ehe ich mich wie sie
in die Pfingstfeierlichkeiten stürze. Doch diese lassen auf
sich warten, der Gottesdienst beginnt erst um 18 Uhr. Bis
die kostenlose Volksspeisung beginnen kann, wird es 20 Uhr.
Fast die ganze Insel ist zusammengekommen, die Ärmsten der
Armen, aber auch die Heiratswilligen, denn auch dazu wird
dieses Fest gern genutzt. Allein die Schönste der Schönen
ist fast noch ein Kind. Unsere Mannschaft hat indes nicht
einmal mehr die Kraft, ihr Hungergefühl solange zu bezähmen,
bis die Küche geöffnet hat, sondern strebt, gänzlich ohne
Durchhaltevermögen, dem nächsten Restaurant zu, um sich
schon einmal vorab zu sättigen. Wer aber nun gedacht hat,
sie hätten schon genug gegessen, sieht sich hierin
getäuscht, denn nach unserer üppigen „Vorspeise“ beginnt
erst das eigentliche Mahl. Nachdem der Rotwein reichlich
durch die durstigen Kehlen geflossen ist, befällt die
meisten ein vorzeitiges Schlafbedürfnis, dem sie nicht
widerstehen können. Der schwachen Kondition meiner Mitsegler
ist es zu danken, daß sich die meisten von ihnen von dem
rauschenden Fest bereits wieder losgesagt haben, als es
gerade erst so richtig begonnen hat. –
Hinter Praia befinden sich,
unter dichtem Urwald begraben, Zeugen einer früheren
Vergangenheit. Fast eine ganze vorzeitliche Stadt ist hier
vom Dschungel überwuchert, wie ein Amphitheater in das
Halbrund einer nach einer Seite offenen Caldeira
eingebettet. Die Mauern besitzen noch eine Höhe von fast
zwei Metern, zu hoch also, um nur die Funktion eines reinen
Erosionsschutzes zu erklären, insbesondere nicht in den
windgeschützten Niederungen. Ich kann nicht glauben, daß
diese Trockenmauern von den Einheimischen aufgeschichtet
wurden. Die Bevölkerung der Insel war allezeit zu gering, um
in der Periode der ersten portugiesischen Besiedlung, von
1450 bis zur großen Abwanderungswelle um 1870, mit der die
Bevölkerung um die Hälfte geschrumpft ist, derartige
Steinmassen zu bewegen. Die Steine mußten ja von irgendwoher
geholt werden und dann zu diesen Mauern aufgetürmt werden,
was teilweise ohne künstliche Hilfsvorrichtungen gar nicht
möglich gewesen wäre. Die Menschen hatten anderes zu
besorgen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, als sich
um das wenig ertragreiche Zusammengetragen von Steinen zu
bemühen. Die Körperkräfte dieser kleinen schwachen
Inselbewohner können dieses nicht geleistet haben. Zudem
sind keine Quellen bekannt, die besagen, daß jene die ganze
Insel überziehenden Trockenmauern nicht bereits vorhanden
waren, als die ersten Portugiesen und Flamen sich hier
niederließen. Nachkommen von Negersklaven finden sich unter
der Bevölkerung kaum, also kann die Arbeit auch nicht von
diesen verrichtet worden sein. Auch in Griechenland findet
man immer wieder diese auf die Pelasger, die vorgriechischen
Bewohner der Ägäis, zurückgehenden Trockenmauern, die
scheinbar als Besitzabgrenzungen gedacht waren, ein Zweck,
wie ihn heute Zäune aus Draht erfüllen. Innerhalb der Mauern
konnte man sein Vieh leicht von dem anderer
auseinanderhalten, damit es nicht zu den gefürchteten
Besitzstreitigkeiten kam. Die Bodenerosion stellte außerdem
auf vulkanischem Untergrund nie ein Problem dar, da in
Abständen immer wieder neue Lavamassen und Ascheregen für
nachwachsenden fruchtbaren Boden sorgten.
Wer aber waren jene, die im
Neolithikum diese Mauern errichteten? Sie sind
wahrscheinlich ausgestorben, denn bei Ankunft der ersten
portugiesischen Siedler waren die Inseln unbewohnt, was aber
nicht unbedingt heißt, daß sie niemals bewohnt waren.
Wenngleich bisher keine Grabbauten oder Tempelanlagen
gefunden wurden, könnten sich dennoch spätere Bewohner des
reichlich vorhandenen Baumaterials bedient haben und die
bodenständige Bauweise übernommen haben. Andere
Erklärungsversuche besagen, daß die Mauern angelegt wurden,
um die Weingärten vor Erosion zu schützen. Die Bäume, die
heute darauf wachsen, haben aber ein Alter von mehreren
hundert Jahren, sie hätten also die Weinberge schon damals
überdeckt. Zweitens ist die Höhe der Mauern zu groß, denn
Wein benötigt zu seinem Gedeihen Sonne und ist nicht wie die
Tomate eine Schattenfrucht. Wo sind also die frühen Bewohner
dieser Stadtanlage, die an Choirokoitia auf Zypern erinnert,
der nachweislich ältesten neolithischen Stadt, abgeblieben?
War es möglicherweise eine Siedlung von Neandertalern?
Gleichwie, es muß sich um eine ausdauernde kräftige Rasse
gehandelt haben, die eine solche Schwerstarbeit verrichten
konnte. Verglichen mit dem heutigen Homo sapiens war der
Neandertaler viel stärker, er konnte Lasten deutlich
leichter bewegen als ein 1,50 m großer Portugiese.
Rätselhaft bleibt einzig, warum nirgends so etwas wie eine
Tempelanlage oder ein Heiligtum zu finden ist, aber auch das
ist nicht weiter verwunderlich, weil die ältesten Tempel der
Menschheit, die Megalithbauten, erst gut 6000 Jahre alt
sind. Die Menschen kannten damals also noch nicht diese Form
der Götterverehrung.
Es gibt noch viele andere
offene Fragen. Wie kamen beispielsweise die blauen Eidechsen
auf die Inseln? Man kann diese Fragen ausdehnen. Wie kamen
überdies die Leguane auf die Galapagos-Inseln oder die
Warane nach Comodo? Für die Azoren glauben wir die Antwort
zu kennen. Die Inseln müssen uralt sein. Sie liegen
vermutlich exakt auf der Trennlinie der eurasischen und der
nordamerikanischen Platte, die sich nach Alfred Wegener
genau an jener Stelle voneinander getrennt haben, und zwar
in grauer Vorzeit, als noch Echsen das Land beherrschten.
Bei den Azoren grenzten also die Kontinentalplatten aus Ost
und West einmal aneinander. Die Pflanzen können aber auch
später durch vom Meer angeschwemmte Samen gesprossen sein.
Solchen Fragen nachgehend segeln wir zwischen den Inseln
Graciosa und Terceira hindurch, bei mäßigem Wind, aber
mindestens 6-7 kn Fahrt machend, bei relativ hohem
Luftdruck, den Ort Angra do Heroísmo ansteuernd. Seglerisch
scheint heute alles bestens zu klappen, die Mannschaft wirkt
entspannt und döst untätig vor sich hin. Delphine sind das
einzige, was unterwegs ein wenig Abwechslung bietet. –
Mit dem sozialen Engagement
verhält es sich an Bord ganz unterschiedlich. Folker und
Hans sind beinahe die einzigen, die sich um die Crew
bemühen, indem sie des öfteren der Mannschaft belegte
Brötchen servieren, bei Karel verhält es sich genau
umgekehrt, er läßt sich lieber bewirten. Auch Gaetano und
Andrea engagieren sich nicht besonders – eine auffallende
Eigenschaft übrigens besonders von Hellhäutigen, beide Hände
in den Hosensack zu stecken. Sie genießen lieber den Törn,
als daß sie ihn als etwas organisiertes Gemeinsames
begreifen, bei dem ein geordneter Ablauf und
Einsatzbereitschaft gefordert sind.
In der Mannschaft hat sich die
Stimmung zwischenzeitlich wieder einigermaßen aufgeheizt,
die Antworten der Männer werden zackiger, ihr Verhalten an
Bord zunehmend kindischer. Besonders Hans, ein
„ketzerischer“ Hugenotte, der, wie seit jeher jeder
Abtrünnige, in Deutschland freundliche Aufnahme gefunden
hat, gibt Sentenzen von sich, die kein Mensch mehr versteht.
Dabei sollten wir eigentlich froh sein, daß wir die Havarie
gut überstanden haben. Im Übereifer haben wir nämlich zuviel
Segelfläche gesetzt, der Trimm muß daher immer wieder
nachgebessert werden; besonders Andrea kann er gar nicht gut
genug sein. Dabei müßten sie doch alle wissen, daß zuviel
Krängung die Fahrt eher verlangsamt. – Dann ist es Zeit zu
reffen. Doch anstatt wenigstens das erste Reff einzulegen,
versucht unser Skipper das Unterliek noch mehr zu strecken,
kurbelt aus Leibeskräften an der Winsch, bis schließlich der
Unterliekstrecker reißt. Für einen Moment herrscht nervöse
Aufregung an Bord. Rüdiger schreit Folker an, der in einer
kritischen Situation unangemessene Ratschläge erteilt.
Allein ich bleibe still und abwartend sitzen, wie Rüdiger
das Problem zu lösen gedenkt. Der aber legt das erste Reff
ein, was schon früher angezeigt gewesen wäre. Ich hatte von
Anfang an den Verdacht, daß er einiges auf die leichte
Schulter nimmt. Seekarten habe ich bei ihm noch niemals
gesehen, vielleicht hat er gar keine dabei.
Ein Schwarm Delphine, die eine
Zeitlang vor unserem Bug herschwimmen, verheißt glücklichere
Aussichten. Die Insel Terceira ist nun schon zum Greifen
nah. Zwei Wenden sind notwendig, um den Versatz durch Wind
auszugleichen. Doch schließlich kommen wir alle heil und
munter ans Ziel.
Angra do Heroísmo auf Terceira
besitzt eine saubere Marina, im Hafen ist man vor jedem
Schwell sicher und kann hier gut liegen. Angra ist einer der
wenigen Häfen der Insel, die überall rundherum steil ins
Meer abfällt. Die Hafeneinfahrt wird von zwei
portugiesischen Seefestungen flankiert, die die Stadt vor
Piraten oder feindlichen Überfällen schützen sollten. Der
Ort selbst ist sehr malerisch und sehr sauber, das Stadtbild
überaus homogen. Einen großen Reichtum strahlt die Stadt
nicht aus, lediglich in den Bau der Kathedrale scheint man
eine größere Summe investiert zu haben.
Nach unserer relativ späten
Ankunft gibt es für Folker, unserem am meisten kulinarisch
Gesinnten, wieder nichts Wichtigeres, als uns in das
teuerste Lokal des Ortes zu lotsen, wo an einem einzigen
Abend fast ein Drittel der Bordkasse verpulvert wird, nicht
ohne daß sich unsere Trinker noch einen tüchtigen Cognac
obendrein gönnen, der gemessen an der ausgeschenkten Menge
dem Fünffachen von dem gleichkommt, was man im restlichen
Europa eingeschenkt kriegt. Wieder sind wir fast schon von
den Vorspeisen satt geworden, woraufhin die, die am meisten
zu einem Hauptgang rieten, auch das meiste zurückgehen
lassen. Keiner derer, die das rechte Maß dafür verloren
haben, was weniger Reiche sich leisten können, hat
irgendwelche Skrupel darüber, daß wir fast jeden Tag große
Essensreste wegwerfen müssen, weil sie, ohne darüber Reue zu
empfinden, den einmal eingeschlagenen, verderblichen Weg
unbeirrt weiter beschreiten. Nicht einmal der Skipper
besitzt soviel Ehrfurcht – wo er doch von der Mannschaft
ausgehalten wird –, ein paar mahnende Worte zu reden. Wieder
einmal liegt es an mir, der ich die Übelkeit verursachende
Gefräßigkeit meiner Mitsegler kaum noch ertragen kann, an
ihr besseres Ich zu appellieren.
Am nächsten Morgen gibt es
nichts Wichtigeres, als daß wir zuerst unseren Körper
pflegen. Da das Marinagebäude eingezäunt ist, kann man nur
duschen gehen, wenn man eine Chipkarte besitzt. Obwohl wir
nun schon über 12 Stunden am Kai liegen, hat es Rüdiger
bisher nicht geschafft, es so zu organisieren, daß wir alle
ungehindert und zu jeder Zeit Zutritt haben und uns frei
bewegen können. In allem, was das Organisatorische
anbelangt, zeigt er sich wenig talentiert; dafür lacht er
rund um die Uhr anhaltend laut, was allerdings auch nicht
für alles entschädigt. Während ich also vor verschlossenen
Türen sitze und auch meine Mitsegler, soweit sie auf dem
Boot geblieben sind, weder ein noch aus wissen, staut sich
in mir immer mehr Wut auf, die anderen hingegen ertragen das
Chaos gelassen.
Nach dem Frühstück, zu dem es
selbstgebackenen Kuchen gibt, sind wir frei, uns den
Aufenthalt auf der Insel so angenehm wie möglich zu
gestalten. Ich nutze die Gelegenheit wieder dazu, den Spuren
der Atlantiden nachzugehen, nehme mir in Angra ein Taxi und
lasse mich hinauf zu den Furnas do Enxofre fahren. Und mein
Instinkt sollte mich auch diesmal nicht trügen. Obwohl hier
heroben in mehr als 1000 m Höhe weder Wein gedeiht noch die
Erde irgendwelche Gaben beut, findet man erneut jene auch
auf den anderen Inseln vorhandenen Trockenmauern, womit nun
eindeutig der Beweis erbracht scheint, daß diese keineswegs
wegen der Bodenerosion errichtet worden sind, sondern aus
anderen, territorialen Gründen entstanden sein müssen.
Vermutlich waren die Fumarolen einst ein Ort heiliger
Handlungen, denn wie stets bei alten Kulturen wurde mit dem
Einatmen der Dämpfe die Gabe der Weissagung verknüpft.
Sämtliche alten Orakelstätten, die wir kennen, atmen den
Hauch solcher Dämpfe, wie sie hier im alten Atlantis nicht
minder austreten. Die kultischen Zeremonien, die von den
urzeitlichen Bewohnern ausgeübt wurden, müssen in rituellen
Handlungen gegipfelt haben, bei denen die Opfer – Menschen
oder Tiere – irgendwelchen animistischen Gottheiten
dargebracht wurden. Skelette oder Spuren von Werkzeugen
wurden bisher aber nicht aufgefunden, doch hat
wahrscheinlich auch noch niemand gezielt danach gesucht. Auf
jeden Fall birgt dieser Vulkan auf Terceira, namens Santa
Barbara, noch so manches ungelüftete Geheimnis, das weiter
reicht als die fantastische, einzigartige Flora ringsum, die
aus seltenen Farnen und Schachtelhalmgewächsen besteht, also
genau diejenigen Arten repräsentiert, die aus der Urzeit
unserer Erde stammen und vermutlich aufgrund einer
Klimaänderung in Miniaturform, wie etwa die überlebenden
Echsen, auf unsere Zeit gekommen sind.
Der Vulkan hüllt sich
mittlerweile in dichte Wolken, die mir beinahe die Sicht
rauben. Dennoch beschließe ich, die mehrstündige Wanderung,
zu der meine Mitsegler nicht zu bewegen waren, allein
anzutreten. Zunächst führt mein Weg zu der Lavahöhle Algar
do Carvão, die ich allerdings verschlossen finde. Die
Wanderung hierher führt durch eine ganz eigenartige,
wundersame Flora. Es scheint beinah eine einzige, nur hier
vorkommende Baumart zu geben, welche die Feuchtigkeit aus
der schwül-warmen Luft über feinfiedrige Nadeln aufnimmt.
Die Wipfel der Bäume bilden eine Form von halbrunden Bällen
aus, wie mit einem Kurzhaarschnitt versehen, so als wollten
sie zum Streicheln einladen. Am Boden unter ihnen gedeihen
in Europa nie gesehene Gräser, und immer wieder tauchen
Farne auf. Hier hat der Mensch noch kaum in die Natur
eingegriffen. Auch Vogelgezwitscher und das Quaken von
Fröschen hellt diese seltsam verschlossene Landschaft ein
wenig auf. Auf Irr- und Abwegen wandelnd habe ich schon
reichlich viel Zeit verloren, so daß meine Sorge nicht die
verbleibende Strecke darstellt, sondern allein die Tatsache,
daß ich für eine 5stündige Wanderung lediglich zwei Kiwis
als Wegzehrung mitgenommen habe. Dem Gelände folgend
versuche ich zunächst am Rand der Caldeira entlangzugehen,
doch den im Tourenführer bezeichneten Einstieg finde ich
nicht, weder den schmalen Weg noch die weißen Pfeile. Auch
das beschriebene Gatter befindet sich nicht dort, wo es sein
müßte, die Entfernungsangaben von den Wegmarken an gerechnet
stimmen überhaupt nicht. Statt dessen erwarten mich nur
Stacheldraht und Trockenmauern, die es zu überwinden gilt
und die mein Weiterkommen erheblich erschweren. Überall sind
die Hänge steil und mit Disteln und undurchdringlichem
Gestrüpp überwachsen, die Rinderweiden eingezäunt, der Boden
von den Tritten der Paarhufer durchlöchert. Das Tückische
daran ist, daß man die Löcher aufgrund des darüber
wachsenden Büschelgrases nicht sieht. So taste ich mich denn
Tritt für Tritt, mich aufgrund meines für diese Wanderung
völlig ungeeigneten Schuhwerks zunehmender Unsicherheit
ausgesetzt sehend, mühsam voran, bis das Unvorhergesehene
eintritt und alles kommt, wie es kommen muß: Ich falle in
ein Loch und lande auf dem Bauch. Fluchend, wenngleich auch
das nichts hilft, versuche ich mich über die Weide in den
nahen Wald zu retten, aber auch hier gilt es zunächst
wieder, Stacheldrahtzäune zu überwinden. Als ich dann den
Hirtenhund erblicke, ziehe ich mich über die Mauern zurück,
irre durchs Dickicht, mache riesige Umwege wegen des
undurchdringlichen Brombeergestrüpps und lande nach einer
eineinhalbstündigen Odyssee am Ende wieder auf der Straße,
von der ich meinen Ausgang nahm.
Nachdem die Einheimischen keine
Spaziergänger sind und nichts dergleichen für den Wanderer
erleichtert wird, sondern umgekehrt noch erschwert, gebe ich
mein Vorhaben kurzerhand auf und wandere auf der Fahrstraße
nach Angra zurück, zuletzt auf einem im Bau befindlichen
Stück Autobahn. Der Weg durch die Caldeira ist auch ohnedies
faszinierend genug, die Steilabfälle der Abhänge der
höchsten Erhebung auf dem Kraterrand, dem Pico Rosto,
reichlich jäh, aber durch den doppelt so langen Umweg auch
erschöpfend. Als ich in Angra wieder mein Schiff erreiche,
ist die Crew längst weg, ohne für mich eine Nachricht
hinterlassen zu haben. Einen Stierkampf haben sie sich
angesehen, wie ich am nächsten Morgen erfahre. Nachdem ich
fast alle Restaurants der Stadt vergeblich nach ihnen
abgeklopft habe, gebe ich die Suche auf, nehme ein
bescheidenes Abendessen ein und lege mich früh schlafen,
denn morgen heißt es früh raus.
Das Wetter ist auch am nächsten
Tag nicht gerade optimal, kaum ein Lüftchen, das sich regt.
Somit werden wir heute, zumal zwei von uns nach Hause
fliegen, ein längeres Stück unter Motor ablaufen müssen.
Beim überhasteten Ablegen noch während des Frühstücks hat
unser Skipper im Hafenbecken Grundberührung, weil er viel zu
dicht an die Molensteine heranfährt. Mehrere Kaffeetassen
kippen um, als plötzlich ein Ruck durchs Schiff geht. Selbst
aus der Tasse, die ich fest in Händen halte, geht das meiste
verschütt. Eine solche Grundberührung habe ich, seit ich
Segler bin, noch nie erlebt, der Skipper sinkt dadurch in
meiner Achtung. Er läßt auch nicht nachprüfen, ob von
irgendwoher Wasser eindringt, sondern läuft einfach aus. Ob
er gemäß guter Seemannschaft einen Logbucheintrag gemacht
hat, vermag ich nicht zu beurteilen. Ein Logbuch jedenfalls
habe ich auf dem Navigationstisch noch niemals liegen sehen,
ebensowenig, wie ich ihn jemals an einer Karte arbeiten sah.
Er macht offenbar alles mit seinem Computer, mit dem man
nachträglich Eintragungen beliebig fälschen kann. Auch
davon, zur Sicherheit den Kurs in der Karte mitzuplotten,
hält er anscheinend nichts. Würde die komplette elektrische
Anlage an Bord ausfallen, wüßten wir nicht, wie wir uns
behelfen müßten. Nur der Tatsache, daß so etwas selten
passiert, ist es zu danken, daß keine strengeren Auflagen
seitens der Behörden gemacht werden.
Auf gleichmäßig stetigem Kurs
von 135° nähern wir uns langsam aber sicher der Insel São
Miguel, meistens unter Mitlaufen der Maschine, denn nur
selten ist der Wind steif genug, um uns ohne
Motorunterstützung voranzutreiben. Zwischendurch fängt es
auch an, leicht zu regnen, doch die Stimmung ist gut.
Lediglich Folker läßt keine Gelegenheit verstreichen, mir
eins auszuwischen. Ich würde die Arbeit sehen, ohne sie zu
erledigen, meint er, und das in einem Befehlston, wie er
sich nicht einmal für einen Schiffsführer ziemt. Ich
reagiere in solchen Situationen meist gelassen, bleibe
sachlich und kühl, denn schließlich liegt das Problem der
Überforderung auf seiner Seite. Trotz seines vorgerückten
Alters rivalisiert er immer noch mit den Jüngeren, obwohl
ihm langsam zu Bewußtsein kommen müßte, daß er irgendwann
nicht mehr mithalten kann. Sein Freund Hans paßt aufgrund
seiner vorlauten Art recht gut zu ihm. Beide essen sich
gegenseitig von den Tellern, das einzige, was noch fehlt
ist, daß sie sich gegenseitig füttern. Aber auch angesichts
von soviel Zärtlichkeit unter Männern gelingt es beiden
nicht, mich aus der Fassung zu bringen, und wenn sie noch so
viele Nebenabreden treffen.
Andrea hat am heutigen Tag
geglänzt, nicht nur, daß sie von ihrem Befehlston etwas
abgerückt ist, sondern auch dadurch, daß sie sich um unser
leibliches Wohl verdient gemacht hat. Gaetano reagiert immer
etwas eigensinnig, wenn er angesprochen wird, versteckt sich
hinter seinen großen Zigarren, von denen er immer eine im
Mund hat und genußvoll in sich hineinzieht, mit aufgesetztem
Grinsen. So äußert er denn irgendwann den Wunsch, daß man
sich über Atlantis nicht mehr unterhalten möge, zu
anspruchsvoll sei dieses Thema für einfache Seeleute. Stolz
auf sein Fatum, läßt er uns eines schönen Tages wissen, daß
er es „zu etwas gebracht“ habe, und das sei schließlich, was
zähle. Auch Andrea raucht ihre Zigarillos, geschweige denn,
daß Folker sich des Rauchens enthalten könnte, angesichts
der großen Töne, die er lauthals gespuckt hat (nämlich daß
er auf dem Schiff nicht rauchen würde), was er dann aber
doch nicht lassen kann und seinen guten Vorsätzen untreu
wird. Karel zeigt keine große Lust, das Ruder zu übernehmen,
auf eine Bank im Salon hingekauert, übermannt ihn statt
dessen der Schlaf. Denn wenn wir nicht kochen, dann schlafen
wir, und wenn wir nicht schlafen, essen wir. Wer schläft,
sündigt bekanntlich nicht, jedenfalls nicht auf diesem
Schiff. Unser Elan, der nie besonders ausgeprägt war, ist
nun gänzlich von uns gewichen, wir gleichen mehr einem
Golfclub als einer Regattamannschaft, und in Sachen Atlantis
konnte ich auch keine weiteren Fortschritte erzielen.
Nachdem im Tagesverlauf das
Wetter mehr und mehr aufklart, zeigt sich die Welt im eitlen
Sonnenschein, der Mond steht hell am blauen Himmel, das Meer
hat seine leuchtende Farbe wiedergewonnen, und im Gegenlicht
spiegelt sich blendend unser hellstes Gestirn. Bei 7 kn
Fahrt haben wir früher als erwartet die Insel São Miguel
erreicht, deren Südspitze wir nun umrunden, um unseren
Zielhafen Ponta Delgada anzusteuern. In der mondhellen Nacht
tasten wir uns in nur geringem Abstand zum Land an der
Steilküste entlang, da der Meeresboden hier rasch in
ansehnliche Wassertiefen abfällt, bis wir die Molenlichter
sehen, die uns ein sicheres Geleit in den Hafen geben.
Anstatt sich einen festen
Liegeplatz auszusuchen, geht Rüdiger wieder an den
Tankanleger, so als würde er sich scheuen, bei Dunkelheit
anzulegen. Mir fällt das deswegen auf, weil ich keinen
anderen Skipper kenne, der so etwas je gemacht hat. Morgen
vormittag werden wir das Schiff daher verholen müssen, was
uns wertvolle Stunden des Tages kostet.
Karel träumt noch von einem
mitternächtlichen Mahl. Er ist der dickste von uns und wird
ständig von Hunger geplagt. Für die, denen Essen nicht
soviel bedeutet, ist er eine dauernde Last. Nachdem dieser
Abend der letzte für Gaetano ist, der uns morgen verlassen
wird, leeren wir vor dem Schlafengehen noch drei Flaschen
Rotwein zusammen, ehe wir dann alle in einen erquickenden
Schlaf versinken.
Am nächsten Morgen erklärt
Folker einseitig, er würde in den Nautik-Club frühstücken
gehen, womit das Frühstück für die anderen geplatzt ist.
Eine solche Selbstherrlichkeit eines einzelnen stört den
ordnungsgemäßen Ablauf eines jeden Segeltörns, der eine
Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft bedeutet, so daß
nicht sein kann, daß immer einer aus der Reihe tanzt.
Anstatt sich als Individualist eine eigene Jacht zu
chartern, wo er dann tun und lassen kann, was er will, und
sich nicht mit anderen arrangieren muß – was für ihn sicher
die bessere Lösung wäre –, diktiert er den anderen durch
seine Eigensinnigkeit kompromißlos das weitere Vorgehen. Und
er findet darin auch noch Zuspruch, was die Gruppe in zwei
Lager spaltet. Als die einen schon weg sind und die anderen
noch nicht wissen, wo sie frühstücken sollen, gebe ich
Andrea Bescheid, daß ich mich unabhängig machen werde, um
die Insel zu erkunden, ein Vorschlag, der sicher von einigen
nicht unangenehm aufgenommen werden dürfte. Nach einem
Blitzfrühstück schnappe ich mir ein Taxi, handele kurzerhand
den Preis aus und fahre für einen Spottbetrag 26 km quer
durch die Insel, zum königlichen Ausblick Vista do Rei. Der
Taxifahrer scheint sich an keine
Geschwindigkeitsbeschränkung zu halten, denn wir jagen mit
mindestens Tempo 100 durch die engen Gassen der Ortschaften,
weder vorausschauend noch mit Rücksicht auf irgendwelche
Passanten. Gefährliche Überholmanöver, ein Kurvenverhalten,
daß es uns beinahe hinausträgt, machen den typischen Reiz
einer Fahrt über die Insel aus. Glücklich angekommen, ist
der Ausblick, den ich gerade noch erhaschen kann, ehe die
Wolkendecke sich schließt, wirklich famos. Es soll sich um
den schönsten Aussichtspunkt auf den ganzen Azoren handeln.
Unter uns liegen zwei Seen, der Lagoa Verde, der Grüne See,
und der Lagoa Azul, der Blaue See, umrahmt von steilen
Kraterwänden. Daneben gibt es noch einige kleinere Seen
innerhalb der Caldeira, etwa den Lagoa de Santiago und den
Lagoa Reisa, die den besonderen Charme von Sete Cidades, den
sieben Städten, ausmachen. Es müssen dies gleichsam die
sieben atlantidischen Städte gewesen sein, deren Reste man
hier vorgefunden hat, denn atlantidisches Mauerwerk, große,
exakt behauene Basaltquader, findet man hier allerorts in
den Hauswänden verbaut.
Nachdem ich vom Vista do Rei
zum Fuß der Caldeira abgestiegen bin, durch ebenso
märchenhafte wie unberührt scheinende Wälder, die mit üppig
wuchernden japanischen Sicheltannen bestanden sind, stehe
ich nach einem dreiviertelstündigen Abstieg am Lagoa Verde,
dem Grünen See, dessen senkrechte Steilufer unter dem
Bewuchs regelrecht verschwinden. Eine schaurig-schöne Natur
breitet sich vor meinen Augen aus, so daß es mir abwechselnd
heiß und kalt über den Rücken läuft. Das Wasser des Sees
ist, wie der Name schon sagt, giftig grün, kaum ein
Windhauch kräuselt den Wasserspiegel, nur ein Gewirr von
Vogelstimmen unterbricht die Stille. Ein Weg führt am Ufer
des Sees entlang und endet unvermutet an einer Steilwand, so
daß man gehalten ist umzukehren. Über eine steinerne Brücke,
die mich an eine römische Bogenbrücke erinnert, gelange ich
an den inneren Rand der Caldeira rings um den Lagoa Azul.
Keiner der beiden Seen kann bislang umwandert werden, und
das ist gut so, denn es würde der majestätischen Natur
ringsum nur Abbruch tun, wollte man hier wirklich einen Weg
aus dem Felsen schlagen.
Unterwegs finde ich erneut
Zeugen einer hochentwickelten Vergangenheit: behauenes
Quadergestein als Umzäunung eines einfachen Wohnhauses.
Welcher normaldenkende Mensch würde solchen Aufwand treiben
und in die Umzäunung seines Wohngrundstücks mehr Arbeit
investieren als in die Wohnung selbst. Meiner Meinung nach
mag zwar der Name Sete Cidades, „sieben Städte“, auf eine
Legende zurückgehen, aber an jeder Legende ist meist auch
ein Körnchen Wahrheit. Zum Beweis meiner „Entdeckung“
photographiere ich dieses „punische“ Mauerwerk, welches
durchaus mit der Bauweise im Stil von Baalbek, einer
gewaltigen Tempelanlage in Syrien, mithalten kann. Woher
soll die Sage von Atlantis denn kommen, wenn nicht von den
Phöniziern, den einzigen Handelspartnern der Ägypter, die
auf eine noch ältere Kultur zurückblicken können und sich
insbesondere auch auf den Bau hochseetüchtiger Schiffe
verstanden, bevor diese sonst irgendwo bekannt waren. Leider
kann man Steine mit der C14-Methode nicht datieren, so daß
immer auch Zweifel bestehen bleiben. Der phönizische
Münzfund auf Corvo, die mysteriösen Quadermauerreste an
völlig unverständlichen Stellen und die Menge des
transportierten Materials schlechthin nähren weiterhin die
These, daß die Inselgruppe der Azoren den Phöniziern bereits
bekannt war, und daß die Atlantiden sich direkt auf sie
zurückführen, lange bevor die Kelten ins Licht der
Geschichte traten. Vermutlich haben die Reste der
phönizischen Erstbesiedler nach einem oder mehreren großen
Erdbeben oder Vulkanausbrüchen, verbunden mit einer
gewaltigen Flutwelle, die Inseln für immer verlassen. Kein
Portugiese hat jemals berichtet, daß die Azoren vor ihrer
Entdeckung besiedelt waren, keiner hat jedoch auch
bestritten, daß es Überreste einer früheren Vergangenheit
gab, und falls doch, dann schützte die portugiesische Krone
dieses Wissen, damit keine andere Nation je Anspruch auf die
neu entdeckten Inseln erheben konnte, und untersagte seine
weitere Verbreitung.
Im Ort Sete Cidades suche ich
nun nach Rückkehrmöglichkeiten. In einem Restaurant erhalte
ich freundlich Auskunft über die Busverbindungen zurück nach
Ponta Delgada. Um nicht länger als eine Stunde warten zu
müssen, beschließe ich noch eine weitere Tour anzuhängen,
die durch die Caldeira nach Mosteiros führt, aber nicht über
den Kraterrand hinweg, sondern durch einen Stollen, den man,
um bei Überlauf des Sees die Überflutung des Ortes zu
verhindern, durch das Gestein getrieben hat. Ich vermute,
daß der See unterirdisch, und nicht bloß von Regenwasser
gespeist wird. Ein älterer Überlauf könnte durch diesen
ersetzt worden sein. Im Ort erkundige ich mich, ob ich den
Tunnel ohne Licht gefahrlos durchqueren kann. Alle sprechen
ein bißchen englisch, und gemeinsam verständigen wir uns
darauf, daß ich nun für mein Vorhaben im „Store“ eine
Taschenlampe besorgen muß. Wie ich dann nachträglich
feststelle, hatten die Damen durchaus recht. Ganz am Ende
des 1385 m langen Tunnels sehe ich ein winziges Licht. Es
gibt zwar ein Geländer, an dem man sich festhalten kann,
aber die Röhre ist immer wieder durch Ventile unterbrochen,
an denen man sich im dunkeln stoßen kann. Kurzentschlossen
wage ich den Einstieg, mit dem spärlichen Licht die nähere
Umgebung schwach erhellend, hell genug jedoch, um jede Art
von Hindernissen erkennen zu können. Im Innern ist der
Tunnel mit Quadersteinen ausgekleidet, welche Notwendigkeit
ich so gar nicht einsehen mag, wenn dieser, wie in den
Reiseführern beschrieben, angeblich erst 1930 gebaut worden
ist. Vermutlich hatten bereits die alten Phönizier, so sie
hier waren, derselben Not gehorchend, ein ähnliches System
angelegt, vielleicht sogar den Vorläufertunnel von diesem.
An manchen Stellen tropft es naß von den Wänden, und immer
wieder trete ich knöchelhoch ins Wasser, aber am Ende komme
ich dennoch, wie nach einem bösen Spuk, heil wieder ans
Tageslicht. Während ich durch die Röhre wandere, schießen
mir Gedanken durch den Kopf, was wäre, wenn nun plötzlich
ein Erdbeben einsetzen würde; dann würde der Kanal
sicherlich geflutet und ich müßte wie eine Maus ertrinken.
Nach einer weiteren halben Stunde Wegs komme ich nach
steilem Abstieg im Ort Mosteiros an, als mir gerade der Bus
vor der Nase davonfährt. Ein hilfsbereiter Einheimischer
ruft ein Taxi für mich, das mich in einer halben Stunde nach
Ponta Delgada zurückbringt. Der Taxifahrer begeht dieselbe
Raserei wie schon sein Vorgänger heute morgen. Da taucht
eine Kuhherde vor uns auf, die nicht überholt werden kann,
so daß sich ein langer Stau dahinter bildet. Alles Hupen
hilft hier nichts, und als eine Kuh Reißaus nimmt, rennt ihr
der Bauer auch noch hinterher.
Als ich zum Schiff zurückkehre,
erlebe ich erneut eine böse Überraschung: auf unserem Boot
haben sich zwei ungebetene Gäste eingenistet, die vom
Skipper aus der Bordkasse verpflegt werden, aber nicht auf
dessen eigene Kosten, sondern auf die unsrigen. Man ist
gezwungen, sich auf seinem eigenen Schiff in unerwünschte
Gesellschaft zu begeben. Egal, ob die Leute sich nun von
sich aus eingeladen haben oder nicht, ist dies ein absoluter
Tabubruch, der mir in dieser Form noch nicht begegnet ist.
Auch meine zurückkehrenden Mitsegler scheinen nichts gegen
die ungebetenen Gäste zu haben, zu groß ist ihre Furcht vor
dem Skipper. Als wir dann abends, nachdem uns unsere Gäste,
offenbar aus Mangel an Feingefühl, übermäßig lang vom
geplanten Essensgang abgehalten haben, noch kurz zu einem
Schnellimbiß eilen, ehe die Küche zumacht, setzt sich einer
der beiden ungefragt zu uns an den Tisch und ißt mit der
größten Selbstverständlichkeit mit, ohne von irgend jemandem
eingeladen worden zu sein. Der Skipper versäumt es, klare
Worte zu sprechen. Ich, der ich mit einem solchen Auftritt
nicht gerechnet habe, fühle mich kompromittiert. Es ist
wirklich das erste Mal, daß ich so etwas erlebe, denn
normalerweise haben Außenstehende, und seien es auch nur
benachbarte Segler, nichts auf einem fremden Schiff
verloren, schon gar nichts in unsere Kajüten zu suchen, in
die einzudringen sie vom Skipper sogar noch aufgefordert wurden.
Das Schiff liegt auch nach
meiner Rückkunft immer noch an derselben Stelle, kein
eigentlicher Liegeplatz, nur ein wenig von der Tankstelle
zurückversetzt, aber dennoch am denkbar ungünstigsten Ort.
Am nächsten Morgen ist trotzdem alles wieder vergessen, die
Sonne lacht vom Himmel – einfach ein Traumwetter! Karel hat
beschlossen, noch eine Woche länger auf dem Schiff zu
bleiben, und ich finde seine Idee gut. Er war stets
derjenige an Bord, mit dem ich mich am besten verstanden
habe. Da wir an diesem Morgen alle nicht aus den Federn
kommen, ist der Tag für weitere Ausflüge, etwa ins Vale das
Furnas, zu kurz. Ohne weiteres hätte ich mir ein Mietauto
nehmen können, um das als Highlight der Insel São Miguel
geltende Tal zu besuchen und dort eine Wanderung zu
unternehmen. Aber an meinen wehen Füßen merke ich, daß die
letzten Stunden insgesamt doch zu anstrengend waren. So
verbleibt mir an diesem Tage nichts als ein wenig Kultur in
der Hauptstadt der Insel, in Kurzweil, aber nicht in Muße.
Auf offener Straße spricht mich
kurz nach Aufbruch ein Schuhputzer an, und weil ich zuhause
manchmal wenig Zeit zum Schuhputzen habe, lasse ich mir
diesen Service gerne gefallen, wohl wissend, daß er mir am
Ende seines Werks einen überhöhten Preis abverlangen wird,
den ich ihm allerdings nicht entrichte. Um in Sachen
Atlantis nun weitere Erkundigungen einzuziehen, prüfe ich
das Mauerwerk des Forts São Braz und stelle dabei fest, daß
das Gefüge der Mauern ein ganz anderes ist als draußen auf
dem Lande, womit ich erneut einen Beweis gefunden zu haben
glaube, daß hier ältere „phönizische“ Mauern mit jüngeren
eine Symbiose eingegangen sind. Im unteren Teil des Forts
entdecke ich nämlich die Grundmauern eines „Vorläuferbaus“,
auf den dann das spätere Fort São Braz gesetzt wurde. Da
Steine sich, wie schon gesagt, nicht datieren lassen, ist es
nur das sachkundige Auge des Betrachters, welches das
Stilgemisch zu unterscheiden vermag.
Als ich wieder an Bord komme,
hält sich erneut keiner an die vereinbarte Essenszeit, es
gibt keine klaren Richtlinien über einen geordneten Ablauf.
Statt dessen hat sich schon wieder, erneut gänzlich
ungebeten, der Nachbar auf unserem Schiff häuslich
niedergelassen, sich selbst zu einem Gin Tonic eingeladen,
ganz nach Art eines Bettlers, die sich nie mit
dem Einfachen zufrieden geben, sondern stets nach Luxusgütern
trachten. Die Höflichkeit gebietet es, sich ihm zu widmen,
obwohl alles schon abmarschbereit ist und er offenbar nicht
das feine Gespür besitzt, wie er damit unser Crewleben
durcheinanderbringt. Von keinem Skipper habe ich bisher
erlebt, daß er sich mehr um fremde Crews kümmert als um die
eigene. Die Tatsache, daß ich meinen Akku nicht aufladen
kann, scheint ihn weitaus weniger zu bekümmern, als daß sein
privater Gast aus unserer Bordkasse verköstigt wird.
Nach allgemeiner
Lagebesprechung beschließt Rüdiger (nicht die Crew), nach Terceira zurückzusegeln. Mein Vorschlag, wegen des schwachen
Windes am nächsten Tag einen Abstecher nach Santa Maria zu
machen, um dort besseren Wind abzuwarten, geht im Raunen der
Menge unter. Es regt sich auch keinerlei Opposition gegen
dieses sinnlose Unterfangen. Die Crew akzeptiert
widerspruchslos alles, was Rüdiger im Alleingang
entscheidet, obwohl es doch ihr Urlaub ist. Er, dem sonst
die Zeit völlig egal ist, versteigt sich sogar, mich am
nächsten Morgen anzuschreien, als zahlenden Gast,
wohlgemerkt, weil ich zehn Minuten zu spät aus der Dusche
komme. Er diktiert, ganz nach Art eines Tyrannen, welche
Themen an Bord besprochen werden dürfen und welche nicht,
anstatt wie ein guter Hirte für seine Schäfchen zu sorgen.
Wenn er nun alles so gut organisiert hätte wie die
pünktliche Abfahrt, wäre vielleicht nichts dagegen
einzuwenden, aber er läßt ablegen, obwohl er weiß, daß wir
kein Brot an Bord haben, das uns auf der Überfahrt als
Wegzehrung dienen könnte. Mir persönlich würde das am
wenigsten ausmachen, denn ich bin auf meine schlanke Linie
bedacht, bei den anderen aber habe ich so meine Zweifel,
denn sie werden sagen: „Was sollen wir essen?“ Auf jeden
Fall bin ich mir sicher, daß sie am Vorabend so viele
Kalorien angehäuft haben, daß auch sie problemlos 18 Stunden
ohne Essen auskommen werden. –
Seit ich zu Beginn der Reise
die Bordkasse übernommen habe, ist es meine ständige
unangenehme Pflicht, säumige Einzahler zu mahnen, daß sie
ihre Beiträge entrichten. Über die geleisteten Zahlungen
führe ich genauestens Buch. Als ich Hans am nächsten Morgen
höflich bitte, sein Scherflein beizutragen, fragt er mich
unvermutet: „Habe ich dir das nicht gestern schon gegeben?“
Nun befinde plötzlich ich mich in der Rolle des
Verteidigers, eine von vielen Erfahrungen, wie das Glück auf
einem Segeltörn plötzlich umschlagen kann. Auch bei Folker
beobachte ich Wesenszüge, nennen wir es Gedankenlosigkeit
oder Ignoranz, die wenig Respekt vor der Natur bezeugen. Wie
von einer schlechten Angewohnheit getrieben, schmeißt er in
Abständen Gegenstände über Bord, aber nicht nur solche, die
im Meer versinken, sondern auch Kunststoffverpackungen, in
die man beispielsweise Bonbons einwickelt.
Nun sind wir bereits zwei
Stunden auf See, aber noch immer regt sich kein Lüftchen.
Als wir von der Insel ablegen, die Felsen von Mosteiros im
Blickfang, kreuzt erneut ein Schwarm Delphine unseren Weg,
aber diesmal sind es derart viele, daß es fast beängstigend
wirkt. Doch nicht nur Delphine in dieser Überzahl sollen uns
diesmal überraschen, auch Wale bekommen wir zu Gesicht. Sie
sind an der Fontäne, die sie ausstoßen, zu erkennen. Über so
vielen glücklichen Vorzeichen meldet sich der Hunger zu
Wort. Doch auch hier meint es die Vorsehung gut mit uns,
denn gekochter Reis mit etwas Gemüse mag durchaus als
Brotersatz dienen, Kuchen und Schokolade halten unseren
Blutzuckerspiegel stabil. Unser Schipper ist natürlich der
erste, der zu essen anfängt, wie es sich für einen guten
Kapitän gehört. Mein Entgegenkommen von neulich wird von
meinen Mitseglern schlecht honoriert, denn mir bietet
niemand an, mich demnächst am Ruder abzulösen, wie ich es
neulich tat. Statt dessen sitzen sie nur in sich
zusammengesunken über ihren Tellern und vergessen die Welt
um sich.
Mittlerweile ist bestes
Segelwetter eingekehrt, die Sonne lacht vom Himmel, das Meer
ist blau, der Wind reicht aus für eine Fahrt mit bis zu
sieben Knoten. Nach insgesamt sechzehn Stunden laufen wir
bei anhaltend guten Winden, fast unter Segeln, wieder im
Hafen von Angra do Heroísmo ein. Am Firmament steht der
nachthelle volle Mond, der der Insel ein gespenstisches
Aussehen verleiht. Längs der Küstenlinie sind immer wieder
Böllerschüsse zu hören, die von Lichtblitzen begleitet
werden. Was es mit diesem Brauch der Einheimischen auf sich
hat, läßt sich nur schwer erahnen, aber es heißt, daß damit
Beginn und Ende eines Festes angekündigt werden. Man gewinnt
in jedem Fall den Eindruck, auf der Insel herrsche der
Ausnahmezustand, denn nachdem Licht- und Schallwirkung
verflogen sind, bleiben nur dunkle Rauchschwaden zurück.
Vielleicht geht diese Tradition auf den alten Brauch zurück,
sich gegenseitig vor Piratenüberfällen zu warnen. Nachdem
wir im Mondlicht unsere Segel geborgen haben, lassen wir die
Korken knallen, und die Entbehrungen der vergangenen
alkoholfreien Tage werden doppelt nachgeholt. Mittlerweile
ist das Team ganz gut eingespielt, wir finden wieder enger
zueinander, wie es auf einem Segeltörn auch sein sollte.
Am nächsten Morgen wird
gemeinsam an Bord gefrühstückt, jeder weiß plötzlich, was er
zu tun hat, kennt seinen Handgriff, und die Gereiztheit der
vergangenen Tage hat sich weitgehend gelegt. Wir
beschließen, noch einen Tag auf der Insel zu verweilen. Mich
zieht es jetzt wie magisch auf den Monte Brazil, von dem man
eine traumhafte Aussicht auf Angra mit den beiden
flankierenden Forts haben soll. Charly schließt sich meinem
Vorhaben an, und wir ersteigen gemeinsam den etwa 205 m
hohen Pico do Facho, von dem man einen herrlichen Tiefblick
auf das darunter liegende Angra, den Hafen und die im
Hintergrund sich erhebende Caldeira hat. Auf dem Rückweg
statten wir dem Fort São Baptista noch eine Stippvisite ab.
Ein schneidiger portugiesischer Soldat führt uns durch die
gewaltigen Verteidigungsanlagen des Forts, in dem noch heute
Flakbatterien aus dem Zweiten Weltkrieg aufgestellt sind,
die aber so verrostet sind, daß sie bestimmt nicht mehr zu
gebrauchen sind. Innerhalb der gewaltigen Umwallungen spürt
man noch immer einen Hauch von Imperialismus der einstigen
Kolonialmacht Portugal, deren Niederlassungen von Brasilien
über Goa bis nach Macao reichten. Doch fast überall, wo
portugiesische Gründungen erfolgten, mußten die einstigen
Herren den überlegenen Niederländern weichen, ähnlich wie
die Briten sich Teile der spanischen Kolonien einverleibten.
Die Macht Portugals erlosch binnen zweier Jahrhunderte, sein
Glanz schwand fast so schnell, wie er gekommen war. Das
bevölkerungsarme Portugal konnte dem aufstrebenden Holland,
dessen Begehrlichkeit geweckt worden war, nicht mehr viel
entgegensetzen. Doch die wirtschaftlich schwachen
Azoren-Inseln verschmähten selbst jene, da sie nichts zu
bieten hatten außer bitterer Armut. Portugal war nicht
zuletzt auch durch den Sklavenhandel reich geworden, doch
führten die Sklavenrouten niemals über die Azoren, sondern
verliefen südlich davon über die Kapverden. Somit ist der
einstige Stolz aus den Augen der Portugiesen gewichen,
selbst innerhalb der wirtschaftlich stärkeren Nationen
Europas stellen sie heute nur eine klägliche Randgruppe dar,
die alles Bewunderungswürdige von einst eingebüßt hat. Daher
drücken die Gesichter der Portugiesen keine rechte
Zuversicht aus, viele, denen das karge Inseldasein nichts
geben konnte, wanderten nach Kanada aus. Doch so mancher,
der in der Ferne sein Glück versuchte, kommt heimlich
zurück, an die Stätte seiner Geburt.
Die zum Weltkulturerbe erklärte
Altstadt von Angra blickt auf eine reiche Geschichte zurück.
Als 1580 Pilipp II. von Habsburg Anspruch auf die
portugiesische Krone erhob, kam Portugal zu Spanien. Die
Habsburger – o welch schwaches Geschlecht – konnten jedoch
die Insel, die sie mit prächtigen Barockbauten schmückten
und wegen ihrer Lage mitten im Atlantik, an den
Schiffahrtsrouten zwischen Portugal, Amerika, Afrika und
Indien, sehr schätzten, nicht behaupten. Neben diesen
politischen Heimsuchungen erlebte die Insel immer wieder
Überfälle durch Piraten, Epidemien und eingeschleppte
Krankheiten, und Rückschläge durch Naturereignisse wie
Erdbeben und Vulkanausbrüche gaben ihr den Rest. In der
Bucht von Angra, insbesondere im Bereich der heutigen
Marina, sollen noch zahlreiche Galeonen auf dem Grunde
liegen, mit ungeahnten Schätzen, die niemand bisher zu
bergen versucht hat. Auch uns gelüstet es augenscheinlich
nicht nach Schatzsuche, denn die meisten an Bord haben
ausgesorgt, sie führen auch ohnedies ein einträgliches
Dasein. Mich hingegen zieht es wie magisch hinab auf den
Meeresboden, doch reichen meine schwachen Kräfte alleine
nicht hin, die hier ruhenden Reichtümer zu bergen.
Als wir am nächsten Morgen
auslaufen – zehn Minuten zu spät, doch nicht wegen mir –,
herrscht zwar eitel Sonnenschein, doch Wind haben wir nicht.
Ein Rahsegler kommt uns entgegen und weckt Erinnerungen an
längst vergangene Zeiten. –
Unser Skipper ist ziemlich
rechthaberisch und belehrt mich – sozusagen als Revanche
für gestern –, wie man das Wort Macadonia – nach jenen
bekannten Nüssen – richtig ausspricht. Als ich ihn frage,
woher er diese Information so schnell bezogen hat, meint er
nur lakonisch, das sei sein Geheimnis. Ohnehin werden auf
diesem Schiff Behauptungen aufgestellt, die häufig nicht
haltbar sind, beispielsweise, als in meine Bugkajüte Wasser
eindringt, weil die Decksluke nicht dicht ist. Als ich ihre
Rückfrage, ob die Luken dicht seien, bejahe, behauptet
Andrea, dann könne es nicht sein, daß Wasser eindringe. Da
ich nach langjähriger Erfahrung selbstverständlich weiß, wie
man eine Luke dicht kriegt, muß es einen anderen Grund für
die Undichtigkeit geben. Der ist schnell gefunden, nachdem
Rüdiger eine undichte Stelle am Verschluß nachgezogen hat,
durch die das Wasser eingesickert war. Noch kurz zuvor hatte
ich das Schiff gelobt, daß an seinem Zustand kaum etwas zu
bemängeln sei, verglichen mit dem, was man auf anderen
Jachten so alles erlebt. –
Aus der Bordbibliothek krame
ich das Buch „Ein Mann und sein Boot“ von Rollo Gebhard
hervor, jenem Weltumsegler, der 1980 mit der Solveig, einem
für Chiemseefahrten ausgelegten, kaum hochseetüchtigen Boot,
die Welt umsegelt hat. Ich lese fasziniert die Geschichte
der schönen Emma, die als „weiße Häuptlingstochter“ auf
Papua-Neuguinea eine bemerkenswerte Lebensgeschichte
vorweisen kann. Das ganze Buch an sich ist recht
faszinierend geschrieben, und ich kann es kaum aus der Hand
legen.
Längst ist unser Wind, während
ich noch über den Eingeborenen Melanesiens brüte, so gut
geworden, daß wir Segel setzen und um die Südspitze der
Insel, an deren gespenstischer, dramatisch steiler
Südwestküste entlang, herumsegeln können, von niedrig
hängenden Wolken, die die Bergspitzen in undurchdringliche
Nebel hüllen, begleitet. Fast mystisch sieht diese Gegend
aus, und fast unweigerlich kommen meine Gedanken wieder auf
Atlantis. Vielleicht war aber Atlantis gar nicht hier, wie
wir es uns nur allzugern einbilden, denn die Ortsangabe „vor
den Säulen des Herakles“ muß nicht unbedingt bedeuten, daß
wir geradewegs in den Atlantik hinaus extrapolieren dürfen.
Vielleicht kamen die Atlanter, als sie Athen angriffen,
lediglich durch diese „Einfahrt“ um die Spitze Gibraltars
gebogen, und ihre wahre Heimat ist ganz woanders. Vielleicht
waren es auch gar keine Phöniker, sondern Vorfahren der
Wikinger, die aus dem Norden kamen, von den Küsten
Frieslands, das dem Meer abgerungen wurde und durch eine
Sturmflut untergegangen ist. 5000 Jahre alte Felsbilder in
Norwegen deuten möglicherweise darauf hin, daß die Urheimat
der Seefahrt im Norden zu suchen ist, und nicht weit draußen
auf dem Atlantik. –
Obwohl unser Anleger in Velas
eigentlich wunderbar geklappt hätte, legt sich Rüdiger
dennoch an einen Steg, der erkennbar von einem anderen Boot
belegt ist, welches, um ausdrücklich darauf aufmerksam zu
machen, seine Leinen dort zurückgelassen hat. Zudem verliert
unser Schiff Öl, das ganze Hafenbecken ist im Nu von einem
farbigen Ölfilm überzogen. Nun wird Spülmittel ausgebracht,
um das Öl zu binden.
Beim Abendessen kommt es zum
Eklat. Obwohl wir eigentlich einen Geburtstag zu feiern
hätten, also wenigstens an diesem Tag die Waffen schweigen
sollten, gerät die Crew unter dem schädlichen Einfluß
Folkers außer Rand und Band und verfällt in Alkoholexzesse.
Nun kann man mit eigenen Augen erleben, wie die Menschen
wirklich sind, und ihre geistig-seelischen Defizite desto
ungehemmter zum Vorschein treten sehen. Charly ist da noch
der harmloseste; natürlich probiert auch er alles durch,
versucht aus meinem Glas zu trinken, weil ihm der Rotwein,
für den er sich entschieden hat, nicht genügend Abwechslung
bietet. Aber er ist ansonsten ein guter Kerl, redet
niemanden dumm an, was man von Folker, Hans und Rüdiger
nicht gerade behaupten kann. Bei Rüdiger ist es mehr seine
akademisch verkürzte Laufbahn, durch die er sich den anderen
gegenüber zurückgesetzt fühlt. Dennoch geht er mit seinen
Eingriffen ins Persönliche, worüber an Bord gesprochen
werden darf und worüber nicht, eindeutig zu weit, seine
schrägen Anreden machen ihn mir ausgesprochen unsympathisch.
Ich meine auch, daß er in Angelegenheiten, die ihn gar
nichts angehen, weder den Sheriff noch den Richter zu
spielen braucht.
Hans hat lediglich eine etwas
laute, monotone Stimme, mit der er ohne erkennbare
Gefühlsregung immer in derselben Tonlage spricht, und leider
manchmal auch ziemlich zusammenhangloses Zeug. Aber er hat
seine Seitenhiebe auf mich, von Folker anfangs dazu
ermuntert, weitgehend eingestellt, obwohl er natürlich
weiterhin sein größter Zuproster ist. Andrea hat sich nach
ihrer anfänglichen Entgleisung ziemlich zurückgehalten,
obwohl auch sie dazu neigt, anderen kleinere Fehler immer
wieder vorzuhalten, so daß man sich beinah über jede ihrer
Äußerungen ärgern muß. Folker schließlich ist von allen der
unangenehmste, weil er entgegen Sokrates’ Empfehlung zuviel
Klugheit zeigt und, wie sich immer wieder herausstellt,
meistens auch noch recht hat. Seine hervorstechendste Unart
ist seine Großsprecherei, durch die er sich, vermutlich um
andere Mängel zu überdecken, Geltung zu verschaffen
versucht, indem er etwa andere verbessert und ergänzt, wo
gar kein Zusatz nötig ist. Erstaunlich, daß ein Mann wie er
so etwas nötig hat. Seine Tischmanieren sind ausgesprochen
schlecht. Er bestellt, was er nicht ißt, probiert sich bei
den andern durch und raucht rücksichtslos Zigarette um
Zigarette, auch wenn die anderen noch beim Essen sitzen.
Daher rührt auch sein verständlicher Wunsch, stets draußen
an der frischen Luft zu frühstücken, auch wenn es unten im
Salon viel gemütlicher wäre. Die von Rauchern gewohnte
Rücksichtslosigkeit trägt er dann auch noch stolz zur Schau.
Sich selbst als gescheiterte Existenz bezeichnend, wirbt er
für sich sogar noch um Verständnis, nur damit wir ihn
gewähren lassen. Er wollte keine Kinder großziehen,
entschuldigt er sich, obwohl er sie doch, drei an der Zahl,
in die Welt gesetzt hat. Als wir abends aufs Boot
zurückkehren, gehen die Exzesse nach dem Dinner weiter. Es
wird bunt durcheinander getrunken, wie es gerade kommt. Ab
jetzt – nachdem ich gefragt worden bin, welches Instrument
ich spiele – drehen sich alle Gespräche nur noch um Musik,
weil Folker offenbar entdeckt hat, daß ich dabei nicht
mitreden kann und mir somit ausgeschlossen vorkommen muß.
Mit meiner Gitarre würde ich gegen Geiger, Saxophonisten und
Klavierspieler ohnehin schlecht abschneiden. Aber Jazzmusik
war eben noch nie mein Fall, dann schon eher Klassik, und da
vor allem die Oper. Das nimmt Folker wiederum zum Anlaß,
vollmundig Arien über den Tisch zu schmettern und die
Annalen seiner gesamten künstlerischen Laufbahn vorzutragen.
Als wir noch im Strudel der Gefühle taumeln, kehrt das Boot
zurück, dessen Liegeplatz wir belegt haben, und fordert sein
Recht ein. Rüdiger hingegen weigert sich, ihn freizugeben,
denn angesichts unseres erhöhten Alkoholgehalts im Blut
wären wir auch gar nicht mehr dazu in der Lage, unser Boot
zu verlegen.
Am nächsten Morgen erscheint
ein Mann von der Marina, um unsere Jacht zu registrieren,
doch alles schläft noch an Bord bis auf mich und den
Skipper. Somit erhalten wir erneut keine klaren Anweisungen,
welche Zeit zu unserer freien Verfügung steht oder ob wir
zum Verholen des Schiffes gebraucht werden. Eine gewisse
Ernüchterung kehrt ein, als wir beim Abendessen einen
Weißwein der Marke „Atlantis“ vorgesetzt bekommen. Als ich
dazu etwas spöttisch bemerke, daß meine These vielleicht
doch nicht so abwegig sei, wie manche es gerne dargestellt
hätten, kommt vor allem Rüdiger, der diesen Gedanken stets
von sich gewiesen hatte, ins Grübeln.
Als niemand am nächsten Morgen
sich zu irgendeiner gemeinsamen Aktion aufraffen kann – die
einen haben schon gefrühstückt, während die anderen noch
schlafen, andere wiederum sind von Bord gegangen –
beschließe ich, eine Fußwanderung von Velas nach Rosais zu
unternehmen, den Pico stets zu meiner Linken. Ich wandere
über San Pedro, Canto da Relva und Serroa Figueiras, über
den 449 m hohen Pico Tannoeiro, nach Rosais. Obwohl das
Wetter von der Sicht her nicht gerade ideal ist, ist der
Vulkan auf der Nachbarinsel dennoch meist gut zu sehen, wie
ein schlanker schmaler Kegel, der letzte Rest eines
allerorts sichtbaren Vulkanismus. Zweifellos wird auch der
Pico irgendwann einen größeren Ausbruch erleben, in einer
gigantischen Explosion auseinanderfliegen und einen
gewaltigen Einsturzkrater hinterlassen, ein schauderlich
schönes Schauspiel bietend. Alle anderen Vulkane des
Archipels haben zweifellos ihre Schuldigkeit bereits getan.
Niemand, der die Insel São Jorge kennt, die eine
ausgesprochene Wanderinsel ist, wird bestreiten, daß dies
die schönste aller Wanderungen ist, die man auf ihr
unternehmen kann, immer im Angesicht des Vulkans. Nach einer
kurzen Einkehr trete ich den Rückweg an, denn der Bus nach Velas verkehrt nur dreimal in der Woche. Zu unerschlossen
ist das Eiland noch für den Tourismus. Auch die Armut der
Menschen auf dem Lande ist trotz der EU-Hilfen immer noch
groß. Viele würdigen einen Fremden keines Blickes und gehen
wortlos an ihm vorüber. Aber sie tun einem nichts, sind
hilfsbereit, wenn man sie anspricht, aber von sich aus geht
der Portugiese freilich nicht auf den Fremden zu, dafür ist
er viel zu scheu.
Die Insel São Jorge mag
zusammen mit Pico und Faial den Kern des einstigen Atlantis
gebildet haben. Wie auf den anderen Inseln findet man auch
hier wieder die sogenannten phönizischen Mauern, für die es
keine vernünftige Erklärung gibt, zumal die Bauern für
Umzäunungen genausogut das Holz aus den Wäldern hätten
verwenden können, die sie damals noch reichlich vorfanden.
Aber nein, sie zogen es vor, täglich Schwerstarbeit zu
leisten, um ihre Weidezäune sicherer zu machen als nur aus
Holz gebaut, was uns reichlich unglaubwürdig erscheint.
Während unseres gesamten
Aufenthalts auf São Jorge stellt sich kein gutes Wetter mehr ein.
Die meisten von uns verbringen daher den Tag mit Lesen. Ich
z.B. habe das Buch von Rollo Gebhart mit Begeisterung fast
ausgelesen. Am rührendsten fand ich die Geschichte von Tom
Neale, der auf dem Sawarak-Atoll 30 Jahre als Einsiedler
gelebt hat – nicht jedoch als Eremit, denn er verlor den
Glauben an Gott – und im Alter von 75 Jahren gestorben ist,
vermutlich an Auszehrung. Die einseitige Ernährung, die nur
aus Kokosnüssen bestand, mag ihn seine Gesundheit gekostet
haben. Er hatte zeitlebens, seit seinem Aufenthalt dort, um
seine Existenz zu kämpfen, mehr als jeder andere im sicheren
Hort der Zivilisation. Genau diesem Übel unserer Zeit
versuchte er durch seine Zurückgezogenheit zu entkommen. Und
dennoch kann mit Menschen wie ihm irgend etwas nicht
stimmen, wahrscheinlich sind sie nicht ganz richtig im Kopf.
Denn wer zieht schon die Einsamkeit der Gemeinschaft vor,
selbst wenn sich das Zusammenleben manchmal schwierig
gestaltet. Auf jeden Fall haben mich die Geschichten des
Rollo Gebhard so sehr fasziniert, daß ich es irgendwie
anstellen muß, irgendwann auch noch die Südsee
kennenzulernen.
Als wir am Donnerstag, dem
letzten Tag dieses Törns, von Velas ablegen, herrscht am
Himmel triste Regenstimmung. Den Pico in seiner vollen
Pracht haben wir kein zweites Mal mehr gesehen, weil wir dem
Wettergott augenscheinlich keine ihn gnädig stimmenden Opfer
dargebracht haben. Der Wind, um nach Pico hinüberzusegeln,
wäre zwar nicht gerade ungünstig, als ausgesprochen günstig
kann man ihn aber auch nicht bezeichnen. In São Roque machen
wir kurz fest, um dort eine Kaffeepause einzulegen. Doch aus
den guten Vorsätzen wird schon wieder nichts, es wird ein
richtig üppiges Mahl daraus. Die Tatsache, daß wir am
Vorabend einiges einsparen konnten, bereuen einige jetzt und
wollen das Entgangene ausgiebig nachholen. Besonders unser
Skipper scheint gestern nicht ganz auf seine Kosten gekommen
zu sein: Was auf dem Schiff zum Frühstück serviert wird,
verschmäht er regelmäßig, wenn es hingegen ums Geld ausgeben
geht, ist er tonangebend, legt Preis und Qualität von sich
aus fest. Dies ist sein Anteil an der Prise, während wir uns
wie auf einem geenterten spanischen Beuteschiff vorkommen
müssen. Und obwohl er seinen Teller noch nicht leer gegessen
hat, ordert er schon wieder reichlich Nachschub, Geiz im
Umgang mit fremdem Geld scheint ihm fremd. Diejenigen, die
bescheidener sind, werden durch die sinnlose und wenig
kalorienbewußte Völlerei meist übervorteilt, weil sie nicht
bewältigen können, was andere für sie bestellt haben. Hatte
Charly nicht noch kurz zuvor angegeben, daß er noch vom
Frühstück satt sei, ist er dann doch wieder einer der
ersten, die beim Essen mit dabei sind. Als ich zahlen will,
verlangt Rüdiger, daß ich ihm die Bordkasse aushändige,
bevor ich mich absetze. Als ich dann zurück auf dem Schiff
bin, fehlen ganze 20 Euro in der Kasse, was keinesfalls
durch Trinkgelder erklärt werden kann. Da ich jeden Tag
akribisch genau Eintragungen gemacht und einen täglichen
Kassensturz vorgenommen habe, kann ich mir das Fehlen des
Geldes nicht erklären. Die Bordkasse zu verwalten, eine
ohnehin unangenehme Aufgabe, wird besonders schmerzlich
empfunden, wenn man den andern erklären muß, daß etwas
fehlt. Es ist bezeichnend, daß eine Unregelmäßigkeit sich
genau dann einstellt, wenn man die Kasse einem anderen
anvertraut.
Auch während des Mittagessens
kann Rüdiger es nicht lassen, in sein altes Fahrwasser
zurückzukehren und mir einen Seitenhieb zu versetzen: „Was
du nicht alles weißt?“ Ich war schon versucht zu antworten:
„Alles, was du nicht weißt“, doch dann besinne ich mich
eines Besseren und versuche ihn nicht noch mehr zu
provozieren. Es hätte, so glaube ich, auch keinen Sinn, denn
er besitzt auf diesem Schiff die besseren Karten, und ihm
den Gefallen zu tun, mich aus der Reserve locken zu lassen,
das will ich nicht. Dann würde ich ihn in dem Gefühl
zurücklassen, daß er mir schaden könnte. Er hat irgendein
Problem, das er mit sich herumträgt. Gerne zitiert er etwa
den bekannten Satz Einsteins, wonach das Weltall und die
Dummheit der Menschen grenzenlos seien. Er übersieht dabei
allerdings völlig, daß auch er zu den Menschen zählt. So
behauptet er denn steif und fest, daß es die Zigarettenmarke
Marlboro 1937 noch nicht gegeben hat, obwohl die Geschichte
der Marlboro definitiv 1929 beginnt, wie jedermann leicht
nachlesen kann. Menschen wie er, die nicht über eine
entsprechende Bildung verfügen, fühlen sich anderen schnell
unterlegen, was nicht mit ihrem Selbstwertgefühl in Einklang
steht. Ich erinnere mich, wie es war, als ich als Abiturient
zum Militärdienst herangezogen wurde. Man war bereits
verdächtig, nur weil man dieses Papier besaß, das damals
eben noch nicht jeder hatte.
Unsere abschließende Überfahrt
nach Faial verläuft aufgrund des Gegenwindes nicht ohne
Aufkreuzen, aber es herrscht wenigstens ausgezeichnetes
Wetter, das besser ist als meine Stimmung. Ich bin die
ständigen Spannungen an Bord leid. Diese steigern sich noch
beim gemeinsamen Abschiedsessen, als unser Schipper wieder
einmal das teuerste Lokal auswählt, welches sich im Ort
findet. Obwohl er aus der Bordkasse mitverpflegt wird, kennt
er weder Scham noch Zurückhaltung, wenn es um unseren
Geldbeutel geht, so als schuldeten wir ihm eine Art Steuer.
Gerade diese Dreistigkeit ist es, auch die Art, wie er sich
von seiner Geliebten durchfüttern läßt, die ihn so
unausstehlich macht. Daß einige von uns über seine
ausufernde Bescheidenheit, die nicht im Einklang steht mit
seinen seglerischen Leistungen, die Nase rümpfen, scheint
ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Er feiert mit seiner
Zweiten beinah feucht-fröhliche Feste, so als wäre er in den
Flitterwochen, und wir stellen dafür das Aufgebot. Erneut
wird gegessen und getrunken bis zum Abwinken, wobei ich mir
von Andrea noch vorhalten lassen muß: „Wirklich viel ißt du
ja gerade nicht.“ Besonders Hans ist es, der in seinem Magen
unterzubringen scheint, was andere nicht für möglich halten.
Während wir schon zweimal satt sind, schlägt er sich noch
den Wanst mit diversen Kuchen voll, aber nicht etwa mit nur
einem Stück, wie es anständig und guter Brauch wäre, sondern
mit einem bunten Durcheinander, wie ein Römer, bis zum
Erbrechen. Anschließend wird das Lokal gewechselt – die
Bordkasse immer mit dabei –, um auf härtere Sachen
umzusteigen. Jetzt fließen Gin Tonic und andere Drinks
reichlich durch die „ausgetrockneten“ Kehlen, und das bei
lauter Rentnern, für die die Jungen schuften müssen. Noch
wollen sie nicht einsehen, daß das nicht ewig so weitergeht,
ein Leben in Saus und Braus auf Kosten anderer. Unter diesen
Raubtieren habe ich mit meiner eher „spartanischen“
Gesinnung einen schweren Stand. Es sind vor allem die
Einblicke in die menschlichen Abgründe, die einen Segeltörn
so überaus reich an Erlebniswert machen. Vom Ablauf her hat
alles weitgehend geklappt, grobe Fehler haben wir uns nicht
geleistet, darüber ist auch unser Skipper nicht unfroh. Doch
noch am letzten Tag geht er an den Tankanleger und dünkt
sich besonders schlau, geradezu als hätte er schon wieder
Angst vorm Einparken. Eine schier unglaubliche Tankrechnung
haben wir am Ende dieser Fahrt zu bestreiten, obwohl wir nur
wenig unter Maschine gelaufen sind. Am nächsten Morgen ist
das ganze Hafenbecken mit ausgelaufenem Diesel verschmutzt.
Er scheint sich um unser Schiff angesammelt zu haben, könnte
durchaus von der defekten Pumpe herrühren, die am nächsten
Tag ausgewechselt wird.
Der Luftdruck ist in den
letzten Stunden permanent angestiegen, die Temperatur liegt
schon am Morgen bei 22 °C, geradezu ideales Wetter, um den
Pico zu besteigen. Doch ich muß aus familiären Gründen die
Reise abbrechen, die Besteigung des höchsten Bergs Portugals
muß einer anderen Reise vorbehalten bleiben. So klar und
deutlich wie heute haben wir den Vulkan in all den
vergangenen vierzehn Tagen nicht gesehen. Kaum ein Wölkchen
verdeckt den Gipfel. Denn nur zwischen Juni und September
und nur bei schönem Wetter sollte man eine Besteigung des
Pico unternehmen. Dazu ist jetzt die einmalige Gelegenheit
verpaßt.
Ausgezogen war ich, um Atlantis
zu erkunden, doch überzeugt bin ich von dem, was ich
entdeckt habe, nicht. Gewiß, die „phönizischen“ Mauern mögen
uns zu denken geben, überzeugen tun sie indes nicht.
„Draußen vor den Säulen des Herakles“ (Platon, Timaios) muß
nicht notwendig bedeuten, daß die Inselgruppe der Azoren
damit gemeint war. Die Atlantiden könnten vor den Säulen
schließlich auch „um die Ecke gebogen“ sein, von südlicheren
Gefilden her kommend. Wahrscheinlich waren es frühe punische
Kolonisten, die sich irgendwo an der afrikanischen Küste
niederließen und mit denen der Name „Seevölker“ untrennbar
verbunden ist. Bekanntlich haben die Phönizier zur Zeit des
Pharaos Necho Afrika umschifft. Ihre Niederlassungen lagen
also längs der „atlantischen“ Route. Nur so läßt sich das
Vorhandensein von Elefanten auf Atlantis erklären, die erst
südlich der Sahara vorkommen. Wenn die Atlantiden, wie
Platon schreibt, wirklich einen Feldzug gegen Athen
unternommen haben, dann kann ihr Anreiseweg nicht allzu groß
gewesen sein. Nach den Erzählungen muß Atlantis wohl eine
Afrika vorgelagerte Insel an einer großen Flußmündung
gewesen sein, so daß der Eindruck einer Insel „so groß wie
ein Kontinent“ entstand. Nachdem das Meer dort heute
„unfahrbar“ ist, wird eine durch ein Seebeben ausgelöste
Flutwelle für ihr Verschwinden gesorgt haben. Die antiken
Völker betrieben die Seefahrt nur längs den Küsten, wer also
Atlantis weit draußen auf dem Meer ansiedeln möchte, in
einer Welt, die dem Menschen außer Fischfang kaum
Lebensgrundlagen bietet, mag zwar die wildesten Utopien
schmieden, Realitätssinn dürfte er aber wenig besitzen.
Selbst die Theorie, wonach Atlantis im Norden zu suchen sei,
dürfte der Wahrheit noch ein Stück näher kommen, als die
versunkene Insel mitten auf dem Atlantik zu suchen. Die
Felsbilder an der norwegischen Küste könnten darauf
hindeuten, daß Atlantis die Insel Scandae war, Skandinavien
also, das man in der Antike für eine Insel hielt, deren
Größe sehr gut an die von Atlantis herankommt. Die
Fjordlandschaften Norwegens, wegen der Nähe des Golfstroms
eisfrei geblieben, sind nichts als ertrunkene Flußtäler,
untergegangen nach der letzten Eiszeit, als der
Meeresspiegel sich hob. Die bei Platon erwähnten Elefanten
müßten demnach die ausgestorbenen Mammuts sein. In
Norddeutschland wurden auch die ältesten Schiffsfunde
gemacht, ihr Ursprungsland ist demnach der Hohe Norden. Der
griechische Geograph Poseidonios berichtet, daß das Land der
Kimbern und Teutonen häufig von Fluten überspült wurde, so
daß die Reste dieser Völker gezwungen waren, ihre Heimat zu
verlassen. Die ersten waren die sagenhaften Kimmerier,
wesens- und namensgleich mit den Kimbern, die in ihrer
verwegenen Wildheit bis nach Asien vordrangen und sogar
Ephesus plünderten. Sie waren es oder deren Vorfahren –
deren Namen die Geschichte bereits nicht mehr überliefert –,
die damals in Griechenland einfielen und die überhaupt das
erste Zeugnis abliefern von Feindseligkeiten zwischen
Griechen und Barbaren. Sie mußten den ganzen
weiten Weg von Nord- und Ostsee kommend überbrücken, um mit
den Griechen handgemein zu werden, daher sind sie es, die
den Namen „Seevölker“ am ehesten verdienen, wegen ihrer
Heimat am Atlantischen Ozean. Somit schließt sich der Kreis:
Atlantis ist keine bloße Legende, aber der Ort, an dem es
vermutet wird, wurde falsch übermittelt. Dadurch ist der
Versuch, es auf den Azoren anzusiedeln, von Anfang an zum
Scheitern verurteilt. So faszinierend dieser Archipel auch
sein mag, so sehr uns so manche Ungereimtheit in
mittelalterlichen Seekarten zu denken gib, mit Atlantis
werden diese Dinge wohl kaum etwas zu tun haben, mag der
Wunsch auch noch so sehr Vater des Gedankens sein. Und so
verlasse ich denn „Atlantis“, jenes untergegangene Eiland,
mit einem leisen Wehklagen. Vielleicht werden wir es niemals
finden, so wenig wie der Zeiger der Zeit zurückgedreht
werden kann.